Ukraine-Konflikt: Ist das „Manifest für Frieden“ ein Manifest der Unterwerfung?

Unser Autor ist für Waffenlieferungen in die Ukraine, das „Manifest für Frieden“ sieht er kritisch. Hier erklärt er seine Gründe.

Zum Jahrestag des russischen Krieges gegen die Ukraine wird u.a. vor der Russischen Botschaft demonstriert. Stylist Frank Peter Wilde ist mit dabei und wird eine Rede halten.
Zum Jahrestag des russischen Krieges gegen die Ukraine wird u.a. vor der Russischen Botschaft demonstriert. Stylist Frank Peter Wilde ist mit dabei und wird eine Rede halten.Sabine Gudath

Heute jährt sich das Datum, das viele von uns, inklusive mir, als tiefen Einschnitt in das empfinden, was wir lange als selbstverständlich nahmen: Frieden in Europa; ein Leben in Sicherheit und relativem Wohlstand; geprägt von nervig-niedlichen Debatten um Gendersternchen und Frauenquote; von Flaniermeilen und Maskenpflicht. Alles soweit im steuerbaren Bereich; viele Diskussionen waren aufgeheizt; vielleicht einfach, weil es nichts Wichtigeres zu geben schien, um das sich das Diskutieren lohnte.

Und zack, auf einmal überfiel Russland die Ukraine. Ein Land, das wohl von den meisten als irgendein Post-Sowjet-Land wahrgenommen wurde, ein Land, von dem die meisten in Deutschland nicht so genau wussten, wo es liegt, welche Historie es trägt, welche Farben die Flagge überhaupt hat. All dies wurde quasi über Nacht zum Gegenstand von immenser Bedeutung; überschüttete uns mit immenser Dringlichkeit und Intensität. Aber hatten wir nicht grade endlose Diskussionen über Impfzwang und Maskenpflicht hinter uns? Waren wir jetzt zu diesem Zeitpunkt bereit, uns mit neuen, ungebetenen Realitäten auseinanderzusetzen?

Vermutlich waren wir es nicht; aber seit wann nehmen Ereignisse auf so etwas Rücksicht? In Echtzeit wurden wir mit Angriffen Russlands auf die gesamte Ukraine konfrontiert, sahen bombardierte Städte, erschreckte Gesichter, flüchtende Menschen, unfassbares Leid. Es war am Anfang dieses schrecklichen Krieges, als ich in Warschau arbeitete. Nach den Dreharbeiten gab es kein Flugzeug mehr zurück nach Berlin, die Züge waren mit Fliehenden überfüllt – letztendlich wurde ich mit einem Auto nachts nach Berlin zurückgefahren.

Frank Peter Wilde hält eine Rede vor der Russischen Botschaft, wo er auf die Situation queerer Ukrainer aufmerksam macht. Schwule, Lesben und Transmenschen verteidigen ihr Land gegen die russischen Truppen. Wilde hat am Jahrestag das Abzeichen der queeren Soldaten verliehen bekommen.
Frank Peter Wilde hält eine Rede vor der Russischen Botschaft, wo er auf die Situation queerer Ukrainer aufmerksam macht. Schwule, Lesben und Transmenschen verteidigen ihr Land gegen die russischen Truppen. Wilde hat am Jahrestag das Abzeichen der queeren Soldaten verliehen bekommen.Sabine Gudath

An jeder Raststätte, an der wir anhielten, standen Busse, aus deren beschlagenen Fenster angsterfüllte Frauen schauten, oft mit kleinen Kindern auf dem Arm, die runden Gesichter in Pudelmützen gehüllt; alte Menschen, vollgestopfte Taschen umklammernd, die fragend und unsicher nach Außen schauten. Es war wohl diese Nacht, die mein nächstes Jahr entscheidend prägen würde. Als ich gegen 4 Uhr morgens zu Hause in Berlin ankam, wusste ich, dass ich nicht zu denjenigen gehören möchte, die beschäftigt wegschauen wollen, um ihr Gewissen zu beruhigen ob dieser immensen humanitären Katastrophe.

Ukrainer werden zu Schachfiguren degradiert

Noch in derselben Woche meldete ich mich zusammen mit meinem besten Freund als Helfer für ankommende Flüchtende am Hauptbahnhof an. Eine herausfordernde, oft sehr emotionale  Arbeit, aber auch eine lohnende, lehrreiche Erfahrung. Sie hat mich in dem bestätigt, was ich wohl immer wusste: Wenn du Menschen verstehen willst, arbeite mit ihnen, höre ihnen zu, betrachte sie nicht von außen. Warum erzähle ich all dies jetzt?

Eine Frau steht während der Exhumierung eines Massengrabes neben Särgen in Butscha. 
Eine Frau steht während der Exhumierung eines Massengrabes neben Särgen in Butscha. Emilio Morenatti/AP

Weil ich mich als Deutscher schäme, dass das Schicksal der Ukraine, der Ukrainer und Ukrainerinnen in Talkshows und Zeitungen zu oft behandelt wird wie eine Sache, die es abzuwägen gilt gegen eigene Vor- oder Nachteile. Weil die Ukrainer und Ukrainerinnen durch die kühle, entmenschlichte Sicht selbsternannter Pazifisten zu leblosen Schachfiguren degradiert werden, die sich halt zu fügen haben, um Wohlstand und liebgewonnene Weltbilder nicht zu gefährden.

Weil ein „Manifest für Frieden“ in Wirklichkeit ein Manifest für Unterwerfung bedeutet. Weil Freiheit und Frieden keine Verhandlungsmasse sind, die zynischen Maßstäben unterliegen darf. Weil Waffenlieferungen an die Ukraine die Voraussetzungen für echte Friedensverhandlungen schaffen. Weil unser „Nie wieder“ gelebt und nicht nur dahingesagt werden darf. Weil die Ukraine siegen muss.

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Sabine Gudath
Frank Peter Wilde
Frank Peter Wilde ist Modestylist, Designer und Kostümbildner. Er arbeitet mit zahlreichen deutschen und internationalen Stars aus Film, TV und Musik zusammen. Mit seinem Instagram-Account unterstützt er die Menschen in der Ukraine. Der Queer-Aktivist hat über 119.000 Follower und  ist mittlerweile in der Ukraine sehr bekannt.

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