Behördenchaos: Was man erlebt, wenn man das neue „Berlin Ticket S“ benötigt
Der Berlin-Pass wurde abgeschafft. Unser Autor, selbst armutsbetroffen, kritisiert: Das Ersatzverfahren für ermäßigte Eintritte und Fahrkarten ist unzureichend.

Ich schreibe diesen Text als armutsbetroffener Mann, stellvertretend für alle finanziell schwachen Menschen in Berlin. Einige von uns sind im Stadtbild deutlich sichtbar und können nicht mehr ignoriert werden. Dies sind die allerärmsten Menschen. Ohne Wohnung hausen sie im Freien und die Geflüchteten in Sammelunterkünften, manchmal auf 3 Quadratmetern pro Person. Die meisten von uns Armen sind jedoch unsichtbar. Es sind Arbeitslose, Minijobber, Aufstocker, Rentner oder BU-Rentner oder einfach nur arme oder kranke Menschen. Aber dieser Personenkreis hat meistens zumindest (noch) eine Wohnung und zusätzlich die Grundsicherung von circa 503 Euro pro Monat zum „Leben“.
Mit diesen Zeilen möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass auch in Berlin hinter jedem der circa 500.000 Bezieher von Bürgergeld mindestens ein Mensch steht. Ein Mensch mit Gefühlen und einer Restwürde. Eben diese Menschenwürde wird immer öfter in Abrede gestellt, offensichtlich weil wir angeblich nichts mehr leisten und als Konsumenten für den Überwachungskapitalismus uninteressant und nicht mehr zu gebrauchen sind. Unnütz, ausgesondert, lästig.
Einschlägige Medien hetzen sogar pauschal gegen uns. Dort werden wir als Schmarotzer, Faulpelze, Tunichtgute oder Wirtschaftsflüchtlinge diffamiert. Natürlich möchte kaum jemand mit solchen Menschen zu tun haben oder gar selbst dazugehören. Die Angst, als arm stigmatisiert zu werden, scheint riesig zu sein. Wenn es doch so ist, wird es geleugnet, denn unnütz beziehungsweise auf staatliche Unterstützung angewiesen zu sein, gilt als der vielleicht größte Makel. Das brauche ich wohl niemandem erklären.
Scheinbar instinktiv verhalten sich die meisten Menschen folgerichtig. Sie schämen sich, werden depressiv, bleiben zu Hause und isolieren sich. Dort sitzen sie viel zu oft und viel zu lange einen Winter lang alleine, oft mit unterdessen gedrosselter Heizung und ohne Licht vor dem Fernseher. Etwas anderes können sie sich ohnehin nicht leisten. Und ihr Winter ist lang. Oft für den Rest ihres Rentnerlebens.
Um hin und wieder doch der Einsamkeit entfliehen zu können, gab es bis Ende 2022 den sogenannten Berlinpass. Damit konnte man sich bisher bei Veranstaltungen, im Theater oder im Schwimmbad ausweisen, um seinen Anspruch auf eine Ermäßigung geltend zu machen. Dieser Ausweis wurde nach der Vorlage eines entsprechenden Leistungsbescheides von den Bürgerämtern einfach und unbürokratisch ausgestellt. Während der Pandemie jedoch ausnahmslos schriftlich – ohne Publikumsverkehr. Bei der Umstellung auf das Bürgergeld wurde von der Verwaltungsbehörde diese temporäre Vorgehensweise offensichtlich als Vorlage genommen, um diesen lästigen Verwaltungsakt endgültig ganz loszuwerden.
Mit Hand geklebte QR-Codes statt Berlinpass
Die Umstellung auf das Bürgergeld steckt bis jetzt in einer „Übergangsphase“ fest, die alle Berechtigten ohne weitere Informationen lässt. Offensichtlich gab es einen viel zu kurzen Vorlauf, um den betroffenen Personenkreis zu informieren und die notwendigen Änderungen in der Verwaltung durchzuführen. Die Infos in den Medien müssen reichen. Auch die dort angekündigten, neuen „Berechtigungsnachweise“ der Bürgerämter sind bis heute nicht bei allen Berechtigten angekommen. Und wenn doch, dann funktionieren diese auf der entsprechenden Homepage der BVG oft nicht.
