Meine Reise nach Israel: „Es fühlt sich jetzt normal an, jüdisch zu sein“
Junge Juden aus aller Welt können mit „Taglit Birthright“ kostenlos nach Israel reisen. Die Fotografin Hannah Herzberg hat es ausprobiert.

Im Flugzeug nach Tel Aviv habe ich noch schnell ein Bier getrunken. Das darf ich ab jetzt nämlich nicht mehr. So steht es in den Regeln, die wir von Taglit-Birthright bekommen haben. Die Organisation Taglit Birthright ermöglicht es jungen jüdischen Menschen zwischen 19 und 32 Jahren nach Israel zu reisen, um das Land kennenzulernen, und zwar kostenlos.
Keinen Alkohol trinken, stand da drin in den Regeln, und kein Verlassen des Geländes ohne Erlaubnis. „Meinst du, die meinen das wirklich ernst“, frage ich ungläubig eine Teilnehmerin aus der Gruppe, die neben mir im Flugzeug sitzt. Sie hat die Regeln erst gar nicht gelesen und zuckt mit den Achseln. Ich spiele schon jetzt mit dem Gedanken, die Regeln zu brechen. Wahrscheinlich habe ich mich zurück in einen Teenager verwandelt.
Unsere Gruppe ist Gruppe 11-4763. Wir sind die Seniorengruppe von Taglit. Die Teilnehmer sind nämlich alle schon so um 30 Jahre alt. Meine Reisegruppe besteht aus 21 Männern und Frauen. Sie sprechen untereinander überwiegend Russisch. Ihre Familien kommen ursprünglich aus der ehemaligen Sowjetunion, also der Ukraine oder Russland.
Ich erzähle, dass ich in Deutschland geboren bin. Nun werde ich mit großen Augen angeschaut. Es gibt noch einen jungen Mann aus Georgia (USA), der in Berlin lebt, und eine junge Frau aus Mexiko, die in Karlsruhe lebt. Gemeinsam bilden wir eine neue Gruppe, wir sind die nicht russischsprachigen Juden, sozusagen.
In der Schule hab ich nicht erzählt, dass ich jüdisch bin
Ein geräumiger Bus bringt uns nach Tiberias, eine kleine Stadt am Westufer des Sees Genezareth. Neben dem Hotel steht ein riesiger Davidstern. Sehr diskret, denke ich mir, und kann es kaum glauben, dass der hier einfach so herumsteht. Am zweiten Tag in Tiberias spielen wir ein Spiel. Zu verschiedenen Aussagen auf einer Skala von eins bis zehn sollen wir uns einordnen. Eine Aussage lautet: „Ich spreche offen über mein Jüdischsein.“
Bei dieser Aussage erzähle ich von meinen Erfahrungen aus der Schulzeit: „In der Schule ist es mir schwergefallen, über mein Jüdischsein zu sprechen. Soweit ich mich erinnern kann, habe ich es gar nicht erzählt. Ich wollte nicht auffallen und schon überhaupt gar nicht damit. Als das Thema Nationalsozialismus im Unterricht behandelt worden ist, habe ich mich alleine gefühlt, weil niemand die gleichen Erfahrungen hatte wie ich und ich darüber auch nicht offen sprechen wollte. Meine Familie musste Deutschland verlassen und wir haben Angehörige im Holocaust verloren.“
Es fühlt sich gut an, in diesem geschützten Raum darüber sprechen. Die Möglichkeit, sich „unsichtbar“ zu machen, also „weißsein“, sei ein enormes Privileg, schreiben Judith Coffey und Vivien Laumann in ihrem Buch „Gojnormativität“ – zur „Unsichtbarkeit“ aber verdammt zu sein, sei keins.
Zur Vorbereitung auf Yad Vashem, das Holocaust-Museum in Jerusalem, sprechen wir am nächsten Tag noch einmal über die Schoah. Ein Teilnehmer muss weinen und verlässt den Raum. Judentum ist nicht nur Holocaust, aber das Thema lässt sich auch nicht ausklammern.

