Vier Bücher, vier Perspektiven: Der Ukraine-Krieg in der Literatur
Was sagt die literarische Welt über den Ukraine-Krieg? Unser Autor hat vier Bücher gefunden, die er für besonders lesenswert hält.

Bereits ein Jahr währt Russlands Angriffskrieg in der Ukraine – und ein Ende ist nicht in Sicht. Seit Beginn sind unzählige Bücher entstanden, die sich mit dem Thema auf verschiedene Arten beschäftigen. Eine kleine Auswahl:
Drachen töten
„So oder so, das Regime wird enden“, schreibt der Ex-Oligarch Michail Chodorkowski in seinem Buch „Wie man einen Drachen tötet, Handbuch für angehende Revolutionäre“. Chodorkowski, ein bekannter Oligarch, wurde nach öffentlicher Kritik an Putin für zehn Jahre weggesperrt.
Trotzdem bedankt er sich im Buch bei Putin, der ihn – warum auch immer – am Leben ließ. Für die Zeit nach Putin schreibt er dennoch eine Gebrauchsanleitung, denn er konnte sich in den zehn Jahren viele Gedanken darüber machen, wie es weitergehen soll in Russland und in der Welt. Eine friedliche Weltordnung mit Putin ist kaum denkbar.
Irgendwann wird Putins Diktatur enden. Der Dauer-Präsident ist immerhin bereits 70 Jahre alt – und steht unter Erfolgsdruck. Für diesen Tag X muss sich das Land vorbereiten, meint er. Der Drachen muss aber erst getötet werden. „Kein Diktator ist unsterblich. Doch Putinismus, Stalinismus und Autokratie werden Russland immer wieder von Neuem heimsuchen, solange die gesellschaftspolitischen und institutionellen Voraussetzungen dafür bestehen“.
Deshalb stellt Chodorkowski auch eine ernüchternde Prognose: „Nicht ausgeschlossen, dass nach Putin genau so ein Putin wie er an die Macht kommt, womöglich in noch bösartigerer Ausführung.“
Michail Chodorkowski: Wie man einen Drachen tötet, Handbuch für angehende Revolutionäre. Aus dem Russischen von Olaf Kühl, Europa Verlag, München 2023, 104 Seiten, broschiert, 10 Euro.
Im Rausch
Der 1977 in Moskau geborene Arkadi Babtschenko, der als russischer Soldat gleich an zwei Tschetschenien-Kriegen teilgenommen hat, gehört zu den deutlichsten Kritikern des Putin-Regimes der letzten Jahre. Seine Erfahrungen im Krieg beschreibt er im Buch „Die Farbe des Krieges“.
Später war er unter anderem im Kaukasus-Krieg als Kriegskorrespondent unterwegs und musste nach Morddrohungen aus seinem eigenen Land fliehen. Er sagt, dass das Geld für den Killer, der auf ihn angesetzt wurde, zwar bezahlt, die Arbeit aber noch nicht erledigt sei, weswegen er immer mit einem Mordanschlag rechnen muss – wie Salman Rushdie.
In seinem neuen Buch „Im Rausch: Russlands Krieg“ beschreibt er in kurzen Texten immer verzweifelter und wütender seinen Gemütszustand und den Zustand seines Landes unter Diktator Putin. Für jeden Putinversteher sollte es Pflichtlektüre sein. Es ist eine Art Tagebuch und beginnt 2012. Im ersten Teil enthält es längere Blog-Einträge und Facebook-Kommentare. Es endet mit einem zweiten Teil, der am 23. Februar 2022 um Mitternacht beginnt und bis zum Mai desselben Jahres geht.
Der zweite Teil ist ein beinahe atemloser Furor, in dem er seinen Hass auf seine ehemalige Heimat und ihre Verbrechen mit kurzen Sätzen herausbrüllt. Er kommentiert das Kriegsgeschehen, mitunter mehrmals am Tag. Er kennt als ehemaliger Soldat die russische Armee genau und hat als russischer Staatsbürger den Wandel zur Diktatur am eigenen Leib gespürt. Er schreibt: „Russlands furchtbarste Waffe ist die Glotze, die die Menschen in Zombies verwandelt.“ Seine Mutter betrachtet ihn genau deswegen inzwischen als einen Verräter und glaubt dem russischen TV-Narrativ, dass in der Ukraine die Faschisten sind, die ihre Heimat bedrohen.
