Neurowissenschaftlerin zur HU: Das ist keine Cancel Culture, sondern Fortschritt
Eine Wissenschaft, die nicht fähig ist, Regeln zu überdenken, bringt die Gesellschaft nicht voran - sie spiegelt nur ihre Ressentiments, meint unsere Autorin.

Über wissenschaftliche Fakten lässt sich nicht streiten, heißt es. Und genauso sollte es ja auch sein. Eine wichtige Unterscheidung geht dabei allerdings oft unter: Biologische Prozesse sind Fakten – die Label, die wir darauf kleben, nicht. Unsere Begriffe sind Ergebnis von Kultur, die aus einem Kontext heraus wächst. So wie eine Tomate zwar im Gewächshaus als Frucht durchgeht, aber nicht, wenn ich einen Obstsalat mache. Entsprechend vorsichtig sollten wir sein, wenn Menschen sagen: „Dies ist die Einteilung. Wissenschaft!“. Noch vorsichtiger sollten wir sein, wenn es nicht um Obst und Gemüse, sondern um Menschen geht.
Darum eine Warnung vorweg: Natürlich geht es bei Geschlecht um weitaus mehr als das, was die Biologie messen kann. Trotzdem ist es nicht von der Biologie losgelöst. Ein bisschen wie eine Stimmung, die sich von Depression genauso beeinflussen lässt wie von Arbeitsstress. Beides anzuerkennen ist wichtig. Also worauf beruht die biologische Unterteilung in zwei Geschlechter?
Wer diese Frage in den Raum stellt, bekommt prompt eine Reihe von bekannten Antworten an den Kopf geworfen. Die Chromosomenpaare: XX und XY. Die Beschaffenheit der Gonaden, also Spermien oder Eizellen. Penisse! Was den Antwortgebern dabei allerdings selten auffällt ist, dass sie sich nicht mal untereinander auf ein Kriterium einigen können.
Das wäre kein Problem, wenn die Ergebnisse immer zusammengingen. In den meisten Fällen tun sie das sogar. Denn auf dem Y-Chromosom liegen die Anlagen für die Hoden, die produzieren Sexhormone, und die formen uns schon vor der Geburt in eine eher männliche Richtung. Fertig ist das einigermaßen kohärente Geschlechterbild, an dem vielleicht am meisten überrascht, dass Hormone vor allem für ein männliches Geschlecht zuständig sind. Im Urzustand sind wir eher weiblich. Den Rest erledigen die Hormonschübe der Pubertät.
Testosteron, Chromosome, Penisse
Naja, wirklich kohärent ist das Geschlechterbild natürlich nur, solange man auslässt, dass es eben auch Menschen mit XXX-, XXY- oder XYY-Chromosomen und jeder Menge anderer Variationen gibt.
Oder dass die Ausführung dieses stringenten Plans vor allem den Hormonen überlassen ist, die ihn aber eher als eine Richtlinie verstehen. Nicht als eindeutiges Skript, mit vorgeschriebenem Ende. Wenn zum Beispiel Testosteron keine intakten Rezeptoren vorfindet, dann kann es nicht an den Zellen andocken und formt erst mal gar nichts. Viele von den Betroffenen finden spät im Leben erst heraus, dass sie überhaupt ein Y-Chromosom haben.
Oder wenn Testosteron ein Enzym fehlt, um sich in seine aktive Form umzuwandeln, dann formt es bloß nur ein bisschen und wartet mit dem Ausbau der Genitalien bis zur Pubertät. Ein Kind mit XY-Chromosomen kann also ohne Penis zur Welt kommen und andersherum. Was würden Sie wichtiger nehmen?
Dazu kommt, dass Hormonlevel nicht statisch sind. Hormone schwanken, mit dem Hormonhaushalt der Gebärenden, mit ihrem Stress, ihren Immunreaktionen und etwaigen Zwillingen, die neben uns schwimmen. Ihre Wirkung ist auch nicht immer gleich.
Am Anfang einer Schwangerschaft zum Beispiel wirken sie stärker auf den Körper, in der Mitte stärker aufs Gehirn. Wobei die neuronalen Unterschiede so fließend sind, dass wir bisher noch nicht mal mit Sicherheit sagen können, wo sie liegen. Manche Geschlechterunterschiede verschwinden mit der Zeit.
Dass Frauen eher unter Schlafstörungen leiden, gilt nur bis zur Menopause. Die Vielfalt des Ganzen kann man in den Körperformen der Menschen in unserer Umgebung bewundern. Breite Schultern sind ein Ausdruck von Testosteron ebenso wie breite Gesichter, breite Becken sind eher Östrogens Verdienst. Aber Obacht, bevor wir es uns bei der Unterscheidung zu einfach machen!
Tradierte Einteilungen in zwei Schubladen
Denn auch hier sind die Übergänge fließend. Der Körper kann Testosteron jederzeit in Östrogen umwandeln und macht das auch den ganzen Tag. So sehr, dass wir nicht mal mit Sicherheit sagen können, wie viele Testosteroneffekte im Experiment eigentlich Östrogeneffekte sind. Es bleibt kompliziert, auch auf biologischer Ebene.
Wenn wir das anerkannt haben, können wir den Menschen zuhören, was sie zu ihrem Geschlecht erzählen. Das empfiehlt sich in den Neurowissenschaften immer, denn sonst hätten wir von Phantomschmerzen bis stressbedingtem Gedächtnisverlust viele Phänomene überhaupt nicht erst entdeckt.
