„Ignoriert und bevormundet“: Die Pandemie ist das Ende der Debatten an den Unis
Ein Debattierabend an der Uni, in einem luftigen Saal, mit 2G plus: Das sollte doch möglich sein? Nein, ist es in Berlin nicht, erfuhr unser Autor.

Berlin - Im Zuge der Pandemie hatten die Universitäten drei Semester geschlossen. Dieses vierte pandemische Semester ist ebenfalls noch weit weg von einer Rückkehr zum Campusleben. Nicht zuletzt sind nach wie vor die meisten Seminare und Vorlesungen gänzlich online und die großen Gebäude der Hochschulen entsprechend leer.
Das führt zwangsweise auch zu einem Rückgang des Austauschs zwischen Studierenden. Es führt dazu, dass in den Fluren, in der Mensa, in den Studi-Cafés weniger Debatten geführt werden. Ich möchte an einem konkreten Beispiel zeigen, wie Diskussionsräume eingeschränkt sind, Debatten gar nicht erst entstehen können und warum das nicht nur inneruniversitär, sondern auch gesellschaftlich zu Problemen führt.
Ab Mitte Januar sollten an der Humboldt-Universität Diskussionsabende von Studierenden, für Studierende stattfinden. Debattiert werden sollte über gesellschaftsübergreifende Fragen oder Themen, die alle Studierenden etwas angehen. So beispielsweise über Formen und Inhalte eines Studiums oder die Probleme, die eine digitale Universität mit sich bringt. Organisieren wollten diese Debattierabende die Fachschaftsinitiative des philosophischen Instituts, in der ich mich engagiere.
Doch statt eines Debattierabends, der mit angemessenem Hygienekonzept in den geräumigen Hörsälen der Universität stattfindet, hätte die Debatte nur im Hinterzimmer einer Kneipe stattfinden können – ohne Abstand, ohne die Möglichkeit einer Zuschaltung zur Debatte per Video. Eine Raumreservierung in der Universität sei bei einer solchen Veranstaltung, einer „nicht lehr- oder forschungsbezogenen Veranstaltung“, verboten. Der Veranstaltung sollte wegen der Infektionsschutzverordnung und geltenden Dienstanweisungen kein Raum genehmigt werden. Trotz Rückfragen, ob die Diskussionsabende mit 2G plus erlaubt werden könnten, schien sich die Unileitung zu sperren und deklarierte es als Ding der Unmöglichkeit, einen Diskussionsabend in der Universität abzuhalten.
Ohne studentische Initiative werden von institutioneller Seite keine Veranstaltungen organisiert, die in ihren eigenen Räumlichkeiten stattfinden. Diejenigen Angebote, die online sind, werden verständlicherweise nicht genutzt. Die Zoom-Müdigkeit und überhaupt die psychischen Folgen der Online-Lehre sind nach vier Semestern Pandemie zu groß. Debatten in der Uni sind damit offiziell nicht mehr möglich.
Missmanagement der Uni im Umgang mit Corona
Dass solche Debattenabende nicht mehr stattfinden, wirft sowohl für die demokratische Gesellschaft allgemein als auch innerhalb der Universität Fragen auf. Denn gerade die Studierenden derjenigen Universität, welche im Moment das Land Berlin vor dem Bundesverfassungsgericht verklagt, hätten einiges zu debattieren. Gegebenenfalls im Anschluss an die Diskussion sogar das Potenzial, für Protest-Aktionen zu mobilisieren. Proteste, die das Missmanagement der Universität im Umgang mit Corona kritisieren, die ein Zeichen setzen, dass ein Großteil der Studierenden nicht hinter der Verfassungsgerichtsklage ihrer (Ex-)Präsidentin steht.
Dadurch, dass sich die Studierenden nicht mehr in Präsenz treffen können, wird dieses Potenzial im Vorhinein verhindert. Das ist auch in Bezug auf gesamtgesellschaftliche Fragen eine wichtige Feststellung: Gesellschaftliche und politische Ereignisse und Fragen, zum Beispiel die Beschlüsse der neuen Bundesregierung, hätten in Debattenräumen diskutiert, kritisiert oder Gegenstand von Protest werden können. Zuletzt, kurz vor der Pandemie, wurde so vor der FDP-Zentrale demonstriert als Thomas Kemmerich für wenige Augenblicke mit Gunst der AfD in Thüringen Ministerpräsident wurde. Wäre die Universität an diesem Abend bereits geschlossen gewesen, wäre diese Demonstration wohl kaum groß geworden, sind doch viele Kommilitonen direkt von der Uni aus zur Demo gelaufen.
Jenseits der gesellschaftlichen Dimension des Verschwindens von Debattierräumen und der Abnahme der Debattenkultur überhaupt, stellt sich auch die inneruniversitäre Frage, welche Stellung eigentlich Studierenden zukommt. „Nicht lehr- oder forschungsbezogene“ Veranstaltung seien also ausschließlich digital durchzuführen – aber was heißt überhaupt „lehr- oder forschungsbezogen“? Gerade die Orte des Austauschs und der Diskussion, das heißt der Konfrontation und Kritik und Bereitschaft, andere Argumente nachzuvollziehen, bedeuten für Studierende einen enormen Lernprozess. Nennt man die möglichen Hausarbeiten der Studierenden Produkte eines Forschungsprozesses sind Debattenabende, bei denen beispielsweise Ideen für Abschlussarbeiten entstehen können, eben genau das: Forschung.
Die Idee der universitas magistrorum et scholarium, der Gesamtheit von Forschenden, Lehrenden und Lernenden, beinhaltet im Kern die Inklusion aller drei Statusgruppen. Gerade die Humboldt-Universität mit ihrem Begründer Wilhelm verlässt ihre fundamentale universitäre Idee, wenn Studierenden und studentischen Debattenabenden das Recht aberkannt wird, Teil des „Lehr- und Forschungsbetriebs“ zu sein. Die fruchtvolle Debatte, an der auch fach- und semesterübergreifend Studierende im Austausch miteinander hätten lernen können, ist eine der Kernaufgaben der Universitäten. Online, das heißt in der Distanz, stellen „Universitäten“ nichts anderes dar als Ausbildungsinstitutionen. Wobei auch hier, der Humboldt’schen Idee konträr gegenüberstehend, keine persönliche und keine fachübergreifende Weiterbildung das Ziel ist.
Um den Debattierabend zu organisieren, nahmen ich und alle anderen Mitglieder der Fachschaftsinitiative an, dass uns ein Raum bereitgestellt werden würde. Nichts leichter als das, dachten wir. Die Absage und das damit angekündigte Raumreservierungsverbot waren nicht nur eine Enttäuschung. Sie weckten auch Empörung, Verzweiflung und Unverständnis. Aber vor allem: Das seit Anbeginn der Pandemie vorherrschende Gefühl, bevormundet, ignoriert und nicht informiert zu sein.
Das Ausbleiben der von studentischen Initiativen organisierten Debattierabende ist sicherlich nur ein kleines Beispiel. Doch das Gesamtbild, zu dem gehört, dass auch sonst keine Debatten oder Diskussionsforen mehr in den verwaisten Gebäuden der Institute stattfinden, stellt den Berliner Hochschulen ein Armutszeugnis aus. Vielleicht sollten die Präsidien der Hochschulen in einer Diskussion einmal debattieren, was eigentlich alles in den Aufgabenbereich von Universitäten fällt. Falls sie noch wissen, wie das geht – debattieren.
Der Autor studiert Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin.
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