System ohne ideologische Grenzen: Ist Integralmedizin die Medizin der Zukunft?
Die Vertreter der Integralmedizin sind überzeugt, dass ihr Ansatz eher zum Heilungserfolg führt als der klassische. Doch es gibt Widerstand und Skepsis.

„Alles hat mit allem zu tun“ – das hört man öfter von Ärzten aus dem Bereich der Integralmedizin. Und es klingt logisch. Kein Organ des Körpers arbeitet autonom, alles ist verbunden. Aber für was steht dieses medizinische System konkret?
„Integralmedizin ist eine Medizin ohne ideologische Grenzen. Vordergründiges Ziel des Therapeuten ist die Wiedergesundwerdung des Patienten, mit allen Mitteln, ohne Berücksichtigung östlicher oder westlicher Dogmen“, erklärt der Heilpraktiker für Psychotherapie Abbas Schirmohammadi. Die sogenannte Integrative Medizin sei fester umrissen, ergänzt er sogleich, sie kombiniere „das Beste aus Schulmedizin und Komplementärmedizin. Vordergründiges Ziel ist die individuell beste und möglichst nebenwirkungsarme Therapie für den Patienten. Sie greift die individuellen Ressourcen des Kranken auf, aktiviert dessen Selbstheilungskräfte und bewirkt vor allem bei chronischen Erkrankungen große Heilerfolge.“
Esoterischer wird es bei der sogenannten ganzheitlichen Medizin. Laut Schirmohammadi kombiniert die ganzheitliche Medizin die Naturheilkunde und die klassische Medizin mit naturphilosophischen, religiösen, mystischen, esoterischen, systemtheoretischen, psychosozialen und ökologischen Aspekten. „Ziel ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens“, so Schirmohammadi. Und: „Lebensvisionen und Lebensideale gilt es zu erfüllen, um ganzheitliche Gesundheit erreichen zu können.“
Ganz so eindeutig sehen andere Experten die Definitionen nicht. „Alle diese Begriffe sind frei“, hält Gerhard Tiemeyer von der Deutschen Gesellschaft für Alternative Medizin dagegen. „Sie werden von einzelnen Gruppen oder Autoren je nach eigener Sichtweise definiert – mit dem Versuch, sich irgendwie von anderen zu differenzieren.“
Als Scharlatanerie gebrandmarkt
In der Praxis haben Patienten oft ein Problem, wenn sie an einer Krankheit leiden, die von verschiedenen Ärzten ohne Erfolg behandelt wurde. Wenn sie dann zu Ärzten der Schulmedizin und der Alternativmedizin gehen, sehen sie sich naturgemäß mit widersprüchlichen Ansichten und Argumenten konfrontiert. Und oft ist es so, dass sie ihre Konsultation beim „feindlichen Lager“ geheim halten müssen, weil sie wissen, dass die Ärzteschaft auf der einen Seite die vom anderen Lager gering schätzt. Nicht selten geht das sogar so weit, dass die eine Seite die Therapie des anderen als unnütz, lebensgefährlich oder als Scharlatanerie brandmarkt.
Nicht schwer auszumalen, dass diese Verfahrensweisen jeden Patienten in Bedrängnis bringen. Jeder hält sich und sein Medizinsystem für das beste, das einzig richtige. Und lässt außer Acht, dass es so etwas wie eine absolute Wahrheit nicht geben kann. Jede Wahrheit ist bekanntermaßen relativ. An dieser Stelle bringt sich die integrale Medizin als umfassend und integrierend ins Spiel. Wenn man sich in der medizinischen Landschaft allerdings umschaut, sind Ärzte für Integralmedizin bis heute rar gesät.
Frei von Dogmen
Maja Roje Novak ist Ärztin für Integralmedizin in Zagreb. Sie sagt: „Der Begriff Integralmedizin wurde in den letzten 20 Jahren gebraucht, um die Medizin ohne ideologische Grenzen zu beschreiben.“ Die einzige Sorge der Ärzte sollte es sein, wie der Patient wieder gesund wird. Sollte das nicht bei allen Ärzten so sein? Die Integralmedizin ist frei von Dogmen, entgegnet Roje Novak, weder westliche noch östliche: „Wir müssen uns bewusst sein, dass die medizinische westliche Doktrin eigentlich eine Ideologie ist und nicht Wissenschaft, weil sie nicht nur gegenüber den kognitiven Werten der Branche offen ist, sondern auch gegenüber den Interessen der Branche.“
Große Teile der Ärzteschaft stützen sich auf die Medikamentenindustrie und Ausrüstungsindustrie, mit der sie praktisch zusammenlebt und als Folge am Gewinn der Industrie interessiert ist. „Darüber wird nicht offen geredet und ich würde sagen, dass dieser Umstand sogar verdeckt wird“, so Maja Roje Novak. Sie ist sich aber bewusst, dass die klassische Medizin in vielen Bereichen keine Alternative hat, zum Beispiel bei Krankheiten, die eine Intensivpflege oder Operation verlangen.
Für den Arzt sei es wichtig, kritisch zu sein, um unterscheiden zu können, wann und wo er nach anderen Mitteln greift und wann er nach den Empfehlungen der medizinischen Lehrbücher handelt. Daraus folgt, so Roje Novak, dass die Integralmedizin holistisch ist, den Körper immer als Ganzes betrachtet. Genauer: Ein Behandlungssystem, das die gesamte Person, Körper, Geist und Verstand, alle Aspekte von allen Lebensarten einbezieht. Kranker und Therapeut sollten idealerweise eine Partnerschaft eingehen. Und: Der Körper sollte möglichst immer das eigene volle Potenzial zur Heilung entwickeln können. Gerade dieser Aspekt kommt bei den klassischen Ärzten häufig zu kurz.