Und auch bei der Frage nach dem Geschlecht haben uns Menschen erzählt, dass tradierte Einteilungen für sie nicht passen, lange bevor wir wussten, dass es so was wie Testosteronrezeptorstrukturen überhaupt gibt. Darüber hinaus gilt: Selbst wenn wir das biologische Geschlecht zu 100 Prozent verorten und vermessen könnten, wüssten wir immer noch nicht, wo sich die Menschen selbst einordnen, denn zwischen diesen Punkten liegen eine Menge psychologischer Dichte und Jahrhunderte an kultureller Entwicklung.
Im Ergebnis sprechen viele Forschende heute nicht mehr von einem binären Geschlecht, sondern von einem Spektrum mit männlichen und weiblichen Extremen. Auch die biologischen Lexika kennen mehrere Geschlechterbegriffe: von den Keimzellen bis zur Summe der strukturellen und funktionalen Merkmale, auch des Verhaltens.
Andere unterscheiden zwischen genetischem, endokrinen und gonadalem Geschlecht, wobei die relevante Definition von der Fragestellung abhängt. Für Krebsrisiken sind Hormone und Geschlechtsorgane oft entscheidend. Bei der Fortpflanzung die Produktion von Eizellen oder Spermien. Und im Alltag entscheiden Sie wahrscheinlich ziemlich oft nach dem äußeren Erscheinungsbild, ob Sie jemanden mit Herr oder Frau ansprechen (auf die Gefahr hin, damit falsch zu liegen). Niemand will Geschlechterunterschiede unsichtbar machen. Weder Forschende noch trans* Personen. Im Gegenteil: Es geht darum, sie in all ihrer Komplexität zu sehen.
Einen Teil dieser Vielfalt würde die genderkritische Fraktion sogar abnicken, gerne unter dem Hinweis: „Ausnahmen bestätigen die Regel“. Aber das ist ein Sprichwort, kein wissenschaftliches Konzept.
Das ist keine Cancel Culture, sondern Fortschritt
Wissenschaftlich ist es, wenn man Regeln, zu denen wir immer mehr Ausnahmen entdecken, überdenkt. Ohne die Fähigkeit, sich selbst zu hinterfragen und weiterzuentwickeln, bringt Forschung die Gesellschaft nicht voran, sondern spiegelt nur ihre Ressentiments.
Vor etwas mehr als hundert Jahren hätte es zu jedem Vortrag über Geschlechterunterschiede gehört, dass Frauengehirne weniger leistungsfähig sind. Auch damals gab es Leute, die diese Vorstellung gegen jeden Beweis des Gegenteils mit aller Macht verteidigten. Auch damals war es wichtig, dass sich andere Forschende dem entschlossen entgegenstellten. Das war damals und ist heute keine Cancel Culture, das ist wissenschaftlicher Fortschritt.
Wie unbelehrbar die Wissenschaft lange Zeit am binären Geschlechterbegriff festgehalten hat, sieht man daran, wie die Biologie ihre von uns festgelegten Grenzen überschreitet. Noch bis 2021 war es erlaubt, Kleinkinder, Neugeborene, deren körperliches Erscheinungsbild in keine der zwei Schubladen passt, mit diesem Ziel zu operieren. Sie passend zu machen. Zum Teil ohne medizinische Not und ohne den Kindern selbst etwas davon zu erzählen. Oder gar abzuwarten, was sie dazu sagen.
Statt der Natur Raum zu geben, wollten wir schnelle Klarheit und sorgten damit bei den Betroffenen vor allen Dingen für viel Leid. Denn Geschlecht ist eben nichts, in das man reinwächst, wie in die Winterjacke der Geschwister. Das anzuerkennen ist das genaue Gegenteil davon, Geschlechterunterschiede zu verwischen. Es bedeutet, sie ernst zu nehmen.
Wenn wir unsere Schubladen weiten, schaffen wir damit einer ganzen Menge Leuten Raum zum Atmen und uns allen mehr Freiheit von ihren Zuweisungen. Vielleicht sind wir dann auch etwas weniger überrascht, wenn sich mal wieder herausstellt, dass Menschen sich nicht danach unterteilen lassen, ob sie entweder a) viel reden oder b) gut einparken. Oder dass grundsätzlich jedes Geschlecht von Brustkrebs betroffen werden kann, genauso wie von Barthärchen oder Depression. Es könnte alles so viel einfacher sein, wenn wir’s nur kompliziert machen.
Wussten Sie übrigens, dass es in Indien und Bangladesch ohnehin drei Geschlechter gibt? Die Label, die wir auf biologische Prozesse kleben, sind eben nicht vorgeschrieben. Sie sind Kultur. Und die kann sich wandeln.
Die Autorin Franca Parianen, ist 32 Jahre alt und hat einen Doktor in Neurowissenschaften. Zu ihren Schwerpunktthemen Soziale Kognition, Hirn und Hormone hat sie unter anderem am Max-Planck-Institut Leipzig und dem Helmholtz-Institut Utrecht geforscht. Heute lebt und arbeitet Franca Parianen als selbstständige Autorin und Wissenschaftskommunikatorin in Berlin.
Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag freien Autorinnen und Autoren sowie jedem Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.