Der Gedanke daran, am Wochenende nach Köpenick zu fahren, versetzte mich als Kreuzberger zunächst in einen Zustand des Unbehagens. Am Wochenende meine kleine Inner-Ring-Bubble verlassen? Mit zunehmenden Alter (39!) scheint sich mein Bewegungsradius in der Stadt zu verkleinern. Sogar die Freundschaftspflege leidet oftmals darunter, wenn die Wege zu weit werden. Zugegebenermaßen bin ich da etwas speziell unterwegs (oder eben nicht unterwegs). Was könnte mich also locken und aus der aufgebauten Komfortzone meines Szenekiezes heraustreiben? Dazu bedurfte es schon eines besonderen Ereignisses.
Aber genau dieses stand auch an: Das Hauptstadtderby zum Bundesligaauftakt! Ich lebe nun seit fast 20 Jahren in Berlin und war noch nie bei einem Union-Heimspiel. Schande über mich! Ins Olympiastadion zog es mich schon das eine oder andere Mal in den vergangenen zwei Dekaden. Natürlich zu diversen Konzerten. Aber auch als alter Werder-Fan wurden die Bremer Bundesliga-Gastspiele in Berlin vielleicht ein- oder zweimal als Gelegenheit wahrgenommen.
Besonders in Erinnerung geblieben ist ein superlangweiliges 0:0 zwischen Hertha und Werder an einem ekelig nasskalten Novemberwochenende. Damals hatte ich die absurde Idee, mit meinem damaligen Schwarm ein Hertha-Spiel anzusehen. Ich wollte die landsmannschaftliche Verbindung nutzen oder einem vermeintlichen Lokalpatriotismus folgen, den es auch im Berliner Exil zu leben galt, für ein originelles Date.
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Sie war kunstaffin und ihr Fußballinteresse tendierte gen null. Der Romantikfaktor in der klirrenden Kälte in der Westkurve des Olympiastadions hatte eine ähnliche Tendenz. Um das Ganze abzukürzen und der Korrektheit halber sei an dieser Stelle noch erwähnt, dass das Spiel damals eigentlich 1:1 endete. Die Tore fielen allerdings in den letzten zehn Minuten und wurden unsererseits nicht registriert, weil wir Mitte der zweiten Halbzeit völlig unterkühlt aufgebrochen sind.
Union war natürlich schon immer groß in Berlin
Berlin und Fußball, das passte für mich nie so wirklich zusammen. Im Gegenteil. Stets versuchte ich an Fußballwochenenden den öffentlichen Nahverkehr an den betroffenen Routen sogar absichtlich zu meiden, um ja nicht in eine Traube von besoffenen Fußballfans zu geraten. Mit Erfolg. Berlin ist eine große Stadt. Wer sich nicht für Fußball interessiert, ihm bewusst aus dem Weg geht und nicht zufällig in Stadionnähe lebt, wird mit großer Wahrscheinlichkeit auch nichts vom Fußball mitbekommen.
Damit hatte sich Fußball live im Stadion in Berlin eigentlich für mich erledigt. Die studentische Armut war auch überwunden und die technische Ausstattung insofern gegeben, dass Bundesliga-Spiele auch gut im heimischen Wohnzimmer über die Projektor-Leinwand zu verfolgen waren. Aber seit ein paar Jahren spukte wieder ein Fußballgespenst durch die Hauptstadt. Es gab auf einmal einen zweiten Bundesliga-Verein in Berlin! Und dieser spielte groß auf!
Was für mich ein Novum war, können richtige Berliner Fußballkenner und Unionfans wahrscheinlich nur mit einem Schmunzeln kommentieren. Union war natürlich schon immer groß in Berlin. Ein kleiner Verein, der eine große Fangemeinde hat, die lokal im Bezirk Treptow-Köpenick verhaftet ist und natürlich schon immer zu ihrer Mannschaft stand – auch vor den aktuellen Erfolgen, die, wie das mit Erfolgen halt so ist, das Spektrum erweitern und auch über die Bezirksgrenzen einen Magnetismus entfachen.