Wie in ukrainischen Facebook-Posts üblich, bezeichnet Babtschenko Russland als „Mordor“ und seine Soldaten als „Orks“. Er fühlt sich seit seiner Flucht dorthin nicht mehr als Russe, sondern als Ukrainer.
Er schreibt am 10. Januar 2022: „Und ich will, dass Mordor nicht existiert. Genauso wie die vierzig Millionen Menschen in dem Land, das einmal am engsten mit euch liiert war. Noch vor zehn Jahren fast vollständig integriert. Und auch die neun Millionen in dem heute am engsten mit euch integrierten Land, sie werden allmählich wach. Und werden euch ebenfalls hassen. So wie Millionen und Abermillionen Menschen vom Baltikum bis nach Kasachstan. So wie die vierzig Millionen Polen, die auch einmal von eurem Imperium erobert wurden. Heute jagt dort ein Wlassow den anderen. Wie die neun Millionen Tschechen. Die fünf Millionen Finnen. Ihr habt’s drauf, das muss man euch lassen. Alles, was ihr wirklich perfekt könnt, ist: eure Nachbarn zu Feinden zu machen.“
Der jetzige Krieg scheint für Putin verloren zu sein, aber Babtschenko befürchtet, dass der ganz große Krieg noch bevorsteht – in einigen Jahren. Das Problem sei nicht nur Putin, sondern auch das, was nach ihm kommt. Europa müsse endlich verstehen, dass sich an seiner Ostgrenze ein faschistischer Staat gebildet hat.
Keine erfreuliche Prognose, aber ein beeindruckendes Buch!
Arkadi Babtschenko: Im Rausch: Russlands Krieg. Übersetzt von Olaf Kühl, Rowohlt Berlin 2022, 320 Seiten, 22 Euro.
Ungleiche Brüder
Der Osteuropahistoriker Andreas Kappeler lehrte an den Universitäten Zürich, Köln und Wien und analysiert das Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland. Er belegt akribisch, dass ihre Geschichte die meiste Zeit in den letzten tausend Jahren getrennt verlief und nicht gemeinsam.
Sein Standardwerk „Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart“ schrieb Andreas Kappeler bereits 2017 und es wurde mehrfach wiederaufgelegt. Nun erschien eine erweiterte Fassung, die auch die momentanen Geschehnisse umfasst, die er sich bei der ersten Drucklegung des Buches nicht vorstellen konnte. Da erging es ihm wie vielen Experten.
Die gemeinsame Geschichte von Russland und der Ukraine begann mit der Christianisierung der Kiewer Rus im Jahr 988; der Sitz dieses Großfürstentums Kiew wurde später nach Moskau verlegt. Aber mit dem Mongolensturm im 13. Jahrhundert ist erst mal Schluss mit der Gemeinsamkeit: Russland versinkt im Krieg, während die Ukraine unter den Einfluss Polen-Litauens, und damit des Westens, gerät. Erst die Teilungen Polens und die Siege Katharinas der Großen im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts bringen den größten Teil der Ukraine samt der Krim unter russische Herrschaft. Ein kleinerer Teil wurde österreichisch. Die russische Herrschaft über die Ukraine dauerte im Wesentlichen also knappe 200 Jahre.
Im Westen hält sich bis heute „die Vorstellung des großen und des kleinen Bruders“. Der Zerfall der Sowjetunion war jedoch eine ukrainische und eine russische Entscheidung. Sowohl Russland als auch die Ukraine wurden erst 1991 als dauerhafte eigenständige Staaten gegründet. Russland hatte die Souveränität der Ukraine anerkannt, das als drittgrößte Atommacht seine vielen Atomwaffen nach Sicherheitsgarantien der USA, Großbritanniens und Russlands abgab.
