Schreiben als Therapie – wie können wir unsere Gefühle verarbeiten?

Schon immer hat unser Autor gern geschrieben. Er findet: Der Prozess des Schreibens hilft uns, besser mit unserer Gefühlswelt umzugehen.

Der innere Schreiber
Der innere SchreiberWestend61/imago

Kann Schreiben uns dabei helfen, unsere Gefühle zu verarbeiten? Allen Anzeichen nach ist das der Fall. Immerhin hatten die Badischen Neuesten Nachrichten schon Ende 2020 ihren Lesern geraten, gegen den Corona-Blues lieben Menschen einen Brief zu schreiben.

Schon immer habe ich gerne geschrieben und auch gelesen. Ende letzten Jahres fiel mir ein Buch in die Hände, das eine wichtige Lücke für mich füllte, und zwar die zwischen Therapie und Schreiben. Als Therapieerfahrener und gelernter Krankenpfleger habe ich zuvor schon vieles darin Beschriebene instinktiv praktiziert. Nun hatte ich endlich die Erklärung gefunden, warum es auch funktioniert, also therapeutisch sinnvoll und wirksam ist.

Die Rede ist von Jürgen vom Scheidts Klassiker „Kreatives Schreiben – Wege zu sich selbst und zu anderen“ aus dem Jahr 1989, der seither viele Neuauflagen erlebt hat. Der Psychologe und Autor geht von der Erkenntnis Freuds aus, dass der Neurotiker, also der „normale“ Mensch von heute, an seinen Erinnerungen leide, die – fatalerweise – vom bewussten Erleben gewissermaßen ausgesperrt bleiben. Üblicherweise werden sie verdrängt, wofür das Unbewusste viel Kraft aufwendet, was Freud „Widerstand“ nannte.

Einfach losschreiben? Einfacher gesagt als getan.
Einfach losschreiben? Einfacher gesagt als getan.Grazvydas J./imago

Diesen Widerstand gilt es aber nicht zu brechen, sondern zu akzeptieren, und vor allem ihn sich genauer anzuschauen und zu erforschen. Denn der Widerstand enthält in komprimierter Form die wesentlichen Details der verdrängten Inhalte. Beispielsweise neurotische Herzstörungen, von denen bereits der Volksmund weiß, dass mit der „Herzlichkeit“, also mit dem Gefühlsleben und den Beziehungen des Betroffenen zu ihm nahestehenden Menschen etwas nicht in Ordnung ist. Oder Kopfschmerzen, die auch mich immer mal wieder heimsuchen, bei denen man davon ausgehen kann, dass sich die Person über etwas „den Kopf zerbricht“, dessen Hintergrund sie nicht kennt beziehungsweise nicht bewusst wahrnimmt.

Erinnern – Wiederholen – Durcharbeiten

Dass beim Schreiben oftmals dieselben seelischen Abläufe eine Rolle spielen wie bei einer Freud’schen Psychoanalyse hatte ich in dieser Klarheit vorher noch nicht gelesen. Diese Abläufe sind das Erinnern, das Wiederholen und das Durcharbeiten, wobei der Vorgang des Erinnerns das wichtigste Element für das Schreiben ist.

Auch ich habe mich schon darüber gewundert, dass die Psychoanalyse sich so auf das „reine Sprechen“ versteift. Denn Freud hat beispielsweise selbst nie eine Therapie bei jemand anderem gemacht. Seine Selbstanalyse war das Selbstgespräch, und zwar das schriftliche Selbstgespräch. Er tat damit etwas, das Schriftsteller schon lange vor ihm getan haben, und zwar durch das Aufschreiben gewissermaßen einen Teil ihrer Persönlichkeit aus sich heraus verlegen – auf Papier. Genau dasselbe macht, wer Tagebuch führt, einer Person seines Vertrauens einen Brief schreibt oder persönliche Probleme in einer erfundenen Geschichte darstellt.

