Vor sechs Monaten überfiel Russland die Ukraine. Die europäische Sicherheitsarchitektur, fußend auf der UN-Charta, der Schlussakte von Helsinki, der Charta von Paris, der Nato-Russland-Grundakte und zahlreichen weiteren völkerrechtlichen Abkommen, liegt in Trümmern. In Europa sterben im Jahr 2022 wieder täglich Menschen durch Kriegshandlungen. Putin setzt seine Truppen und Söldner auch massiv gegen die Zivilbevölkerung und politische Gegner ein und begeht so reihenweise Kriegsverbrechen. Im eigenen Land wird die Meinungsfreiheit brutal unterdrückt.
Wie konnte es so weit kommen? Vor 25 Jahren hatte Putin vielleicht tatsächlich die Absicht, ein modernes Russland zu schaffen, das neben der EU und dem Westen bestehen kann. Die Voraussetzungen waren gut. Europa und die G7 waren zur Partnerschaft bereit. Russland hat enorme Rohstoffschätze, die einen leichteren Ausstieg aus der kommunistischen Planwirtschaft ermöglichen hätten können als anderen ehemaligen Sowjetrepubliken.
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Doch Putin dürfte sehr schnell klar geworden sein, dass es Demokratie ohne Freiheit der Medien und Unabhängigkeit der Justiz nicht geben kann. Genau diese Art von Transparenz aber gefährdet sein korruptes Herrschaftsregime – denn Selbstbedienung an den Schätzen des Landes ist für ihn und seine Freunde und Unterstützer der Kitt, der das Machtgefüge zusammenhält.
Also startete er für Russland den Versuch eines pseudodemokratischen, illiberalen Weges als Alternative zu unseren vielfältigen Gesellschaften. Unser freiheitliches Gesellschaftsmodell sei überlebt und unpatriotisch, tönt es seitdem von den eifernden Moderatoren von RT und sputnik, allesamt auch Manipulatoren der deutschen Öffentlichkeit. Ein Teil dieses Propagandanetzwerks ist die AfD, die seine Lügen von der angeblichen Verderbtheit unseres Staates und der vermeintlichen Ungerechtigkeit des Westens gegenüber Russland gerne wiederkäut.
Putin ist wirtschaftlich und politisch gescheitert
Putins illiberaler Staat war angetreten als nationalbewusstes, effizienteres Staatswesen, das dem Westen eines Tages den Rang ablaufen und zumindest im ehemaligen Ostblock Attraktivität besitzen sollte. Er ist wirtschaftlich und politisch gescheitert. Russlands riesige Rohstoffschätze konnten Russlands Mangel an Technologie, Unternehmertum und Rechtssicherheit nicht ersetzen. Die Wirtschaft schwächelte, gelähmt durch Korruption, bereits vor der Verhängung von Sanktionen. Nur mit brutaler Unterdrückung gelingt es, die öffentliche Meinung zu manipulieren.
Das russische Vorbild hat im Vergleich zur westlichen Demokratie keine Anziehungskraft. Praktisch alle früheren Sowjetrepubliken oder Staaten des Warschauer Paktes wenden sich von Russland ab: Die Menschen in den Baltischen Staaten, in Georgien, in der Ukraine, in Moldau, zuletzt im August 2020 die Menschen in Belarus. Selbst in den Diktaturen Zentralasiens will man dem russischen Vorbild nicht folgen: Bei einem Treffen am 26. August sprach der kasachische Präsident mit seinem aserbaidschanischen Amtskollegen entgegen jahrelanger Übung demonstrativ Kasachisch und nicht Russisch.
Der Tag, an dem auch die Menschen in Russland erkennen, dass ihr Kaiser keine Kleider anhat, rückt für Putin immer näher. Er greift zum Werkzeug aller Diktatoren in der Endphase ihrer Macht: Zu Gewalt im Inneren und nach außen. Damit will er Macht und Größe erzwingen, die politisch nicht zu erringen ist. In dieser äußerst gefährlichen Phase des Verglühens von Großmacht, zu der auch die völlige Überschätzung der eigenen Möglichkeiten gehört, befinden wir uns derzeit. Es ist schwer einzuschätzen, was die Ukrainer und wir alle noch zu ertragen haben.
Sanktionen sind der einzig realistische Ausweg
Auf einen ehrlichen dauerhaften Frieden wird sich Putin angesichts der prekären Lage, in der er sich befindet, jetzt nicht einlassen. Es wäre sein sicheres Ende. Ein Frieden nach russischem Diktat hingegen würde ihn nur ermutigen, bald wieder für eine neue Attacke auf den Westen aufzurüsten. Dann wären zunächst erneut die Ukraine, später Georgien, Moldau und das Baltikum – und damit die Nato – Ziel seiner Aggression.
Uns bleibt als einzig realistischer Ausweg, Putin durch wirtschaftliche Sanktionen und militärischen Druck der Ukraine an einen Punkt zu bringen, an dem für ihn die Fortsetzung des Krieges riskanter ist als ernsthafte Friedensverhandlungen.
Putin spekuliert, dass er uns in Deutschland und Europa über die Energiefrage ins Wanken bringt. Wenn wir nun Stimmen nachgeben, die auf ein Einlenken drängen, etwa der Wolfgang Kubickis, hat Putin vielleicht doch noch Erfolg. Wenn wir jedoch den Winter klug und solidarisch durchstehen, bestehen gute Chancen, dass der Krieg Russlands gegen die Ukraine spätestens im nächsten Frühjahr zu Ende ist, weil sich die gegen uns gewendete Energie-Waffe als stumpf herausstellt.
Jürgen Hardt ist außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
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