Putins Verbündeter, Putins Gegner: Zum Tod des Historikers Gleb Pawlowski
Er gehörte einst zum engsten Kreis des russischen Präsidenten, verurteilte später den Krieg gegen die Ukraine. Wer war der umstrittene Historiker?

Ab wann gilt ein Historiker, Politikwissenschaftler und Politikberater als „umstritten“? Dieses abstrakte und heute populäre Adjektiv wird im Fall von Gleb Pawlowski (*1951, Odessa, †26. Februar 2023, Moskau) verständlich, wenn wir einen weiteren Namen hinzufügen, mit dem die Karriere Pawlowskis seit 1999 eng verbunden war: Wladimir Putin.
Gleb Pawlowski nahm aktiv an dem Konzipieren des ersten Wahlprogramms des designierten russischen Präsidenten teil und feierte 2000 nach Putins Sieg im engsten Beraterkreis mit. Der TV-Sender NTW, wohl ahnend, dass der vom ersten russischen Präsidenten bestimmte politische Nachfolger Boris Jelzins keine weitere Demokratisierung des Landes mit sich bringen würde, charakterisierte Pawlowski mit dem Spitznamen „Hauptimagemaker Gleb Treplowski“ (zu Deutsch: Quatschkowski).
Pawlowski blieb bis 2011 im engeren politischen und medialen Umfeld des russischen Präsidenten, der temporär sein Amt mit Dmitri Medwedew tauschte. Seit 2003, dem Jahr der Festnahme des Businessmannes Michail Chodorkowski, die Pawlowski nicht gutheißen konnte und wollte, entfernte er sich vom engsten Beraterkreis um Putin zunehmend – beziehungsweise wurde er entfernt. Umstritten macht Pawlowski in unseren „westlichen“ Augen auch die Tatsache, dass er an der Organisation der Präsidentenkampagne des späteren ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch im Jahr 2004 beteiligt war.
Diese Wahl führte zum ersten Maidanaufstand in Kiew. Pawlowski, der kreative politisch-kommunikative Kopf, entwickelte das Konzept der „Russischen Welt“ (russkij mir) mit: Die Leere, die die Sowjetunion hinterlassen habe, sei durch eine gemeinsame Zugehörigkeit von Millionen Diasporarussen zur russischen Sprache und Kultur zu kompensieren. Dieses Konzept wurde später instrumentalisiert: Der Ukraine-Krieg wird heute unter den nationalistischen Fahnen der „Russischen Welt“ geführt.
Auch in den spätsowjetischen Dissidentenkreisen war Gleb Pawlowski umstritten, weil er 1974 bis 1985 einerseits an diversen Aktivitäten der Andersdenkenden beteiligt war, andererseits mit dem KGB der UdSSR kooperierte und das Komitee mit Informationen über andere Dissidenten versah. In seiner Verbannung in der Republik Komi schrieb Pawlowski Traktate über die Rettung der UdSSR und schickte diese seinem Ermittler, der damit offensichtlich nicht viel anfangen konnte. Zu einer Rettung des Landes hat es bekanntlich nicht gereicht.

Pawlowski: Ein kluger Kopf der intellektuellen Szene
Der Mann, der das alles in der ganzen Widersprüchlichkeit erlebt hatte, war einer der klügsten Köpfe der postsowjetischen intellektuellen Szene. Geboren in eine jüdische Familie in dem damals noch „levantinischen“ Odessa, wie Pawlowski sagte, ist er bis zum Ende ein Lokalpatriot der Stadt geblieben, ohne die Pseudoromantik Odessas, die auch hierzulande herrscht, weiter zu transportieren.
Mit dem Vornamen „Gleb“ gaben ihm die Eltern ein Ticket in die russische Realität der spätstalinistischen Sowjetunion. „Ich musste dankbar sein, dass mein Vater mich nicht ‚Dobrynja‘ genannt hatte,“ scherzte Pawlowski. Dobrynja ist eine Mythenfigur aus der russischen mittelalterlichen Epik.
Ein nicht zu Ende studierter Historiker, stand Pawlowski für eine Weiterentwicklung einer Richtung, die seit Platon existierte: Die Denker suchen mit ihren Theorien eine Nähe zur Macht. Philosophen und Historiker entwickelten Geschichtsphilosophien und hofften, dass diese politisch wirken würden. Wir können hier Hegel in Preußen nennen. Wir können diese Denkweise heute schwer nachvollziehen. Die Underdogs werden bei uns oft politisch, medial und moralisch unterstützt, ohne dass die Unterstützenden auch annähernd wissen, was die Geschichte dieser Underdogs ist.
Andererseits wurden die historisch-politischen Debatten der Perestroika- und Wiedervereinigungszeit, die einen positiven Ausgang hatten, im 21. Jahrhundert durch eine Geschichtsinterpretation Wladimir Putins ersetzt. Diese führte ihn (und Russland) direkt zu einem Krieg gegen die Ukraine beziehungsweise sollte diesen im Vorfeld historisch erklären. Ist es eine Tragödie der russisch-jüdischen Intellektuellen und Historiker Michail Gefter (1918–1995) und seines Schülers, Gleb Pawlowski, dass ihr Philosophieren über Geschichte insbesondere seit dem 24. Februar 2022 zu einer brutalen Praxis führte?
Pawlowski sprach davon, dass eine „malerische Obdachlosigkeit“ der sowjetischen Dissidenten, diese „Verfolgungen, Versteckspiele, geheimnisvollen Frauen, dieser ganze Dumas“ dazu führten, dass sich Menschen gegenseitig Biografien zerstörten und dabei die Macht beschuldigten, es verursacht zu haben. Er nahm sich dabei nie aus. Pawlowski war imstande, eine Reue für sein Verhalten gegenüber Andersdenkenden auszusprechen. Wie viele, gleich ob in Russland, der Ukraine oder in der damaligen DDR, waren später dazu imstande? Diese Frage muss rhetorisch bleiben.
Seit 2011 befand sich Gleb Pawlowski in einer klaren Opposition zu seinem ehemaligen Chef und Förderer Wladimir Putin. Auch nach Kriegsbeginn im Frühjahr 2022 verließ der damals schon schwer kranke Pawlowski nicht das Land. Die Gerüchte über sein Absetzen nach London blieben Gerüchte. Pawlowski verurteilte Tausende von emigrierten Intellektuellen, die Kriegs- beziehungsweise Putingegner waren, nicht.