Das bewusste Erinnern empfiehlt sich auch zur Vermeidung von Unfällen im Straßenverkehr. Das sage ich auch als ehemaliger Berliner Taxifahrer, aber nicht nur. Denn Jürgen vom Scheidt erklärt in seinem Buch, dass „ein hoher Prozentsatz insbesondere der tödlichen Unfälle – gut ein Viertel – geschieht, weil der Unfallverursacher von ganz anderen Bewusstseinsinhalten, nämlich Erinnerungen, absorbiert ist“. Auch unser Alltag mit seiner Reizflut ist dem Erinnern alles andere als zuträglich.

Praktisch nur im Traum können Erwachsene noch ungehindert in die Tiefe sinken. Tiefe und Intensität erleben eigentlich nur noch Kinder. Mit zunehmendem Alter schließen wir immer mehr Kompromisse, leider auf Kosten der Intensität unseres Gefühlslebens. Wir nehmen damit Abschied von unserer seelischen Tiefe, was sich auch mit meinen Beobachtungen deckt. Dies hat einen hohen Preis, und zwar eine Oberflächlichkeit, die schließlich zu Langeweile und irgendwann zum Gefühl der Sinnlosigkeit führt.

Mit dem Schreiben als Erinnern wiederholt man die früheren Ereignisse. Es ist ein Weg zurück in die Tiefe, den auch ich lernen musste. Die alten antrainierten Themen und Denkmuster muss man dazu allerdings über Bord werfen und sich ganz dem überlassen, was von innen, aus dem Unbewussten an Gedanken und Bildern ins Bewusstsein steigt. Mögen sie zuerst auch nur tröpfeln, so kann daraus mit der Zeit ein Bach werden, der immer munterer zu sprudeln beginnt.

Der innere Schreiber

Manches Bachbett ist allerdings so verstopft, dass man länger dazu braucht, um es vom Unrat zu befreien. Nicht immer ist dies ohne Hilfe eines Therapeuten möglich. So war es auch bei mir. „Schreiben Sie, aber schreiben Sie für sich!“, war dabei der wichtigste Rat, den man mir mit auf den Weg gab, und den ich seither zu beherzigen suche.

Idealerweise findet man in sich selbst einen inneren Schreiber, der eine ähnliche Rolle wie die des Therapeuten übernimmt. Der virulente Ängste, Schuldgefühle und Abwehrmechanismen aus Kindheitstagen mildert, die dem Erinnern im Weg stehen. Mann kann das, was Freud „freies Assoziieren“ nannte, mit der Improvisation beim Musiker vergleichen. Also das ungehinderte Fließen und lockere Sprudeln von Einfällen, die das leere Blatt des Schreibenden füllen.

Dieses lässt sich lernen, es bedarf dafür aber einer gewissen Angstfreiheit und ein Mindestmaß an Mut. Mut zum Fallenlassen, um in den inneren Abgründen fündig zu werden, sowohl von Erinnerungen als auch von neuen Einfällen, was leichter gesagt als getan ist.

Tagebuch führen ist wie ein schriftliches Selbstgespräch.
Tagebuch führen ist wie ein schriftliches Selbstgespräch.Westend61/imago

Dieses Erinnern beim Aufschreiben ist auch für mich oftmals sehr leidvoll. Regelmäßig muss ich dabei an die Frage Nietzsches denken, welches Kind nicht Grund hätte, über seine Eltern zu weinen? Das Aufdecken verdrängter unbewusster Inhalte ist stets mit Angst verbunden. Denn die Angst war es ja gerade, weshalb man zu einem früheren Zeitpunkt bestimmte Erlebnisse nicht verarbeiten konnte und verdrängte.

Das ist die Parallele zur Psychotherapie und auch der Grund, dass auch ich es am liebsten sein lassen würde. Jetzt versteht man besser, warum nicht jeder nur mit Vergnügen schreibt. Sich schreibend zu erinnern, bedeutet, all das noch einmal zu erleben, was einem in der Vergangenheit Schmerzen zugefügt hat.

Es ist aber eine uralte Erfahrung, älter als die Psychotherapie, dass nur die Annahme des Schmerzhaften den Weg frei macht für die Erinnerungen angenehmerer Art. Mir hilft es, die Dinge mit Humor zu nehmen, am besten wie ein Clown, der genau dann am komischsten ist, wenn ihm die Tränen der Verzweiflung über seine scheinbar hoffnungslose Situation in den Augen stehen, also wenn er eigentlich unsäglich leidet.

