Warum ich mit Ende 20 Sterbebegleiterin wurde

Luise Morgeneyer ist 29 und begleitet ehrenamtlich Menschen in der letzten Lebensphase. Wie es dazu kam und was sie dabei erlebt, erzählt sie im Interview.

Eine ältere Frau sitzt auf einem Bett und schaut aus dem Fenster.
Eine ältere Frau sitzt auf einem Bett und schaut aus dem Fenster.Wavebreak Media LTD/imago

Luise Morgeneyer wurde 1994 in Dresden geboren. Seit 2021 ist die Bloggerin, Künstlerin und Autorin ehrenamtliche Sterbebegleiterin. Im Interview erzählt sie von ihrer Ausbildung, der ehrenamtlichen Tätigkeit, Menschen beim Sterben zu begleiten, darüber, wie sich ihre Sicht zum Tod verändert hat und warum sie es paradox findet, dass Sterben ein Tabuthema ist.

Sterben gehört zum Leben dazu wie geboren werden. Trotzdem ist es immer noch ein Tabu, viele haben Angst vor dem Tod und meistens möchten wir nicht darüber nachdenken. Auch nicht als Gesellschaft. Frau Morgeneyer, wie ist das bei Ihnen? Beschäftigen Sie sich mit dem Thema Tod und Sterben?

Für mich wurde es zu einem größeren Thema, weil in meinem Umfeld glücklicherweise sehr lange niemand gestorben ist. Mit Anfang 20 empfand ich das tatsächlich als ein wenig gruselig, da ich wusste, dass mir der Tod im persönlichen Umfeld noch begegnen wird. Mein Interesse und der Antrieb, mich mit dem Thema Tod mehr auseinanderzusetzen, wuchs, als mein Großvater gestorben ist.

Das ist etwa zwei Jahre her. Mein Opa und die Ärzt:innen hatten sich dazu entschieden, die Behandlung zu beenden, weswegen allen bewusst war, dass er bald sterben wird. Auch er selbst sprach immer schon sehr klar vom Sterben und hat uns allen auch erklärt, wie er sich das vorstellt. Für ihn war es wichtig, niemandem zur Last zu fallen und dass er gehen wird, wenn seine Zeit gekommen ist.

Sein Behandlungsabbruch fand in der dritten Corona-Welle statt und wir haben in dieser Zeit regelmäßig über Facetime gesprochen. Irgendwann hielt mein Opa einen 20-minütigen Monolog, in dem er sich verabschiedete. Wenige Tage später ist er verstorben, zu Hause und hoffentlich mit so wenigen Schmerzen wie möglich. Natürlich bin ich danach sehr traurig gewesen, denn mein Opa war eine enge Bezugsperson für mich, aber als ich sah, wie schön und selbstbestimmt das Sterben sein kann, fing es an, bei mir zu rattern. Ich wusste, dass das nicht allen Menschen so geht. Daran etwas zu ändern, fand ich total inspirierend.

Flur in einem Seniorenheim
Flur in einem SeniorenheimHeiko Kueverling/imago

Sie haben sich ab diesem Zeitpunkt also intensiver mit dem Thema Sterben auseinandergesetzt. Doch wie kam es dann zu dem Schritt, die Ausbildung als ehrenamtliche Sterbebegleiterin zu machen? Können Sie hier einen Auslöser nennen?

Dass es ehrenamtliche Sterbebegleitung und Hospizarbeit gibt, wusste ich schon. Ich habe das erste Mal davon in dem Podcast einer Autorin gehört. Sie hat erzählt, dass sie das seit vielen Jahren ehrenamtlich macht und wie cool das eigentlich ist. Vor allem im Hospiz hat sie viele schöne Erfahrungen gesammelt, weil, ich zitiere sie hier mal: „Ein Hospiz ein sehr lebendiger Ort ist.“

Die Menschen dort leben mit vollem Bewusstsein, bloß dass auf einmal alles egal ist. Im Sinne von: Alles ist machbar. Als mein Opa gestorben ist, habe ich circa ein halbes Jahr danach sehr viel zum Thema Sterbebegleitung recherchiert, um mir anzuschauen, welche Möglichkeiten es in Berlin gibt.

