„You’ll never walk alone“, so laute das Motto dieser Regierung, verkündete Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) vor Kurzem in der Generaldebatte des Deutschen Bundestages über den Bundeshaushalt 2023. Niemand wird alleingelassen – dahinter verbirgt sich das Versprechen, dass der Staat allen Bürgerinnen und Bürgern angesichts hoher Inflation, explodierender Energiepreise und kriegsbedingter Verunsicherung umfassend und wirksam unter die Arme greift.
Entsprechend „wuchtig“, so die Ampelregierung, fällt das unlängst beschlossene dritte Entlastungspaket aus. Neben einer Strompreisbremse sowie einer Verschiebung der Anhebung des CO₂-Preises sind eine Erhöhung des Kindergelds wie auch des Kinderzuschlags, Einmalzahlungen für Studentinnen, Studenten, Rentnerinnen und Rentner, ein höheres Wohngeld sowie die Einführung eines Bürgergeldes vorgesehen. Die „kalte Progression“ im Einkommensteuertarif, in deren Folge Lohnerhöhungen bei hoher Inflation nicht bei den Beschäftigten ankommen, wird korrigiert. Für Unternehmen wird ein breiter, milliardenschwerer Rettungsschirm, wie schon zu Corona-Zeiten, aufgespannt.
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„Wir glauben an Freiheit, Unternehmergeist und Fair Play“
Gerade das Bürgergeld, mit welchem Arbeitslosengeld II und Sozialgeld abgelöst werden sollen, markiert einen eklatanten Bruch mit einer Sozialpolitik, die unter der Chiffre „Agenda 2010“ bekannt wurde. Im März 2003 stellte Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) sein radikales Reformprogramm mit diesen Worten vor: „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen. Alle Kräfte der Gesellschaft werden ihren Beitrag leisten müssen. (…) Niemandem wird künftig gestattet sein, sich zulasten der Gemeinschaft zurückzulehnen.“
Nicht ganz so unerbittlich, aber doch artverwandt klangen die Worte der neuen britischen Premierministerin Lizz Truss am Tag ihrer Ernennung in London: „Wir glauben an Freiheit, Unternehmergeist und Fair Play.“ Grundlage einer „aufstrebenden Nation“ seien niedrige Steuern, persönliche Verantwortung sowie die Möglichkeit der Menschen, ihr eigenes Leben zu gestalten.
Scholz will den Menschen Hoffnung geben
Olaf Scholz käme es nicht in den Sinn, solche Worte zu sprechen. Er, der den Wahlkampf 2021 mit drei zentralen Versprechen – 12 Euro Mindestlohn, 400.000 neue Wohnungen, keine Anhebung des Renteneintrittsalters – gewann, will, dass der Staat den Menschen Lasten abnimmt, sie vor größter Not bewahrt. Freiheit, Unternehmergeist oder persönliche Verantwortung kommen in seiner Diktion praktisch nicht vor.
Und das hat Gründe: Seit der Weltfinanzkrise von 2008 sehen sich die Bürgerinnen und Bürger durch eine nicht enden wollende Abfolge von Krisen erschüttert. Eurokrise, Flüchtlingskrise, Corona und nun der Krieg haben unsere Gesellschaft in einen Zustand weitreichender Erschöpfung versetzt. Mitunter breiten sich mit Blick auf den nahenden Winter und die nächste Gasrechnung Verzweiflung und pure Angst aus.
Scholz will den Menschen Hoffnung geben, sie bei der Stange halten. Auch will er verhindern, dass immer mehr Frustrierte sich abwenden und den Populisten am linken und rechten Rand ins Netz gehen. Hinzu kommt, wiederum ganz praktisch, die Landtagswahl in Niedersachsen Anfang Oktober: Würde Scholz jetzt „den Schröder machen“, bräuchte die SPD im Land zwischen Nordsee und Harz gar nicht mehr anzutreten.
Höhere Schulden machen es nicht besser
So weit, so verständlich. Und doch ist zweifelhaft, ob der Kanzler sein Versprechen auf Dauer wird halten können. Schon jetzt erreichen die insgesamt drei Entlastungspakete ein Gesamtvolumen von fast 100 Milliarden Euro. Dabei werden die Effekte insbesondere der Einmalzahlungen schnell verpuffen.