Möglichst natürliche und wenig invasive Therapien
Ein Arzt der Integralmedizin schaut genauer hin: Er betrachtet alle möglichen Faktoren, die zu der Krankheit auf dem Niveau des Körpers, des Verstandes und Geistes und der Umgebung beitragen. Dann wägt er ab: Welche konventionellen und alternativen Möglichkeiten der Heilung gibt es? Roje Novak betont, dass ein Arzt für Integralmedizin möglichst natürliche und wenig invasive Therapien vorschlägt. Sie ist aufwendiger.
„Integralmedizin beansprucht häufigere Interventionen, um einen Patienten zu heilen, während die klassische Medizin sich auf wenige beschränkt. Die klassische Medizin gebraucht weniger Werkzeuge, um ein Problem im Körpersystem zu lösen. Weil ich Neurologin bin, benutze ich integrierte Protokolle bei neurologischen Krankheiten mit viel Erfolg – weil es auch logisch ist“, sagt die Integralmedizinerin und verweist auf das Beispiel Multiple Sklerose. „Dabei nutze ich Homöopathie, Vitamine, Ernährung, Magnettherapie, Aromatherapie, Akupunktur, Psychotherapie und Bienengift; während die klassische Medizin sich hier auf Physiotherapie und Immunmodulatoren beschränkt.“
Roje Novak schildert das Beispiel einer Patientin, die unter Gliedergürtelmuskeldystrophie litt, einer genetisch bedingten Erkrankung. „Das Mädchen, das ich behandelte, war vier Jahre alt und konnte wegen ihrer Schwäche in den Beinen kaum laufen. Sie erhielt unter anderem Eigenbluttherapie mit Stammzellenisopathie und Vitamine mit Isopathie, und nach sieben Tagen Therapie läuft sie schon viel besser.“ Auch Stottern und verzögerte Sprachentwicklung konnte sie laut eigener Aussage bereits heilen: „Bei Patienten mit unterentwickeltem Sprachvermögen wendet die klassische Medizin nur Sprachtherapie an. Die Integralmedizin erweitert hier die Behandlung mit Vitaminspritzen und Homöopathie, mit großem Erfolg.“

Christian Engelbert betreibt eine Praxis für Integrative Medizin in Berlin. Ihm ist es wichtig, vernetzte Strukturen zu erkennen. Das beinhaltet zum Beispiel die Verbindung der Zähne mit Organen, Gelenken oder dem Bindegewebe. Auch die Verbindung der Darmfunktion mit dem Gehirn ist wichtig. Zwischen der Herzfunktion und der Stressbelastung gibt es ebenfalls eine Verbindung, das ist nicht neu.
Für Engelbert bedeutet integratives Handeln, die Schulmedizin anzuwenden, wenn es nötig ist, und die Naturheilkunde, wenn es möglich ist. „Ich möchte den inneren Arzt aktivieren und Therapieblockaden aufdecken“, sagt Engelbert. Statt „Schubladen-Diagnosen“ präferiert er eine individuelle Einordnung der Symptomatologie. Dies wird erzielt durch ausführliche Anamnese und erweiterte Diagnostik, wozu Kinesiologie, Bioresonanz, TCM-Kriterien und Ayurveda gehören.
Heilung aus dem Inneren heraus
Die Integralmedizinerin Astrid Quack, die ihre Praxis in Bad Eilsen hat, bringt die integrale Medizin in Zusammenhang mit der ganzheitlichen Heilkunde. „Um die Komplexität eines Menschen in seinen individuellen Facetten und seiner aktuellen Situation zu begreifen, erfordert es eine ganzheitliche Sichtweise“, sagt sie. Und integrale Medizin liefere den Schlüssel dazu. Je offener der Patient für diese Möglichkeiten sei, desto effektiver könne die Heilung aus seinem Inneren heraus erfolgen. Quack erläutert: „Vorstellungen und Erwartungen wirken begrenzend und sind nachvollziehbar und verständlich, an dieser Stelle aber nicht hilfreich.“
Sie weist zudem darauf hin, dass moderne diagnostische Verfahren wie Röntgen, Computertomografie und Labor für den ganzheitlich ausgerichteten Arzt keinen Widerspruch darstellen. Sie helfen vielmehr, Ausbreitung und Ausprägung einer Erkrankung besser einschätzen zu können. Sanftere Methoden wie Ayurveda, chinesische Medizin oder Osteopathie können, wenn sie in schulmedizinische Ansätze integriert werden, wiederum helfen, den Patienten in seiner Gesamtheit zur Heilung zu führen.
Krankenkassen, die sich auch schon mit Naturheilkunde schwertun, sehen auch die Integralmedizin skeptisch. „Evidenzbasiert und mit einem wissenschaftlichen Nutzen sollten medizinische Methoden versehen sein. Nur dann sollten sie in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aufgenommen werden“, sagt Roland Stahl von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Weiter will er sich dazu nicht äußern.
Die KKH will sich zum Thema Integralmedizin gar nicht äußern, „weil wir bei vielen Maßnahmen, vor allem im Bereich der Integrativen Medizin, noch in der Prüfung sind“, hieß es aus der Pressestelle des gesetzlichen Krankenversicherungs-Trägers.
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