Sofort bemerkbar war die gute und friedliche Stimmung
Das Gespenst spukte also eher in meinem Kopf. Der Spuk wurde untermalt von einer legendären Reputation und auch durch die Erfahrungen von Bekannten, die schon mal live dabei gewesen sind. Die Alte Försterei, das Stadion von Union, ist die kleinste Spielstätte in der aktuellen Bundesliga-Saison und fasst gerade einmal 22.000 Menschen. Dennoch gilt die Atmosphäre als eine der besten – wenn nicht die beste – in der ganzen Republik! Einmal zu Union, das stand also schon seit geraumer Zeit ganz oben auf der Erlebniswunschliste.
Am letzten Samstag war die Gelegenheit endlich da. Ein Kumpel hatte Tickets besorgt und lud mich ein. Die Fahrt nach Köpenick mit den öffentlichen Verkehrsmitteln (wir wollten schließlich Bier trinken) war schon mal sehr entspannt. Die Horden an besoffenen Fußballfans, die am Spieltag die Berliner S-Bahnen okkupieren, blieben aus. Vielleicht, weil Unionfans sowieso eher lokal im Berliner Südosten leben und nicht durch die ganze Stadt reisen müssen? Vom S-Bahnhof Köpenick läuft man circa 15 Minuten zum Stadion. Da wir beide noch nie da waren, folgten wir einfach den roten Massen. Sofort bemerkbar war die gute und friedliche Stimmung. Vor der auf dem Weg gelegenen Fankneipe „Abseitsfalle“ herrschte eine regelrechte Karnevalsatmosphäre.
Aber die Bühne gehörte natürlich der Mehrheit der Unionfans
Im Stadion angekommen, spürte ich bereits die knisternde Atmosphäre. Die Zigaretten waren schnell aufgeraucht und das erste Bier getilgt. Der Anpfiff nahte. Mit frischem Bier begaben wir uns schließlich auch zu unseren Plätzen. Wir kamen genau richtig, um die Choreografie der Union-Fans auf der Waldseite zu erleben. Ein Fahnenmeer aus Gelb und Rot. Die Reputation der Fans und dieses Stadions waren nicht übertrieben. Das Stadion war natürlich ausverkauft, wie auch sonst alle Union-Heimspiele immer ausverkauft sind. Eine grandiose Stimmung und das nicht nur in den Fanblöcken. Das ganze Stadion machte mit.
Auch die Haupttribüne, auf der wir uns befanden, barg wahrlich kein Opernpublikum. Ein Kompliment an dieser Stelle auch an den Hertha-Gästeblock. Auch die dortige blau-weiße Minderheit kann man nur loben. Aber die Bühne gehörte natürlich der Mehrheit der Unionfans, die mit aller Kraft ihre Mannschaft anheizte. Derbystimmung pur! Auch das Spiel selbst war gut anzugucken. Union war überlegen und ging mit einer 1:0-Führung in die Halbzeit.
Die Heimfahrt war voll mit positiven Eindrücken
Besser geht’s wirklich nicht. Oder? Doch! Eine zweite Halbzeit, die weiterhin ein flottes Spiel und überlegene Gastgeber zeigte. Am Ende gewann Union an einem schönen Sommertag verdient mit 3:1. Der kleine Junge in mir, der seine ersten Stadionerfahrungen in der Ostkurve des Bremer Weserstadions gemacht hatte, war hellauf begeistert. Alles in allem war es der perfekte Fußballnachmittag – außer vielleicht, wenn das Herz für Hertha schlägt und die Enttäuschung über das Endergebnis überwiegt. Ein Bier auf den Sieg gönnten wir uns noch vor der Abfahrt.
Die Heimfahrt war also voll mit positiven Eindrücken. Die S-Bahn war zwar auch voller (es wohnen wohl doch nicht alle Unionfans in Köpenick), dennoch war nach so einem Spiel die Stimmung im bepackten Nahverkehr nach wie vor sehr gut. Allen, die noch nie ein Union-Heimspiel erlebt haben, kann ich dies nur wärmstens empfehlen. Ihr werdet nicht enttäuscht sein. Abschließendes Fazit: Immer wieder Eisern Union!
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