Davor habe ich schon mal einen eintägigen Kurs absolviert, den „Letzte Hilfe Kurs“, den ich allen empfehlen kann. Ich habe aber gemerkt, dass die christlichen Träger mich nicht so abgeholt haben. In einer nächtlichen Recherche bin ich auf Bodhicharya gestoßen. Dort habe ich mich beworben.

Beworben? Welche Bedingungen gibt es denn?

Ich kann hier jetzt natürlich nur aus meiner Sicht, der Bewerberin, sprechen. Logischerweise braucht man ein Führungszeugnis. In Zeiten von Corona mussten wir auch geimpft sein, vor allem wenn man im Pflegeheim ist. Wie das aktuell aussieht, kann ich natürlich nicht sagen.

Für die Einrichtung selbst ist es wichtig, ob man einen Bezug zum Buddhismus hat. Eine emotionale Stabilität wird vorausgesetzt, aber dazu braucht man kein psychologisches Gutachten oder Ähnliches. In einem Vorgespräch möchten sie dich einfach kennenlernen und einschätzen, ob die Tätigkeit zu dir als Person passen könnte.

Sterbebegleitung. Obwohl ich beide Wörter kenne, wirkt die Zusammensetzung sehr abstrakt. Wie begleitet man Sterbende? Was machen Sie konkret?

Ich glaube, die Essenz ist, dass es keinen Fahrplan gibt, sondern es bedarf einer ganz großen Achtsamkeit: Was braucht die Person? In der Sterbebegleitung geht es darum, zu verstehen, dass ich der Person nichts mehr mitgeben muss. Ich muss der Person nichts erklären. Ich bin einfach da. Das lernt man auch in der Ausbildung. Und so gehe ich auch in jedes Treffen mit meiner Begleitung.

Ich mache mich komplett leer und lasse mich auf alles ein. Wenn die Menschen sprechen können, dann sagen sie auch, was sie brauchen. Mit der Zeit entwickelt sich ein Feingefühl für ihre Bedürfnisse. Ein weiterer Teil der Tätigkeit ist, dass man das Sterben zulässt. Es geht auch darum, den Sterbenden sowie auch den Angehörigen zu vermitteln, dass es völlig okay ist, dass die Person stirbt.

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Luise Blumenstengel
Zur Person
Luise Morgeneyer wurde 1994 in Dresden geboren. Mit gerade mal 15 Jahren veröffentlichte sie 2010 ihren ersten Blogbeitrag unter „kleinstadtcarrie“. Aktuell lebt sie in Berlin und spricht auf ihrem Instagram Kanal „luisemorgen“ über Feminismus, Nachhaltigkeit und ehrenamtliches Engagement. Sie ist Content Creatorin, Bloggerin, Gründerin und Autorin. Seit 2021 ist sie zudem ehrenamtliche Sterbebegleiterin.

Derzeit begleiten Sie M., wie Sie sie nennen. Wie läuft das ab? Nehmen Sie uns mal zu einem Treffen mit.

Das ist natürlich sehr individuell. Ich persönlich gehe ins Pflegeheim und wir treffen uns derzeit einmal pro Woche. Das ist aber abhängig von der Sterbephase, in der sich die Person befindet. Es gibt auch Menschen, da weiß man, die sterben innerhalb der nächsten sieben Tage, dort geht man vielleicht jeden Tag vorbei. Bei uns finden viele Gespräche statt. Sie ist sehr klar und geistig noch total bei allem dabei. Wir waren schon zusammen spazieren und gerade im Pflegeheim sind natürlich viele andere Leute, die auch immer ganz neugierig sind.

Sprechen Sie aktiv über das Sterben oder ist das kein Thema?