Beobachter sagen voraus, dass das vierte Entlastungspaket nur eine Frage der Zeit sei. Jedoch stößt der Staat schon jetzt an seine finanziellen Grenzen. Der Bundeshaushalt, den Finanzminister Christian Lindner (FDP) vorgelegt hat, quietscht an allen Ecken und Enden. Von den 445 Milliarden Euro Gesamtvolumen sind über 200 Milliarden Euro Sozialausgaben, Tendenz steigend. Der staatliche Zuschuss zur gesetzlichen Rentenversicherung hat die 110-Milliarden-Euro-Grenze überschritten.
Laut Bundesrechnungshof kann Finanzminister Lindner nur deshalb die Schuldenbremse einhalten, weil unter seinen Vorgängern aufgebaute Reserven aufgelöst und gewaltige Ausgaben in Schattenhaushalte weggedrückt werden. Höhere Schulden jedoch, wie von SPD und Grünen gefordert, machen es nicht besser.
Die Kreditkosten des Bundes werden aufgrund der Zinswende an den Kapitalmärkten dramatisch ansteigen, von vier Milliarden Euro im vergangenen Jahr auf fast 30 Milliarden in 2023. Jede neue Schuldenmilliarde bedeutet noch mehr Rückzahlungsverpflichtungen, damit aber auch weniger Gestaltungsspielräume für die nachfolgenden Generationen.
Im Moment haben soziale Gerechtigkeit und „Respekt“ Hochkonjunktur
Das Versprechen, niemanden alleinzulassen, muss deshalb keineswegs über Bord geworfen werden. Jedoch muss Olaf Scholz den Mut aufbringen, es bei nächster Gelegenheit zu korrigieren: „Wir stehen all denen bei, die sich nicht aus eigener Kraft helfen können“, wäre die ehrlichere Variante von „You’ll never walk alone“.
Künftige Unterstützungsprogramme sollten nicht pauschal mit der Gießkanne, gar an Spitzenverdiener, ausgereicht, sondern speziell auf diejenigen zugeschnitten werden, die nachweislich bedürftig sind: Arme und Alte, Kranke und Behinderte. Für sie ist der Sozialstaat im späten 19. Jahrhundert im Zuge der Industrialisierung, als die generationenübergreifenden Familiengemeinschaften sich auflösten, geschaffen worden. Die wirklich Schwachen im Land – auf sie sollte die Ampelkoalition sich fortan konzentrieren und ihre Hilfen dementsprechend nachschärfen.
Was übrigens auch zum ursprünglichen Dreiklang der Koalition passen würde. Diese versteht sich, siehe Koalitionsvertrag, als Bündnis für „Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“. Im Moment haben soziale Gerechtigkeit und „Respekt“ Hochkonjunktur. Die Freiheit des Einzelnen, es mit etwas Anstrengung vielleicht auch selbst zu schaffen, findet in der aktuellen Kommunikation des Kanzlers nicht statt. Auch die Wende in Richtung einer wirklich nachhaltigen Finanzpolitik ist noch lange nicht vollzogen.
Auf beiden Feldern besteht somit dringender Nachholbedarf. Derweil sollte Scholz an eine Tugend appellieren, die in länger andauernden Krisen – man denke an große Kriege oder Naturkatastrophen – noch immer am meisten bewirkt hat: unseren Gemeinsinn. Wann, wenn nicht jetzt, schlägt die Stunde der Zivilgesellschaft – der Nachbarschaftshilfen, der Spendenaktionen, der Vereine. Gerade in unserer hoch vernetzten, digitalisierten Gesellschaft können wir vor Ort vieles selbst lösen, konkrete Hilfe leisten und so unseren Staat vor der Überforderung bewahren. Keiner soll alleine laufen, genau! Aber wir dürfen das eigenständige Laufen auch nicht verlernen.
Hans Bellstedt ist Unternehmer und Lehrbeauftragter für Politische Kommunikation an der TU Berlin.
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