Meine Jugend in einem märkischen Altersheim
Die Mutter unseres Autors übernahm 1957 die Leitung eines Feierabendheims in Brandenburg. Für ihn begann eine Zeit der Abenteuer – unter Freunden und Senioren.

Ältere Bürger können sich erinnern, den Jüngeren meist unbekannt: Senzig, ein heutiger Ortsteil von Königs Wusterhausen, hatte ein Feierabendheim, spezifiziert auf zunächst Alters- und später zusätzlich Pflegeplätze, mit bis zu 60 Bewohnern. Gelegen am Krimnicksee, an zwei geschichtlich interessanten Standorten beidseitig der Lindenstraße.
Die Nr. 13 als Hauptstandort mit mehrstöckigem Herrenhaus und riesigem Park im englischen Landhausstil mit hundert Meter Wasserfront sowie zugehörigem Wirtschaftsgebäude mit separatem Garten.
Die Nr. 17, ein ehemaliges Café mit historischen Spuren zur Berliner Mohrenstraße, zu Gemälde und Roman „Preußisches Liebesglück“ sowie zur Grabstelle für den Militärmusiker Gustav Sabac el Cher, mit markantem Grabstein auf dem Senziger Friedhof. Die Villa ist inzwischen abgerissen und durch ein ASB-Wohnheim ersetzt.
Diese Eigenheiten beider Standorte prägten Ablauf und Charakter des Heimes sowie meine Geschichte.
Meine Mutter übernahm im Frühsommer 1957 die Leitung des Feierabendheimes Senzig. Für mich bedeutete dies nach Abschluss der siebten Klasse in Luckenwalde: eigenständige Fahrt zu Beginn der Sommerferien, mit Wegbeschreibung und Übernachtungsstopp Berlin. Nach Begrüßung am herrschaftlichen Eingangstor durch eine alte Dame mit Puppenwagen gab ich meiner Mutter zu verstehen, Luckenwalde mit seiner ausgeprägten städtischen Struktur nicht gegen Senzig zu tauschen.
Es war Sommer, ein herrlicher Morgen nach der ersten Nacht, der mich am See und dort stationiertem Kahn schnell zur Korrektur dieser negativen Meinung brachte. Ich fühlte mich bereits integriert in diese neue idyllische Gemeinschaft mit Wohnung im Altersheim.
Noch in den Ferien vor dem Beginn der achten Klasse hatte ich im Ort viele Freunde, die mit mir zusammen das Gelände als Abenteuerspielplatz erkundeten. Parallel zum Heimalltag führte es uns in die unendlichen Grenzen des Heimgeländes. Beständiger Berliner Gast war auch mein Cousin „Keule“.
Für uns Jugendliche ging dieses Abenteurertum nach der 8. Klasse in die fortführende Schulausbildung bis zur 10. Klasse und bei mir bis zum Abitur an der Erweiterten Oberschule (EOS Königs Wusterhausen) über.
Prägende Erlebnisse verbanden uns. Seeschlachten mit Kahnangriffen, später zivilisiert durch Segeln mit meiner erworbenen Z-Jolle. Training im Heim gehaltener Schafe zum Boxen im Park spazierender Heimbewohnerinnen sowie Fütterung der Truthähne mit alkoholisiertem Brot. Bergung von ertrunkenen Heimbewohnerinnen aus dem See, gemeinsames Haarschneiden, Stil: „Igel“, welches nach Sichtung meiner Frisur die anderen aber absagten. Mir brachte das am nächsten Morgen zum Unterrichtsbeginn von der Schuldirektorin einen Appell vor den versammelten Klassen wegen westlicher Tendenzen ein.
Vernehmung bei der Volkspolizei
Des Weiteren: explosive Experimente mit munitionierten Bierflaschen auf dem Dachgewölbe des Weinbunkers. Gemeinsames Fernsehen der Fußball-WM 1958 unter Einbeziehung des Sportlehrers an einem der wenigen, aber schon im Heim befindlichen Fernseher vom Typ Dürer. Bei der Installation der „Ochsenkopf“-Antenne auf dem Dachfirst von Nr. 13 half ich mutig dem Fernsehtechniker, Sohn eines Heimbewohners.