Ich merke, dass ich mir das zu Anfang fast schon gewünscht habe. Auch hier gilt wieder: Sie wird sich schon melden. Also wir sprechen auf jeden Fall über das Thema. Sie ist eben auch sehr alt und viele Menschen aus ihrem Leben sind schon gestorben. Der Tod ist im Pflegeheim allgegenwärtig. Manchmal spricht man auch nicht konkret über das Sterben, sondern so durch die Blume. Gerade Demenzerkrankte tätigen Aussagen wie: Ich möchte gerne nach Hause gehen.

Wie intensiv lassen Sie sich auf M. ein? Wird das eigene Leben durch das Ehrenamt sehr beeinflusst?

Mir gelingt es eigentlich ganz gut, das größtenteils zu trennen, weil ich als andere Person zu den Treffen gehe. Ich bin nicht die private Luise, die da auftritt und ich glaube, das ist auch extrem wichtig. Ich gehe da als Ehrenamtliche hin und bin damit mehr oder weniger in einer professionellen Rolle. Ich bin nicht ihre Enkelin oder ihre Tochter. Es geht auch in den Gesprächen nie um mich, denn von mir erzähle ich eigentlich nichts. Für mich habe ich die Strategie gefunden, dass ich auf dem Heimweg überhaupt nicht ans Handy gehe, sondern einfach in der Bahn sitze und rausschaue. So finde ich in mein Leben zurück.

Blick auf Beine einer alten Person
Blick auf Beine einer alten PersonUte Grabowsky/imago

Wie fühlt sich für Sie dann der Heimweg an, wenn Sie das Treffen verlassen? Welche Gefühle spüren Sie?

Alles, wirklich, ich fühle alles von Wut über Traurigkeit bis hin zur totalen Seligkeit. Und glücklich, dass diese zwei oder drei Stunden, die ich da verbringe, für sie so viel bedeuten. Das ist einfach mega!

Sie haben schon erzählt, dass Sie von Betreuer:innen begleitet werden. Können Sie mit all Ihren Sorgen und Ängsten auf Ihre Betreuer:innen zugehen und sagen, „mir ist das zu viel und ich schaffe das nicht“?

Das ist, glaube ich, das höchste Credo bei uns: Man kann jederzeit aussteigen. Du bist zu nichts verpflichtet. Gerade am Anfang habe ich viel mit meiner Betreuerin gesprochen, wir haben telefoniert und wir haben eine Supervision jeden Monat in Gruppen. Dort tauschen wir uns aus und das ist total essenziell. Wir besprechen sowohl emotionale Fragen als auch inhaltliche Fragen. Was darf ich zum Beispiel alles?

Wie können Sie all das in Ihr eigenes Leben integrieren? Vor kurzem sind Sie mit einer Freundin im Urlaub gewesen, fühlen Sie eine Verantwortung gegenüber Ihrer Person?

Ich denke auf jeden Fall daran, dass die Person sterben könnte, wenn ich im Urlaub oder so bin. Fakt ist aber, dass du als Ehrenamtliche in den seltensten Fällen dabei bist, wenn die Person stirbt. Ganz oft versterben die Menschen, wenn sie allein sind. Also wenn sich die Zugehörigen gerade mal einen Kaffee holen oder so. Ich glaube, genau das hat mich schon total erleichtert.

Außerdem sind wir ein riesiges Team und zwei Koordinator:innen, die auch helfen und, wenn es nötig ist, selbst hinfahren oder jemand anderen für die Zeit finden. Natürlich kann man es auch ein bisschen abschätzen, und mir war relativ klar, dass sie in den zwei Wochen meines Urlaubs nicht sterben wird. Trotzdem merke ich auf jeden Fall, dass es mich jetzt für die nächsten Wochen und Monate schon beschäftigt. Ich bin nicht mehr so gewillt, für längere Zeit wegzufahren.

Haben Sie sonst noch das Gefühl, dass diese Arbeit etwas in Ihrem Leben verändert hat, auch hinsichtlich Ihres Umgangs mit dem Tod?