Auch hier muss wieder jemand weinen
Der Regen hört endlich auf und die Sonne kommt raus. Genau so hatte das Annalena Baerbock nach ihrem Yad-Vashem-Besuch auf Instagram gepostet. Nachdem die Außenministerin für ihre Aussage einen Shitstorm erhalten hatte, musste sie den Post wieder löschen. Aber ich darf das sagen.
Nun bekommen wir einen jungen Israeli zugeteilt. Ganze drei Tage begleitet er uns durch Jerusalem. Er hat lockiges, braunes Haar, ist schmächtig gebaut. Er soll unser Ansprechpartner sein, wenn es um Fragen rund um das Leben in Israel geht.
Ich frage ihn während des Frühstücks, wie sein Verhältnis zur Armee sei. Es sei eine Erfahrung, die alle Juden in Israel machen müssen. Das verbinde untereinander und man bekomme eine stärkere Bindung zu dem Land, erzählt er mir. Nur die orthodoxen Juden in Israel gingen nicht zur Armee. Ohne die Armee würde der Staat Israel nicht existieren.
Am Nachmittag besuchen wir den Soldaten-Friedhof Herzlberg in Jerusalem. Auch hier muss wieder jemand weinen. Diesmal ist es unser Reiseleiter. Er erzählt von einem Freund, der während eines Anschlags in Israel gestorben ist. Bei einer Pinkelpause auf der Rückfahrt, kurz vor Bersheeba, sehe ich junge Soldat:innen bei McDonalds. Als sei es das normalste der Welt, tragen sie ihre Maschinengewehre bei sich.
Mein bester Freund auf dieser Reise ist Grant. Er erzählt mir von seiner jüdischen Mutter in Georgia. Sie sei zu ängstlich, um nach Israel zu reisen. Zu gefährlich sei das Land, und sie mache sich große Sorgen, dass ihm etwas passiere. Nachher müsse er noch mit ihr telefonieren, damit sie etwas beruhigter sei. Übervorsorglich ist sie und benimmt sich wie die typische jüdische Mutter. Er sendet ihr ein Bild von sich in der Wüste auf WhatsApp. Damit sie sieht, dass es mir gutgeht, sagt er.
Dieses Gespräch über die „jüdische Mutter“
Dieses Gespräch über „die jüdische Mutter“, führe ich an diesem Tag gleich zweimal. Das Klischee stimmt also doch, sage ich. Nur das meine Mutter nicht so ist. Die ist ganz anders.
Abends treffen wir auf eine andere deutsche Taglit-Gruppe. Gemeinsam kochen wir und bekommen ein Getränk gereicht, das bitter und süß zugleich schmeckt. Man erklärt uns: „Das ist ein Symbol für das Leben.“
Endlich fahren wir wieder zurück nach Tel Aviv. Da wollte ich die ganze Zeit hin. Die Stadt macht auf mich den Eindruck, als hätte jemand eine Stadt in der Zukunft erbaut. Ich will hier nicht wieder weg. Moderne und alte Gebäude reihen sich aneinander. Die Menschen bewegen sich schnell, haben AirPods in den Ohren und machen Sport am Strand. Es fehlen nur noch Raumschiffe, die durch Luft schweben. Nur wir fahren mit alten, klapprigen Fahrrädern durch die Stadt.
Jemandem aus unserer Fahrrad-Gruppe platzt der Fahrradreifen. Einige Menschen ducken sich, ängstliche Gesichter ringsherum. Jetzt erst wird mir bewusst, dass sich das Platzen des Reifens wie ein Schuss angehört haben muss. Im Hotel erfahre ich dann, dass wirklich jemand geschossen hat. Bei einem Anschlag nahe Tel Aviv sind fünf Menschen getötet worden.

Tel Aviv, die teuerste Stadt der Welt
Grant und ich bleiben trotzdem noch länger in Tel Aviv. Er hat sich ein Zimmer via Airbnb gemietet. Der Vermieter arbeitet bei Google. Ich frage mich, warum er seine Wohnung vermieten muss, wenn er bei Google arbeitet, und erfahre schließlich, dass man in Tel Aviv vor allem in der IT-Branche Geld verdienen kann.
Wir besuchen eine Gay-Party in Tel Aviv. Grant erzählt mir, dass er darüber nachdenkt, längere Zeit in Tel Aviv zu leben. Er passe hier super rein, sage ich zu ihm und schaue zur Tanzfläche, den tanzenden Männern zu.
Da ich jetzt wieder Bier trinken darf, bestelle ich eins an der Bar. Das Bier kostet umgerechnet 9,50 Euro. Laut Bericht von Economist ist Tel Aviv die derzeit teuerste Stadt der Welt. Ich würde liebend gerne noch länger in Tel Aviv bleiben, aber mir geht so langsam das Geld aus.
Woran liegt es, dass alles in Israel so teuer ist? Weil jeder Israel hasst, das Land ist umgeben von Feinden. Niemand will mit Israel handeln, erklärt man mir. Und dennoch: Ich will nicht zurück ins nassgraue Berlin. Ich mag es hier.
Am Ende der Reise frage ich mich, ob ich mich jetzt jüdischer fühle? Ich fühle mich nicht jüdischer als vorher. Es fühlt sich nur normal an, jüdisch zu sein.

Hannah Herzberg ist Fotografin, lebt in Berlin und wurde in Berlin auch geboren. Sie studierte von 2009 bis 2012 an der Bauhaus-Universität in Weimar Media & Art, anschließend Fotografie an der Ostkreuzschule.
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