PCK Schwedt: Wir setzen unser technisches Wissen aufs Spiel

Ab dem 31.12.2022 möchte Deutschland auf russisches Erdöl verzichten. Unser Autor hat das PCK Schwedt mit aufgebaut – und ist entsetzt.

PCK Schwedt
PCK Schwedtpicture alliance/Annette Riedl

Meine Wortmeldung nimmt Bezug auf den Artikel „Wirtschaftslenker reden: Ostdeutsche Erfahrungen in der Krise nutzbar machen“ von Maritta Tkalec (Berliner Zeitung vom 26.9.2022). Ich war Teilnehmer des Jubiläumstreffens des geschilderten Generaldirektorensalons. Ich möchte der Aufforderung von Holger Friedrich zum Füllen des Diskursraumes der Berliner Zeitung folgen, um die vielen Wahrheiten zu erfassen und damit „gesellschaftliches Aushandeln“ stattfindet. Mein Beitrag umfasst vornehmlich Erlebnisse, die sich um das PCK Schwedt ranken. Es ist heutzutage in aller Munde wegen der ungesicherten Versorgung mit Erdöl. Ich habe in diesem Betrieb nach meinem Studium der Verfahrenstechnik in Moskau sechs Jahre gearbeitet. Ich habe den Aufbau des Werks in der 2. Hälfte der 1960er-Jahre miterlebt.

Die Stadt Schwedt an der Oder war 1945 zu 80 Prozent zerstört worden. Das Erdölverarbeitungswerk (EVW), wie es bis 1970 hieß, wurde auf grüner Wiese mit der Kraft der ganzen Republik errichtet. Grundlage war das Chemieprogramm der DDR-Regierung. Arbeitskräfte kamen von überall her. Die komplexe Aufgabenstellung für das neue Werk war durch die DDR-Ingenieure nicht allein zu bewältigen. Die Einsicht in sowjetische Projekte und in den Betrieb der dortigen Erdölverarbeitungswerke stellten eine wesentliche Hilfe dar. DDR-Ausbildungsgruppen absolvierten Halbjahres-Schulungen in sowjetischen Raffinerien. 1963 kam das erste sowjetische Erdöl über die Druschba-Pipeline in Schwedt an. Die 1. Ausbaustufe ging in Betrieb. Seither fließt russisches Öl zuverlässig in die Schwedter Produktionsanlagen.

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Die 2. Hälfte der 1960er-Jahre war gekennzeichnet durch eine beschleunigte Entwicklung von Produktionsverfahren der Erdölverarbeitung und Petrolchemie und die Anwendung der elektronischen Datenverarbeitung, einem Vorläufer der Digitalisierung. International ging die Entwicklung in Richtung automatisierter Steuerung der Prozesse und Optimierung der Fahrweisen. In dieser Zeit erfolgte mein Start in die Prozessautomatisierung des PCK in einem neu gebildeten Kollektiv von zunächst etwa 15 Absolventen sowjetischer und DDR-Hochschulen.

Verfahrens-, Regelungs- und Systemtechniker, Chemiker, Ökonomen, Mathematiker bildeten eine junge Truppe voller Neugier, Wissensdurst, Kreativität, Tatendrang. Es herrschte eine konstruktive, sachlich streitbare Atmosphäre in kollegialer Zusammenarbeit, auch mit den unterschiedlichsten Produktionskollektiven. Es einte das gemeinsame Ziel. So erschlossen wir eine bedeutende „ideelle“ Ressource.

Die Gebiete Prozessteuerung und wirtschaftliche Rechnungsführung wurden als Erstes in einer Organisationseinheit zusammengefasst. Eine Rechnerhierarchie mit Produktionsleitrechner und mehreren Anlagenrechnern aufgebaut, zunächst durch teilweise importierte Technik. Im Vordergrund standen solche Aufgaben wie Prozessüberwachung, Bestimmung optimaler Betriebsparameter, Störanalyse, Anlagenbilanzen, Werksbilanz, wissenschaftlich-technische Aufgaben. Das waren sehr anspruchsvolle wissenschaftlich-technische Aufgaben. Aufgrund der Ergebnisse bekam Schwedt die Leitfunktion für die Automatisierung in der chemischen Industrie.

Das Erdölkombinat Schwedt 1964
Das Erdölkombinat Schwedt 1964Imago/H. Blunck

Die 1960er: Theater und deutsch-sowjetische Freundschaft

Ende der 1960er-Jahre wurden durch einen Regierungsbeschluss zur Wissenschaftsorganisation in der chemischen Industrie und ein Regierungsabkommen mit der Sowjetunion zur Steuerung von Produktionsprozessen der erdölverarbeitenden und petrolchemischen Industrie weitere Automatisierungsakzente gesetzt. Ich erlebte bei der gemeinsamen konkreten Erarbeitung und Umsetzung von Lösungen deutsch-sowjetische Freundschaft in Aktion bis in die Familien. In Schwedt war ich Beteiligter an der Schaffung moderner Produktivkräfte für neues Volkseigentum, das dem Gemeinwohl zugutekam.