Ja, auf jeden Fall! Während der Ausbildung habe ich am meisten meine Hemmungen abgelegt. Komplett. Mit der Familie oder Freund:innen über das Thema Tod und Sterben zu sprechen ist kein Problem mehr. Ich interessiere mich jetzt einfach noch mehr dafür. Während es früher vielleicht eher so eine Angst war, ist es jetzt zu einer Neugierde geworden. Ich bin viel relaxter im Umgang mit dem Tod. Die Sterbebegleitung hat da einen großen Beitrag geleistet. Ich bin gelassener geworden.

Wie empfinden Sie den Umgang mit dem Tod in der Gesellschaft?

Man kennt vielleicht das Gefühl: Eigentlich ist die Person schon fast tot, aber sie kann nicht loslassen, weil Zugehörige oder teilweise auch das Pflegepersonal die Person nicht sterben lassen. Das ist, glaube ich, auch noch ein riesiges Thema und das macht dieses Tabuthema in Deutschland eben noch schlimmer. Es ist schon fast verboten zu sagen: „Ich möchte sterben.“

Man schaue sich nur die Diskussion um die aktive Sterbehilfe an. Ich mache keine aktive Sterbehilfe, aber natürlich ist das auch immer wieder mal Thema: der konkrete Wunsch zu sterben. Besonders, wenn alles mit ganz vielen Schmerzen verbunden ist.

Leeres Krankenhausbett
Leeres KrankenhausbettAddictive Stock/imago

Wenn wir Glück haben, hat Sterben viel mit dem Alter zu tun. Was wünschen Sie sich im Alter?

Was ich jetzt immer wieder merke und worum es sehr vielen Menschen im Alter geht, ist, dass ich nicht alleine sein möchte. Es ist ganz egal, was du im Leben gemacht hast, ich sehe im Pflegeheim Menschen, die seit Monaten und teilweise Jahren keinen Besuch mehr bekommen haben. Die Bedürftigkeit danach siehst du den Menschen an. Ich möchte einfach nicht alleine sein.

Glauben Sie, wir können das irgendwie als Gesellschaft verändern, dass nicht mehr so viele Menschen im Alter alleine sind?

Ich glaube, dass wir das stemmen werden oder besser gesagt: müssen. Unsere Familienstrukturen haben sich verändert und wir leben nicht mehr alle unter einem Dach. Mittlerweile gibt es schon einige Überlegungen dazu, wie Menschen weniger allein sind. Alten-WGs werden gebaut, Wohngemeinschaften mit jungen Menschen und vieles mehr. Meist sind es aber auch die kleinen Sachen. Ein Anruf lässt einen einsamen Tag schon ein wenig schneller vergehen. Es geht darum, da zu sein und auch zu begreifen, dass jede Zeit begrenzt ist. Auch ohne konkretes Sterbedatum.

Irgendwann wird der Zeitpunkt kommen, an dem Ihre Begleitung sterben wird. Machen Sie sich darüber Gedanken? Werden Sie zur Beerdigung gehen?

Ich gehe auf jeden Fall davon aus, dass ich zur Beerdigung gehen werde. Im Team bei Bodhicharya haben wir einmal im Jahr ein kleines Ritual, bei dem wir gemeinsam von allen Abschied nehmen. Ich glaube, wenn es so weit ist, werde ich spüren, wie ich mich verabschieden möchte. Man kann das eh alles nicht planen.

Glauben Sie, es wird für Sie im privaten Umfeld leichter, mit dem Tod umzugehen?

Auf jeden Fall! Allein schon, dass man die medizinischen Anzeichen erkennt und dass ich die generelle Hemmung verloren habe. Außerdem weiß ich, das mag für manche jetzt spirituell klingen, dass die Person nicht weg ist. Ein Mensch hinterlässt ja ganz, ganz viel und ist deswegen irgendwie noch da.

Die Autorin legt Wert auf die Verwendung des Doppelpunkts zur Sichtbarmachung aller Geschlechter.

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