Das Aufschreiben des Erlittenen ist gleichzeitig der zweite therapeutische Schritt nach dem Erinnern, den Freud „Wiederholen“ nannte. Im Unterschied zum „normalen“ Patienten, dessen leidvolle Erfahrungen zu körperlichen und seelischen Symptomen führen, legt der Schreibende den Zusammenhang zwischen diesen und dem ihnen zugrunde liegenden verursachenden Leid im Wiedererinnern auf dem Papier frei. Wer schreibt, kann so zum Deuter seiner eigenen Erfahrungen werden, im glücklichsten Fall sogar Deuter und Sinngeber seiner gesamten Existenz. Manchmal auch der Existenz anderer Menschen, wie ich beim Zuhören fremder Geschichten erfahren durfte.

Zusammenhänge freilegen

Dem Erinnern und dem schreibenden Wiederholen folgt, angelehnt an die Therapie, das Durcharbeiten, was ich auch mit diesem Artikel getan habe. Dies geschieht beim Überarbeiten eines Textes, den man zuvor, spontan und dem Fluss seiner freien Einfälle folgend, einfach mal dahingeschrieben hat. Dieses Arbeiten am Text verlangt aber auch handwerkliches Geschick. Und hier steht sich der Schreibende oftmals selbst im Weg, wenn er beispielsweise zu hohe Anforderungen an seine gestalterischen Qualitäten stellt. Denn allzu strenge Selbstkritik erstickt den schöpferischen Prozess im Keim.

Heute spielt sich dieser Vorgang in erster Linie im seelischen Innenraum des Autors ab. Hinzu kommt, dass der innere Dialog, also die schöpferische Überarbeitung des Textes, und die Veröffentlichung getrennt voneinander sind. Die Reaktion des Gegenübers, also von Ihnen als Leser, erfolgt, wenn überhaupt, erst sehr zeitverzögert.

Auch beim Schreiben dieses Textes war keinesfalls klar, dass er auch veröffentlicht wird. Das war nicht immer so. Früher teilte man als Autor seine Geschichten durch das Erzählen, beispielsweise seiner Abenteuer oder auch von Märchen, zeitgleich mit anderen. Dies war immer auch ein intensives, gefühlsgeladenes zwischenmenschliches Miteinander.

Durch das gemeinsame Schreiben in einer Gruppe, die zum Co-Autor und zur „selbstgewählten Familie“ wird, kann man sich eine vergleichbare Situation selbst schaffen. Vom Nutzen und der heilenden Wirkung der Gruppenarbeit oder auch nur zu zweit bin auch ich fest überzeugt. Denn der Schreibende braucht ein frühes Echo, kreative Kritik, ein deutliches, ehrliches und auch emotionales Feedback. Die Gruppe wird für ihn zu einer Art Familie, zur „nährenden Mutter“, die ihn mit Anregungen und Einfällen versorgt und gleichzeitigt einen Schutzraum bietet, sich zu entfalten.

Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten
Erinnern, Wiederholen, DurcharbeitenLaurent Davoust/imago

Die Gruppe kann darüber hinaus Vater, Bruder, Schwester, Großvater und vieles mehr sein. Im Gegensatz zur Ursprungsfamilie, in die man hineingeboren wurde, ist die „selbstgewählte Familie“ eine Familie, die man sich selbst ausgesucht hat. Sie ist damit immer noch keine ideale Familie, aber sie hat zwei Vorzüge, die man nicht unterschätzen sollte. Man hat sie sich bewusst ausgesucht. Und man kann sie jederzeit verlassen, um eine neue, vielleicht sogar besser geeignete Familie zu wählen.

Vielleicht lässt sich auch noch ein besser geeignetes Buch zum Thema „Schreiben als Therapie“ finden. Ich habe so einige Bücher zu diesem Thema gelesen und kann sagen, dass „Kreatives Schreiben – Wege zu sich selbst und zu anderen“ von Jürgen vom Scheidt für mich das bisher beste ist.

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