Trauer in der Familie: Wenn ein geliebter Mensch plötzlich fehlt
Wie geht man mit dem Verlust der Eltern um? Der Tod ihres Vaters trifft unsere Autorin ganz überraschend. Sie erkennt: Man kann sich darauf nicht vorbereiten.

Unzählige Male habe ich mir vorgestellt, wie es sein würde, wenn mein Vater oder meine Mutter eines Tages stirbt. Ich fühlte, wie dieser Tag zu einem der schlimmsten in meinem Leben werden würde, durchlebte Trauerfeier und Beerdigung und wusste, dass danach nichts mehr so sein wird wie früher, wie immer und wie gewohnt. Ich sah mich vor Trauer und Gram am Grab zusammenbrechen und war außerstande, mir den Verlust vorzustellen.
Oft wachte ich dann tränenüberströmt aus diesen Gedanken auf und habe sie sofort ganz weit von mir geschoben. Ich dachte mir: Meine Eltern sind zwar schon über 80 Jahre alt, jedoch kerngesund und mopsfidel und haben zusammen mit meiner ebenfalls noch munteren 93-jährigen Schwiegermutter viel Spaß bei gemeinsamen Unternehmungen. Mindestens zehn Jahre werden wir sie also auch noch bei uns haben, beruhigte ich mich, weswegen zu so trüben Gedanken derzeit gar kein Anlass besteht.
Ich habe als einzige Tochter ein ausgesprochen gutes Verhältnis zu meinen Eltern. Sie wohnen etwa zwei Autostunden von uns entfernt, sind aber trotzdem oft in unserer Nähe oder wir bei ihnen, sodass allerhöchstens drei Monate vergehen, ohne dass wir uns sehen. Dann plötzlich stirbt mein Vater.
Es war Sonntag und wir schoben gerade die Kuchen für die Kaffeetafel in den Ofen, als sich der Tod ankündigte und meinen Vater holte. Wir glaubten noch, er sei nur kurz eingeschlafen, bildeten uns ein, ihn atmen zu hören und hofften, er würde die Augen gleich wieder aufmachen. Wir weinten. Wir waren traurig. Wir waren betäubt.
Neben mir stehend rief ich das Bestattungsinstitut an, sprach mit dem Arzt und informierte Verwandte, Bekannte und Freunde. Ähnlich Statisten in einem Film setzten wir uns an den Tisch und aßen den frisch gebackenen Kuchen. Die Realität ausblendend saßen wir um meinen toten Vater herum und begannen Geschichten aus seinem und unserem Leben zu erzählen.
Plötzlich ist der Vater nicht mehr da
Starr vor Schmerz sahen wir dann zu, wie sein Körper abgeholt wurde und wie er zum letzten Mal die Türschwelle passierte. Wir sahen ihm nach, bis der Leichenwagen um die Ecke verschwand und standen noch lange in der Tür, schweigsam mit tränenverschleiertem Blick auf die leere Straße. Mein Vater ist nicht mehr da. Wir haben die Beerdigung und alle Formalitäten organisiert, leben unser Leben weiter, und manchmal ist mir, als wenn nichts geschehen ist.
Ich bin weder von Trauer gezeichnet noch am Grab zusammengebrochen. Ganz im Gegenteil, auf seinem Totenbett haben wir mit ihm und über ihn geredet und gelacht. Ja, wir haben gelacht! Mir scheint, wenn die Familie zusammensitzt, lachen wir öfter als wir weinen. Dann spüren wir ihn auch neben uns, hören seine Stimme und sehen auch ihn lachen. Mein Vater ist doch noch da! Es kann also nicht mehr lange dauern, dann ist er wieder zurück.
Aus den Stunden, die er weg ist, sind Tage, Wochen und mittlerweile drei Monate geworden. Das ist die Zeitspanne, die wir bisher am längsten getrennt waren. Und so ganz langsam nehme ich nun quälend wahr, dass er wirklich nicht mehr da ist. In meiner endlosen Traurigkeit muss ich die Endlichkeit des Lebens akzeptieren.
Ich werde begreifen, dass sein Auto nie wieder vor der Tür stehen und seine Jacke nie wieder an seinem Haken hängen wird, dass ich seine Opa-Tasse für immer wegstellen kann und dass wir das angefangene Puzzle alleine fertigstellen müssen. Jetzt erst wird sein Fehlen sichtbar, sein Nichtdasein greifbar. Mir wird ohnmächtig bewusst, dass mein Vater mich nie wieder in den Arm und nie wieder mit den Enkeln scherzen wird.
Nach und nach verstehe ich auch, dass man sich auf einen solchen Verlust nicht vorbereiten kann. Gefühle und Empfindungen sind nicht zu erfassen, sie überkommen einen letztendlich ganz anders als angenommen. Und ich spüre mehr denn je den schmerzhaften Verlust mit allem Kummer und allen Tränen, der so unbeschreiblich viel größer ist, als ich ihn mir je vorzustellen gewagte hatte.
Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag freien Autorinnen und Autoren sowie jedem Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.