Abendliches Fernsehen wurde Attraktion für die Bewohner. So erschien eine Dame von herrschaftlicher Statur und Herkunft stets mit Zofe, die ihr Fußbank und Teleskop-Hörrohr reichen musste. Mich traf ihr Zorn, als sie statt der in Operngarderobe erwarteten „Tosca“ des DDR-Fernsehfunks nach zehn unruhigen Minuten meinen bevorzugt eingestellten Westkanal bemerkte. Neben Fernsehen gab es aber auch Karten und Würfelspiele sowie Akkordeon ohne und mit Gesang. Berührend dabei jedes Wochenende die Ballade eines alten schlesischen Landmannes „Warum weinst Du schöne Gärtnersfrau?“.
Eine S-Bahn-Fahrt nach Eichwalde mit Freund Juchte und Cousin, die bei unserem Aussteigen mit plötzlicher Ansage „Verhaftung“ und nach Notbremsung des anfahrenden Zuges zu unserem begleiteten Weitertransport bis Adlershof zur Vernehmung in dort befindliche Kellerräume der Volkspolizei führte. Hintergrund: Im Ost-West-Konflikt geführte Randale in S-Bahnen, die uns nach einer langen Verhörnacht natürlich nicht nachzuweisen war. Für mich der Anlass, die Funktion als FDJ- Sekretär meiner Klasse an der EOS niederzulegen. Brisant für „Keule“, da Vater Offiziersrang im Polizeipräsidium am Alex hatte.
West-Berlin war ein nachhaltiger Magnet für alle. Für uns Jugendliche natürlich im Pflichtprogramm: ein gegen Personalausweis-Vorlage möglicher verbilligter Besuch Neuköllner Kinos. Bei mir war nach zwei Filmen über Cowboys und Liebe mit Südsee sowie Atombombe das Interesse erloschen. Für einen Platznachbarn im Kino aber doch problematischer, da ihm der beim Verlassen der Stadtgrenze Berlins vorzuweisende Ausweis gestohlen wurde.
Bei diesen Polizeikontrollen im Bahnhof Eichwalde immer ein Gefühl wie „Kaninchen vor der Schlange“, besonders als bei einer Fahrt sich unter meiner Popelinehose die Konturen einer in West-Berlin gekauften Lederhose abzeichneten.
Das Ende dieser West-Abenteuer kam mit dem Mauerbau, den ich und Cousin erst aus meinem Grundig-Kofferradio bei herrlichem Sommerwetter auf dem See mitbekamen. In bleibender Erinnerung blieb der West-Berliner „Duft“, ein Mix aus Schokolade, Kaffee und Eis, den später auch DDR-Intershops nicht ersetzten.
Für das Heim lange noch keine üppigen Zeiten. Verpflegungssatz begrenzt und technische Ausstattung auf niedrigem Niveau erforderten Lösungen. Vieles konnte nur mit hilfreichem Verständnis der örtlichen Administration, vertreten durch Bürgermeister, Polizisten sowie der Feuerwehr erfolgen.
Heimbewohner übernahmen Aufgaben in arbeitsteiliger Spezialisierung für Reinigung, Einkauf, Garten, Tierhaltung usw. Sie bekamen damit Verantwortung und Abwechslung im Tagesablauf.
Für mich ebenfalls eine Anforderung sowie zaghafte Motivation zur Hilfe. Zu meinen außerschulischen Aufgaben gehörten die Unterstützung der ortsansässigen Handwerksmeister bei häufigen Arbeiten an der maroden Infrastruktur; gleichzeitig Segen und Fluch. Die Entleerung der Abwassersammelgrube über Handschwengelpumpe, was nebenbei zu meinem Fund dort versenkter Kriegs- und Jagdwaffen führte. Die Mitwirkung bei der stupiden Abrechnung noch amtlicher Lebensmittelkarten im Büro. Hilfe für den Fleischermeister bei Schlachtungen der zur Besserung des Verpflegungsstatus in Freiland gehaltenen Schweine und Schafe. Zusätzlich für mich und mein Magazin-Luftgewehr die Bekämpfung der entstandenen Rattenplage. Erlegte Ratten sowie Blitzknaller zu Silvester im Küchentrakt, für mich eine Gelegenheit zum Necken des Personals. Von meiner Mutter aber nicht nur in Erinnerung an Berliner Bombennächte unterbunden.
Es gab Sondereinsätze bei vermissten Personen. Als kurioser Fall eine Dame, die aus alter Gewohnheit den abendlichen Heimweg in die ehemalige Wohnung nahm und der dort nun wohnende Glasermeister nach längerem Besuch des Gasthauses „Gärisch“ sie erst am nächsten Morgen verdutzt statt seiner Frau im Ehebett wahrnahm.