Viel Kraft und Durchhaltevermögen erforderte die Überwindung gewichtiger Hindernisse bei der Umsetzung einer so grundsätzlichen Aufgabenstellung für das gesamte Werkskollektiv. Als Parteigruppe entschlossen wir uns, eine Eingabe an das ZK der SED zu richten. Im Ergebnis der Überprüfung trug sie zu Veränderungen an der Spitze des Werks und der Parteiorganisation bei. Gemeinsam mit einem Schriftsteller wurde die Erarbeitung eines Theaterstücks in Angriff genommen. „Horizonte“ beleuchtete mit künstlerischen Mitteln die Hemmnisse bei der Überführung der Forschungsergebnisse in die Praxis. Durch das Arbeitertheater des PCK erfolgte die Einstudierung. Mithilfe des Regisseurs Benno Besson gab es auch eine Aufführung an der Berliner Volksbühne.

In den 1980er-Jahren, als eine drastische Erhöhung des Erdölpreises und Mengeneinschränkungen Raum griffen, mussten erhebliche Innovationen und damit Investitionen getätigt werden. Es ging um die Freisetzung in der Volkswirtschaft und tieferen Spaltung der Heizölkomponenten, um den wachsenden Bedarf an Kraftstoffen und Chemierohstoffen zuverlässig zu sichern. 1989 war das PCK als Errungenschaft des gesamten Werkskollektivs ein technologischer Vorzeigebetrieb. Und die Aktivitäten nach 1989 führten, wie das in dem hervorragenden Bild-Text-Band „Vom Vorzeigebetrieb zur Spitzenraffinerie – Die Geschichte der Erdölraffinerie in Schwedt/Oder“ dokumentiert wird, eben zur Spitzenraffinerie. Und das ist das PCK heute noch.

Mein zweites zu schilderndes Erlebnis steht im Zusammenhang mit der Ausarbeitung von Prognosen. Anfang der 1970er-Jahre waren Prognosegruppen auf gesamtstaatlicher Ebene für die verschiedensten Wissenschafts- und Wirtschaftsbereiche tätig. Mit einem großen Vorhaltewinkel, über den Planungszeitraum von fünf Jahren hinaus, sollte der Blick in die Zukunft fundiert werden. Für den Bereich Erdölverarbeitung/Petrolchemie ging es zum Beispiel um komplexe stoffwirtschaftliche Ketten über Kombinatsgrenzen und Wirtschaftsbranchen hinaus.

Gefragt war die geballte Ladung von Wissen und Erfahrung, die Konkretisierung der volkswirtschaftlichen Erfordernisse. Es ging um entsprechende Entscheidungsfelder, Analysen, Meinungen, Empfehlungen und begründete Vorschläge für gesamtstaatliche Entscheidungen. Gemeinsam berieten Wissenschaftler und Praktiker aller einschlägigen Fachgebiete, die Vertreter der zuständigen Staatsorgane, der Akademie der Wissenschaften, der universitären, außeruniversitären und betrieblichen Forschungseinrichtungen.

Die PCK-Raffinerie Schwedt
Die PCK-Raffinerie SchwedtImago/Jochen Eckel

„Kooperation war das vorherrschende Arbeitsprinzip“

Was ist mir im Gedächtnis geblieben? Kooperation war das vorherrschende Arbeitsprinzip. Das war möglich, weil Konkurrenz aufgrund privater Besitzverhältnisse keine Rolle spielte. Die personelle Zusammensetzung erfolgte allein auf Basis der Fachkompetenz und ungeachtet der Unterstellungsverhältnisse. Die Stimmung zeichnete sich durch Elan und Konstruktivität aus. Das Bemühen um einen unvoreingenommenen, kritischen Geist dominierte bei allem sachlichen Streit. Zufriedenheit ergab sich schon aus der Mitarbeit an wichtigen Zukunftsfragen. Die Organisation und die Wirkungsweise einer solchen Prognosegruppe beeindruckten mich in meinem damaligen jungen Alter stark. Auch das ist aktuell eine empfehlenswerte „ideelle“ Ressource, die allerdings nur funktioniert, wenn Kooperation und nicht Konkurrenz im Vordergrund steht.

Eine umfangreiche ehrenamtliche Betätigung über mehr als 20 Jahre, und das ist meine dritte episodenhafte Bemerkung, begann ich 1995 in der Beckmann-Kommission „Technikgestaltung und Bewertung“. Sie wurde als ehrenamtliches, selbstständiges Fachgremium 1992 durch ehemalige Mitglieder der Kammer der Technik (KDT) der DDR, gegründet. Inhaltliche Unterstützung erfolgte durch das Bundestagsbüro für Technikfolgenabschätzung. Eine finanzielle Förderung aus öffentlichen Mitteln konnte nie erreicht werden.

