Nach der Impfung: „Vielleicht ist das mein letzter Sommer“

Endlich kann unsere Autorin wieder verreisen. Aber sie kann sich nicht entscheiden, wohin. Denn sie hatte Krebs. Und jede Reise könnte ihre letzte sein.

Oder in die Berge? Morgenstimmung am Wasserfall in der Gasteiner Ache in Österreich.<br>
Oder in die Berge? Morgenstimmung am Wasserfall in der Gasteiner Ache in Österreich.

Imago/Meike Engels

Berlin-Ständig hört man jetzt, wie die „Maßnahmen“ der Jugend die Lebenszeit rauben und immer häufiger ernten wir, die Generation 60+, vorwurfsvolle Blicke. Eine junge Nachbarin sagte es mir letzte Woche: „Wegen den Alten versäumen wir jetzt unsere besten Jahre!“ Sie sagte nicht „wegen euch“, das verkniff sie sich, aber sie dachte es. So schaute sie mich jedenfalls an, und auch ihre Stimme war anklagend. Jedenfalls interpretierte ich das so und bekam sofort ein schlechtes Gewissen.

Inzwischen zähle ich tatsächlich zu den Alten. Nächste Woche bekomme ich sogar schon die zweite Spritze. Was aber eher der Krebs möglich machte, der Brustkrebs, der vor fünf Jahren in mein Leben kam und alles auf den Kopf stellte. Auf einen Schlag war nichts mehr wie vorher. Na ja, das sind immer so Worte. Aber als ich die Diagnose bekam, musste ich mich am Tisch festhalten und ein Blitz schoss mir siedend heiß vom Kopf bis in die Füße. Doch ich sagte: „Sie müssen keine Angst haben um mich!“, und der Arzt nickte.

Danach war da etwas, das nie wieder weg ging. Das Lebensgefühl war endlich geworden und die Zeit unendlich kostbar. Es gab kein „Das machen wir irgendwann später“ mehr, nur noch „Jetzt oder nie!“

„Du muss gar nix“, singen die Sterne

Es folgten Operationen, die Chemotherapie und Bestrahlung. Ein ganzes Jahr ging dafür drauf und danach war ich nicht mehr jung. Als die Haare wiederkamen, waren sie dünn und grau, ich tuckerte nur noch mit halber Kraft vor mich hin. Plötzlich war ich eine Oma, obwohl ich nie eine war. Manche Dinge wurden aber auch besser, der Leistungsdruck ließ nach und alles, was ich früher „wegen der Leute“ machte, war nun passé. Ich wusste plötzlich, wer ich bin und was ich wert bin.

Ich höre jetzt ganz gern den Song von den Sternen: „Du musst gar nix“. Er ist wie für mich gemacht. Obwohl ich glaube, dass die Sterne da eher jüngere Hörer im Blick hatten, ihnen vielleicht etwas mit auf den Weg geben wollten. Ratschläge, die nicht funktionieren können, weil soziale Bindungen so wichtig sind in der Jugend und damit natürlich auch die Abhängigkeit voneinander. Wenn ich manchmal meine Tagebücher rauskrame und lese, was ich als Teenagerin so geschrieben habe, ist mir das oft peinlich vor mir selbst. Wieso schrieb ich seitenweise über den Streit mit einer Freundin? Wieso diese Weltuntergangsstimmung? Warum habe ich Konflikte nicht offen ausgetragen?

Der Krebs hat mich tatsächlich stark gemacht. Aber ich wurde auch zur Alleinseglerin, habe feste Bindungen nach Jahren gelöst, war nicht mehr kompromissbereit. Leider hat so eine Krankheit nicht nur eine medizinische Seite, sondern auch eine psychische und sogar eine finanzielle. Drei Tage nach der Diagnose, noch vor der OP, musste ich als Alleinstehende und Freiberuflerin Hartz IV anmelden, neun Monate später folgte die Erwerbsunfähigkeitsrente. Große Sprünge konnte ich nicht mehr machen.

„Oh Corona, Corona! Huhu, ich komme gleich!“

Der Krebs blieb erst mal weg, statt dessen kam Corona. Allerdings nicht zu mir. Zuerst waren es nur Bilder im Fernsehen, ganz weit weg, dann waren die ersten in unserem Hinterhaus in Quarantäne. Ich war zugegebenermaßen übervorsichtig, ging nirgendwo mehr ohne Maske hin, wollte auch nicht wieder in ein Krankenhaus. Gleich im März 2020 hatte ich mir teure FFP3-Masken im Internet bestellt, fünf Stück für 89 Euro. Ich ging damit in eine Kaufhalle in Wandlitz. Es gab noch keine Maskenpflicht und ein Mann machte mich an, verfolgte mich bis zum Parkplatz und schrie immer wieder: „Oh Corona, Corona! Huhu, ich komme gleich!“ Dabei riss er seine Hände hoch wie ein Tiger, sprang um mein Auto. Eine Freundin aus Zwickau rief an: Rundherum sterben die Eltern der Freunde.