Viele Anekdoten auch zum Schmunzeln. So kam Sonntagfrüh als Notruf: „Die Hilde ist ins Wasser gegangen.“ Als ich schlaftrunken rüber zu Haus 17 stürmte, kam sie mir bereits triefnass mit der Aussage „Wasser war zu kalt“ entgegen. Wie oben beschrieben gab es aber, für mich mit Freund Hucki, doch zwei tödliche Ereignisse im Krimnicksee.
Freude und Schmerz, also Leben und Tod liegen in einem Altenheim dicht zusammen.
In Erinnerung die erste Tote, in hohem Alter von 89 verstorben. In Folge dann immer öfter Bahren-Transport über Treppen und Flure in die in einem Schuppen eingerichtete provisorische Leichenhalle; oftmals mit meiner dazu erforderlichen Hilfe. Die linke Langseite des Senziger Friedhofs, fast eine Altersheim-Allee und angrenzend an das Familiengrab der Thorndikes, wurde in der Regel für viele lieb gewordene Menschen letzte Ruhestätte.
Im Zuge der Zeit besserte sich der Heimalltag. Die Bewohner, auch die mit etwas abweichenden Verhalten aus der Nervenklinik Teupitz übernommenen, erfuhren Verständnis und oft Zuneigung von den Senzigern.
Legendär wurden die jährlichen Sommerfeste mit der Kapelle Lehmann oder die Ausfahrten mit dem Fahrgastschiff „Friedel“ auf den Dahme-Seen. Dessen Reeder war eine mit meiner Mutter befreundete Familie, welche parallel auch die Fähre nach Zernsdorf betrieb. Im Hinterhof der heutigen Gaststätte „Kreta“ können noch die historischen Reste der „Friedel“ besichtigt werden.
Humanismus und soziale Verantwortung
Zusammenfassend eine Zeit im Altersheim nicht nur als Abenteuer, sondern auch mit nachhaltiger Wirkung als Lehre für Humanismus und soziale Verantwortung. Menschen mit bewegenden Schicksalen wurden dabei für mich fast zum Ersatz für die Großeltern, die ich kriegs- und altersbedingt nicht kennenlernte.
Bei anderen verstand ich deren Lebensanspruch trotz vorhandener geistiger oder körperlicher Schwächen. Volle Achtung habe ich nachträglich für die Lebensleistung meiner Mutter, die ihre Leitung des Feierabendheimes Senzig bis zum 73. Lebensjahr wahrnahm. Viele Menschen hatten durch sie in schwieriger Zeit ein würdevolles Heim erhalten. Dankbar wurde sie dafür als studierte Fürsorgerin von diesen oft mit „Schwester Erna“ tituliert. Medizinisch begleitet von zwei Heimärzten, von denen einer als ehemaliger Schiffsarzt die Wochenvisiten mit frischer Brise zu Events im Heimalltag führte.
Die Schulzeit, trotz Anfahrt nur mit Fahrrad und sonnabends bis 14 Uhr EOS, gut verbracht. Herbstlicher Kartoffeleinsatz, für mich durch vom Heim-Hausmeister beigebrachte Trompetentöne als Ersatzdienst im Schulorchester. Leiden in der Tanzschule Wiegand im Volkshaus Wildau. Verwertbar die im polytechnischen Unterricht im SHR Wildau vermittelten Schlosserkenntnisse. Ergänzt um Einblicke als Assistent beim Dreh eines Werbefilms über das neue Ringwalzwerk, dessen Regisseur über Szenetricks aus seiner NS-Wochenschau-Zeit bei vorzeitigem Ortswechsel des „Führers“ berichtete. Marscherleichterung und neue Freiräume bis zur Ostsee nach Motorrad-Fahrerlaubnis, durch die von meiner Mutter zum Abitur von „Keules“ Bruder erworbene 175er Jawa. Diese hatte ich bereits über Monate in der Garage mit Elsterglanz geputzt. Mit dem Abitur ein Platz für mein erstes Ingenieurstudium an der TU Bergakademie Freiberg.
Meinen Freunden ein Dank für das gemeinsam Erlebte. Es waren mosaikartige Erinnerungen, wie beim Flug eines Schmetterlings über nur einige Blüten einer herrlichen Blumenwiese im Frühling.
Mein Rat für alle Eltern, schickt Eure Kinder in Kitas, in Schulen, auch zu Montessori, aber für Nachhaltigkeit wählt ergänzend ein Altersheim!
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