Ziel der Kommission waren wissenschaftliche Beiträge zur Unterstützung einer nachhaltigen Technik- und Technologiegestaltung beim sozial-ökologischen Umbau der Gesellschaft. So im Prozess der Ausarbeitung und Umsetzung der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung, der Energiewende und einem sparsameren Einsatz natürlicher Ressourcen in der Volkswirtschaft. Bestimmend war die komplexe, interdisziplinäre Arbeitsweise unter Nutzung der umfangreichen DDR-Erfahrungen in den Betriebssektionen der KDT.

Etwa 25 Technikwissenschaftler, Ingenieure, Betriebs- und Volkswirte, Umweltwissenschaftler, Hochschullehrer verschiedenster Wissenschaftsdisziplinen engagierten sich in dieser Richtung. Organisiert wurden jährlich vier Workshops mit jeweils 30 bis 50 Teilnehmern zu ausgewählten Schwerpunkten. Als eine der letzten Aktivitäten erwies sich die Vorlage eines Memorandums „Ingenieure für die Zukunft“. Bewertet wurde die Ausbildung zum Diplomingenieur im Vergleich zum Bachelor-/Masterabschluss. Eine nennenswerte inhaltliche Resonanz bei den Entscheidungsträgern unterblieb. Die Kommission löste sich aus Altersgründen im Herbst 2016 auf. Jahrelange, intensive Bestrebungen zur Verjüngung der Mitgliedschaft, vor allem durch Studierende von Berliner Technik-Hochschulen, blieben erfolglos.

Robert Habeck, Olaf Scholz und Dietmar Woidke (Ministerpräsident von Brandenburg) auf der Pressekonferenz zum Maßnahmenpaket für die ostdeutschen Raffineriestandorte und Häfen
Robert Habeck, Olaf Scholz und Dietmar Woidke (Ministerpräsident von Brandenburg) auf der Pressekonferenz zum Maßnahmenpaket für die ostdeutschen Raffineriestandorte und Häfen picture alliance/Michael Kappeler

Verzicht auf russisches Erdöl: Sorgen und Ängste durch aktuelle Politik

Als einer der im PCK-Kollektiv in den Anfangsjahren mit Begeisterung gewirkt hat, bin ich mit dem aktuellen Handeln der Regierung nicht einverstanden. Deutschland verzichtet übergangslos zum 31. Dezember 2022 auf russisches Erdöl. Nach fast 60 Jahren zuverlässigen Bezugs! Aufgrund der Eigentümerstruktur der Raffinerie und der konkreten logistischen Situation ist damit der technologisch sichere Betrieb der Verarbeitungsanlagen nicht möglich. Die Erhaltung des Standortes, die Bewahrung des technologischen Wissens und der Erfahrung einer hochqualifizierten Belegschaft, die Sicherung des Berufsnachwuchses sind die unersetzliche Grundlage für die Zukunft.

Stimmung und Reaktion, die Ängste vor Ort und in der Uckermark hat die RBB-Sendung „Jetzt müssen wir reden“ vor vier Wochen widergespiegelt. Die Treuhanderfahrungen Anfang der 90er-Jahre sitzen in Schwedt tief. Es gibt auch nach dem kürzlichen Kanzlerbesuch in Schwedt kein solides, tragfähiges Konzept für eine mehrjährige Übergangsperiode mit Erdöl, geschweige denn eine wirkliche Strategie für eine tatsächliche Transformation auf neuer Rohstoffbasis. Vordringlich ist also jetzt, die Rohölversorgung der Raffinerie zu sichern.

Mich hat tief berührt, dass eine Bürgerinitiative „Zukunftsbündnis Schwedt“ mit einer mutigen, konstruktiv denkenden Augenärztin und jungen Leuten, den Enkeln der Erbauer des EVW/PCK, mit Enthusiasmus und Kreativität für ihre Zukunft eintreten. Ich habe übrigens den Aufruf des Zukunftsbündnisses Schwedt „Ohne PCK läuft nichts“ unterschrieben. Als einer von aktuell mehr als 10000.

Ein Ruinieren Russlands ist auch in dieser Beziehung vollkommen fehl am Platze. Wo soll das denn hinführen! Die Geschichte lehrt und so komme ich auf den Beginn meines Beitrages zurück: Auch in einer grundlegend veränderten politischen Situation sind diplomatische Schritte, ist Dialog in Richtung Kooperation unserer Staaten alternativlos, für die Wirtschaft, die Kultur und vor allem die Verbindung zwischen unseren Völkern. Das ist meine persönliche Erfahrung, das gebietet das Vermächtnis des Zweiten Weltkrieges!

Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag freien Autorinnen und Autoren sowie jedem Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.