Beim ersten Lockdown rückten die Menschen auf wundersame Weise näher zusammen. Im Haus fragten mich Leute, die ich nie zuvor gesehen hatte, ob sie für mich einkaufen sollen, ob ich irgendetwas brauche. Wir bepflanzten dann gemeinsam unseren Hinterhof, eine Sache, die ich sonst allein gemacht hatte. Das Festnetztelefon, das ich schon mal entsorgen wollte, klingelte nun wieder öfter. Die Menschen wollten wissen ob ich krank bin und irgendwann interessierte es mich auch, wie es Freunden aus Kindergarten-, Schul- oder Studientagen ging. Mit meinen Nachbarn unten, oben und nebenan war ich inzwischen über WhatsApp verbunden. Ich hängte ihnen kleine Tütchen mit Weihnachtsmännern, Osterhasen und Spargel an die Tür und bekam Piccolos, Zeitschriften und Blumen zurück.

Lieber für die Beerdigung sparen?

Seit März drehen sich die Telefongespräche vor allem darum, wer von uns schon geimpft ist und womit. Ob man die erste oder zweite Spritze hatte und wie man sie verträgt. Selbstverständlich geht es auch immer wieder um diverse Kinder und Enkel. Ich bekomme diese Woche den zweiten Pieks und denke jetzt nur noch ans Reisen. Abends liege ich im Bett und überlege: Was möchte ich wirklich noch sehen? Wofür reicht das Geld, oder spare ich doch endlich mal für meine Beerdigung?

Der Krebs fragt mich ja nicht vorher, ob er zurückkommen darf. Eine Antwort bei Krebs gibt es auf diese Frage nicht. Du bist wahrscheinlich geheilt, nicht geheilt. Bin ich jetzt nach fünf Jahren geheilt oder nicht? Es können jederzeit Metastasen auftauchen, ein Rezidiv oder auch eine andere Krebsart. Ich habe alles gehört, sogar nach 15 oder 23 Jahren kann es wieder losgehen. In der Reha trifft man viele Frauen, und jedes Schicksal ist anders. Mein Krebs ist erst mal raus. Ich denke manchmal noch an die Bestrahlung, als ich der jungen Ärztin sagte: „Sie hau'n mir hier eine Riesendosis rein, vorher jedes Mal noch eine Röntgenaufnahme für die richtige Position, 38 Tage lang? Da sterbe ich ja dann an der Strahlung und nicht am Brustkrebs.“

Sie lächelte süffisant: „Aber erst in zehn bis 15 Jahren, jetzt überleben Sie erst mal Frau Kramer.“ Solche Sätze bekommt du nicht mehr aus dem Kopf, auch nicht mit der tiefsten Meditation. Aber all das macht dein Leben nur wertvoller, auch wenn es gerade ein unterdurchschnittliches Leben in einem Berliner Hinterhof ist.

Dieses Jahr muss etwas Großes passieren

Wie wäre es mit Venedig? Da müsste ich jetzt sofort hinfahren, sonst sind zu viele Touristen da! Aber dann hänge ich vielleicht in einer fensterlose Bude, es wird heiß, und die Kanäle stinken bis zum Himmel. Dürfen eigentlich die riesigen Kreuzfahrtschiffe in die Lagune? Ich wälze mich im Bett von einer Seite auf die andere. Dann eben Schweden? Einen Camper mieten und einfach los. Was aber, wenn der kaputt geht mitten im Wald, allein, ohne Netz, im Funkloch zwischen Elchen und Wölfen? 

Ich könnte mal die Alpenstraße langdüsen, auf den Großglockner fahren oder in Portugal am Strand liegen. Alle anderen fahren jetzt nach Polen an die Ostsee, da sind die Hoteliers überglücklich, verwöhnen die Deutschen von hinten bis vorn. Ist auch nicht teuer. Noch eine Drehung im Bett, Blick zur Uhr, wieder eine Stunde nur gegrübelt. Das wollte ich doch nicht mehr machen! Bloß nicht nach Mecklenburg oder in die Uckermark, wo all die Hipster mit ihren Bullis rumspringen. Wo man schon vor der Wende tausendmal war und danach alles wieder „neu“ entdeckte. Obwohl die Strände von Dierhagen, Kühlungsborn und Hiddensee unschlagbar sind. 

Bevor alle durchgeimpft sind, muss man weg sein, sonst wird es zu voll. Eins ist jedenfalls klar: Dieses Jahr muss etwas Großes passieren, denn es ist vielleicht mein letzter Sommer.

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