Die russischen Sicherheitsgarantien galten jedoch nur bis zum Euromaidan 2014, als eine prowestliche Volksbewegung den Putin-Favoriten Janukowitsch aus dem Amt jagte und Putin als Reaktion die Krim annektierte. Danach kreierte Putin eine aggressive Propaganda aus „Nato-Einkreisung“, „faschistischer“ Bedrohung und „Genozid“ in der Ostukraine, die offensichtlich bei vielen Menschen in Russland und anderswo, wie man in den hiesigen Talkshows sehen kann, verfängt. Am 24. Februar 2022 dann der nächste Schritt. Inzwischen dürften seine imperialen Absichten klar sein. Kappelers Buch ist eine spannende und gelungene Analyse der langen Geschichte der Brüder- und Nachbarvölker.
Andreas Kappeler: Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Erweiterte Neuausgabe. C.H. Beck Verlag. München 2023, 304 Seiten mit 13 Abbildungen und 5 Karten, 18 Euro.
Revanche
„Die Zeit“-Auslandskorrespondent Michael Thumann schrieb wiederum das Buch „Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat“. Wladimir Putin, der den Zerfall der Sowjetunion 1991 als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ betrachtet, nimmt Rache: Sein Krieg sei auch ein Versuch, die Zeit zurückzudrehen. Inzwischen hat Putin den reaktionären Putsch von 1991 vollendet und Russland zu einer aggressiven Diktatur gemacht.
Thumann hat vieles davon vor Ort miterlebt, denn er wohnte schon von 1996 bis 2001, sowie 2014/15 in Moskau und leitet seit 2021 zum dritten Mal das Moskauer Büro der Zeit. Putin hat er einmal ganz anders kennengelernt. Der spiele aus reinen Machterhaltungsgründen die nationale Karte, genauso wie Trump, Erdogan und Orban – sagt Thumann.
Putin, den der ehemalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder 2004 einen „lupenreinen Demokraten“ nannte, wurde in seiner jahrzehntelangen Amtszeit zum unnachgiebigen Verfechter nationalistischer Ideologie. Bereits 2012 bezeichnete sich Putin als „den größten Nationalisten in Russland“. Als entscheidenden Wendepunkt in Putins Karriere macht Thumann die Massenproteste im Winter 2011/2012 aus. Diese Wende ist keine Reaktion auf mangelnden Respekt des Westens gewesen, wie oft in deutschen Talkshows von Putinverstehern verkündet wird, sondern allein der innenpolitischen Krise geschuldet, schreibt Thumann. Die Nato-Osterweiterung, die immer noch gern als Erklärung für Russlands Aggression angeführt wird, erklärte Putin erst dann zur Gefahr, als er merkte, wie sie sich propagandistisch ausschlachten ließ.
Putin beweist, dass der neue Nationalismus zum Krieg und in die Diktatur führt. „Es gibt keine verträgliche Dosis von autoritärem Nationalismus“, meint Thumann.
Seit seinem Amtsantritt führte Putin Kriege in Tschetschenien, Georgien und Syrien, mit Söldnern in Libyen und Westafrika. Seit einem Jahr überzieht er die Ukraine mit Tod und Verderben, mit vollkommen absurden Begründungen, bar aller Fakten.
Thumann zeichnet den Weg in Putins imperialistischen Krieg aus nächster Nähe und damit ein realistisch desaströses Bild von Russlands Absturz in eine totalitäre Diktatur mit hetzenden Staatsmedien und einem willkürlichen Justizsystem, das Andersdenkende in den Gulag steckt. Aufrufe zum Frieden und zu Verhandlungen werden bestraft. Den Krieg als Krieg zu bezeichnen, ebenfalls.
Putin hat mit seinen Hasspredigten und Atomdrohungen ein Imperium der Angst nach außen und nach innen geschaffen. Er hat mit seiner Propaganda ein homophob, nationalistisch und für Außenstehende paranoid wirkendes Volk erzogen, dass gegen westliche Werte aufbegehrt, aber sich auch danach sehnt. Putin will Europa seinen Stempel und seine Werte aufdrücken.
Laut Thumann hat Putin dadurch sein eigenes Lebenswerk zerstört und wird als blutrünstigster Herrscher Russlands seit Stalin in die Geschichte eingehen.
Unbedingt lesenswert!
Michael Thumann: Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat. C.H. Beck Verlag, München 2023, 288 Seiten mit 15 Abbildungen, 25 Euro.
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