Soll heißen: Viele Grundsicherungsberechtigte warten auf ein Schreiben, auf welchem von den Mitarbeitern des Amtes zuvor „händisch“, also per Hand, ein QR-Code aufgeklebt worden ist. Dieser individuelle Code soll zusammen mit den Daten des Personalausweises, des Leistungsbescheides der Leistungsbehörde und einem Foto auf der entsprechenden Internetseite der BVG eingescannt und hochgeladen werden. Wer dazu nicht in der Lage ist, ist schon mal raus, denn es ist derzeit der einzige Weg, um an eine VBB-Kundenkarte zu kommen. Ab dem 01.04.2023 soll es dann auch einen schriftlichen Papierweg geben, wenn es kein Aprilscherz ist. Stellt man den Antrag dann ab dem 1. April schriftlich, ist man bis zur Bearbeitung der BVG ganz ohne gültigen „Berechtigungsnachweis“.
Die Bearbeitung der Online-Anträge seitens der BVG nimmt dann wiederum Zeit in Anspruch. Man wartet also und in dieser Zeit fragt man sich, was gerade die BVG zu so einer – vom Datenschutz wohl kaum gedeckten – Stellvertreter-Aufgabe berechtigt, warum sie dafür ausgewählt worden ist und warum sie diese so bereitwillig übernimmt. Als hätte die BVG nicht genug mit sich selbst zu tun.
Die Berliner Bürgerämter sind bekanntermaßen durch den massiven Stellenabbau seit 2001 (arm, aber sexy) vollkommen überlastet. Haben sie vielleicht gegen diesen Verwaltungsakt rebelliert? Das könnte naheliegen. Nun müssen sie jedoch stattdessen eine Wahlwiederholung und die Handarbeit des QR-Codes stemmen. Und das dauert eben. Aus dem einfachen Ausstellen des bisherigen Nachweises ist ein datenschutzrechtlich bedenkliches, behördliches und vor allem vollkommen überflüssiges Wirrwarr mit einem großen Aufwand entstanden.
Das Resultat: Wirrwarr mit großem Aufwand
Aber dies ist nur ein weiteres sehr typisches Beispiel vom Durcheinander in der Berliner Verwaltung. Niemand möchte die Verantwortung tragen. Wer zerschlägt nur endlich den Gordischen Knoten in der Verwaltung, anstatt diese immer mehr zu verkomplizieren. Jetzt sollen sich die bedürftigen Bürger bei der BVG legitimieren und sensible Daten preisgeben? Ja, sitzen denn im Senat von Berlin und den Behörden keine Fachleute, die dieses datenrechtlich unhaltbare Dilemma im Vorfeld hätten erkennen sollen; ja hätten erkennen und stoppen müssen? Aber Bürokratie schafft sich selbst niemals ab, das ist Gesetz. Und so wächst das Krebsgeschwür Bürokratie weiter und immer weiter.
Ein Telefonat mit den zuständigen Datenschützern in Moabit brachte mir die Erkenntnis, dass dort viele gut bezahlte Mitarbeiter sitzen und ohnmächtig auf die Antworten der verschiedenen beteiligten Behörden warten. Und dies teilweise bereits schon seit über einem halben Jahr. Der betreffende Mitarbeiter bestätigte meinen Eindruck von der Unrechtmäßigkeit der derzeitigen Einbindung der BVG in diesen Akt. „Immerhin haben wir erreicht, dass man alle Daten bis auf den Namen auf dem Personalausweis schwärzen darf“, teilte mir dieser Herr mit. Er erschien mir ziemlich hilflos und – zumindest in dieser Angelegenheit – sehr machtlos zu sein.
Könnte es sein, dass dies genau das Grundproblem unserer Verwaltung darstellt? Zu viele Beteiligte und Unbeteiligte mit zu vielen unklaren Vorgaben und/oder zu wenigen Kompetenzen warten und warten. Warten in gut geheizten Büros. Auch ein Leben lang. Aber immerhin in einem festen, gut bezahlten, unbefristeten und unkündbaren Arbeitsverhältnis. In der heutigen Zeit der Jackpot.
Ich mutmaße und wünsche mir als Betroffener, dass die Wiederkehr des alten Berlinpasses bevorsteht. Dies wäre wohl die einfachste Lösung. Aber wir sind in Berlin. Einfach? Doch nicht mit uns – den Unsichtbaren.
Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag freien Autorinnen und Autoren sowie jedem Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.
Dieser Beitrag unterliegt der Creative Commons Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nicht kommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.