„Er verurteilte den Krieg scharf“
Er konnte sich aber eine ironische Notiz nicht verkneifen, dass die Postings dieser Leute in Kaffeehäusern Georgiens, Armeniens, Englands und Deutschlands nur so lange zustande kommen werden, bis ihr Geld nicht mehr reicht. Was passiert dann, fragte Pawlowski, der tatsächlich in seinem häuslichen Bett beziehungsweise in einem Moskauer Hospiz starb. Diese Tatsache ist, in Bezug auf einen liberal denkenden Intellektuellen in Russland schon wieder, wie zu Stalins Zeiten, nicht selbstverständlich, auch wenn direkte Parallelen zu den 1930er- bis 50er-Jahren absurd sind.
Viele Ukrainer, dabei nicht wenige ukrainische Juden, in der Generation Pawlowskis gingen aus ihren sowjetisch-ukrainischen Großstädten Odessa, Charkiw, Kiew, Dnepropetrowsk nach Moskau und/oder Leningrad (seit 1993 St. Petersburg). Viele von ihnen, auch das gehört zur Wahrheit, sind heute antiukrainisch eingestellt. Pawlowski war auch hier anders. Er verurteilte den Krieg scharf, vor allem wegen seiner Sinnlosigkeit.
Er kritisierte eine Konzeptlosigkeit der russischen Führung, die dem „Westen“ geglaubt habe, die Angelegenheit sei innerhalb weniger Tage zu lösen. Auch kritisierte er die Ukraine, die heute „den Sieg“ anstrebe, der keine klaren Konturen haben könne und militärisch nicht zu erlangen sei. Mitte des Jahres 2022 sprach Pawlowski von der Notwendigkeit eines „krummen“ (korjavyj) Friedens zwischen Russland und der Ukraine, der, wenn man seine Gedanken weiterentwickelt, eine Art Minsk 3 (nur mit einem anderen Städtenamen) bedeuten würde.
Der Politologe nannte Russland und die Ukraine ein „geopathologisches Paar“, das nicht ohne einander leben könne. Beide Länder seien strategische Satelliten. Die diesen politischen und mentalen Raum historisch und tagespolitisch Überblickenden werden Pawlowski recht geben müssen.
Der geborene Jude Pawlowski war ein bewusster orthodoxer Christ. In den sozialen Medien ist von einem „Sünder“ zu lesen, der keine Ruhe fand und deswegen den Bezug zur Kirche suchte. Diese Theorie ist naheliegend, aber falsch. Pawlowski räumte in seinem Leben und Denken der Kirche einen präsenten Platz ein. Er gehörte zu jener dünnen Schicht der russlandtreuen, oft jüdischen Iteligenzija, die sich seit der späten Breschnew-Zeit suchte. Der Priester seiner Moskauer Gemeinde ist ebenso jüdischer Herkunft. Er hat die Facebook-User gebeten, für die Seele Pawlowskis zu beten. Eine Leserin, bezugnehmend auf Pawlowskis frühere Nähe zu Putin, sagte: Das sei unmöglich.
„Dann werden Sie eben nicht beten“, kommentierte der Priester. Eine Epoche kann auch so – ironisch und leicht absurd – zu Ende gehen. Wir dürfen nur nicht vergessen, dass eine Tragödie, der Krieg, andauert.
Gleb Pawlowski würde es bestimmt begrüßen, wenn das Nachdenken nicht eingestellt würde, auch während des Krieges. Gerade in dieser Zeit.
Dmitrij Belkin ist beim Zentralrat der Juden in Deutschland tätig, wo er die „Denkfabrik Schalom Aleikum“ leitet.
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