Warum Pflegekräfte resignieren: Das System ist das Problem

Unsere Autorin ist Heilerziehungspflegerin. Seit Jahren sind sie und ihre Kollegen überlastet, viele haben resigniert. Hier schildert sie ihre Erfahrungen.

„Jeden Erfolg feiert man mit und viele kleine Gesten werden einem mit Dankbarkeit gedankt und können Großes bewirken.“ – Lena-Marie Erhard
„Jeden Erfolg feiert man mit und viele kleine Gesten werden einem mit Dankbarkeit gedankt und können Großes bewirken.“ – Lena-Marie ErhardWestend61/imago

Seit nunmehr viereinhalb Jahren arbeite ich in meinem Beruf als Heilerziehungspflegerin. Ich unterstütze also Menschen, die aufgrund von körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderungen auf Assistenz im Alltag angewiesen sind. Dieser Text dient sowohl als Liebeserklärung an diesen Beruf als auch als Mittel, um auf die gewaltigen Missstände hinzuweisen, die in dieser (in Ermangelung eines treffenderen Begriffes) „Branche“ herrschen.

Da ich den Großteil meiner bisherigen Berufslaufbahn für die Lilienthaler Diakonie gearbeitet habe, muss ich diese als Maßstab und Grundlage für meine Beobachtungen nutzen. Ich kann jedoch in keiner Weise darüber urteilen, ob die Lilienthaler Diakonie im Vergleich zu anderen Trägern besonders gut oder schlecht mit den Gegebenheiten umgeht.

Ich habe mich in meinen Beruf verliebt, weil er die Chance bietet, Menschen zu großen und kleinen Erfolgen und Meilensteinen zu verhelfen, ihnen in schwierigen Lebenslagen beizustehen und ihnen durch enge Beziehung die Sicherheit und den Raum für Entfaltungen zu bieten. Durch die ehrliche und ungefilterte Kommunikation, ob verbal oder nonverbal, bekam ich schon oft mehr zurück als ich gegeben habe.

Jeden Erfolg feiert man mit und viele kleine Gesten werden einem mit Dankbarkeit gedankt und können Großes bewirken. All dies liebe ich nach wie vor an meinem Beruf und ich versuche, mich nur auf diese Momente zu konzentrieren. In den vergangenen Jahren habe ich allerdings beobachten müssen, wie die Wut auf die Unternehmensleitung unter meinen Kollegen und auch in mir, angeheizt durch eine katastrophale Personalsituation und erschwerte Arbeitsbedingungen während der Pandemie, immer größer wurde.

„Ich versuche, mich nur auf diese Momente zu konzentrieren“ - Lena-Marie Erhard
„Ich versuche, mich nur auf diese Momente zu konzentrieren“ - Lena-Marie ErhardWestend61/imago

Entscheidungen fernab der eigenen Arbeitsrealität und das Gefühl in der eigenen Anstrengung nicht gewürdigt zu werden, bis hin zur Selbstaufopferung, demoralisierten zunehmend. Indem man alle Schuld der „berechnenden, profitorientierten Führungsebene“ eines Unternehmens zuweist, macht man es sich allerdings zu leicht. Denn viele der Missstände im Arbeitsalltag sind nicht etwa den fehlgeleiteten Entscheidungen der Unternehmensleitung zu schulden, sondern Ausgeburten eines erkrankten Systems.

Ein krankes System

Ein System, das es nötig macht, mehr Zeit in die Dokumentation der erbrachten Leistungen zu stecken, als der einzelne Klient im Schnitt pro Tag an qualitativer Einzelbetreuung hat. Ein System, das unser erklärtes Ziel, die Entwicklung unserer Klienten hin zu einer größeren Selbstständigkeit, durch finanzielle Kürzungen ahndet. Erreicht ein Mensch in einem Lebensabschnitt Selbstständigkeit, gefährdet dies die Finanzierung der sonstigen Unterstützung und Versorgung.

Ein Gespräch, in dem ich in Bezug auf eine Klientin gefragt wurde, ob sie denn wirklich allein baden könne und ob man nicht einen Grund fände, weshalb sie in diesem Bereich doch auf Hilfe angewiesen sei, mit dem Ziel, ein paar Euro mehr zu bekommen, zeigt die absurden Auswürfe dieses Systems. Im Angesicht solcher gesetzlichen Vorgaben müssen also Entscheidungen für ein Unternehmen getroffen werden, die sich im Spagat zwischen Menschlichkeit und wirtschaftlichem Kalkül abspielen.

Treffendes Beispiel ist in diesem Zusammenhang die Überlegung, die zweite Kontrollrunde in der Nachtschicht, die sogenannte Lebendrunde, abzuschaffen. Die wirtschaftlichen Vorteile sind unschwer zu erkennen, geringere Arbeitslast bedeutet weniger zu besetzende Stellen. Auf den Einwand, es könne in den Stunden zwischen erster und letzter Runde ein Klient versterben, ohne dass dies auffällt, würde sinngemäß entgegnet, dass ein Klient, der um Mitternacht verstirbt, auch morgens um fünf noch tot in seinem Bett liegen würde.

Es fühlt sich immer mehr so an, als würden wir in unserer ursprünglich sozialen Arbeit zu Akteuren der freien Wirtschaft gemacht und die Menschen, mit denen wir arbeiten, werden zu dem Gut, das wir handeln. Als ich zu der Erkenntnis kam, dass einige der Missstände auch unter einer perfekten Unternehmensleitung noch aktuell wären, da das System sie hervorbringt, wandelte sich meine Wut großteilig in Frustration und schließlich in Resignation.

Im Angesicht eines unüberschaubaren bürokratischen Apparates, eines unveränderbar scheinenden Systems, welches die Werte unserer Arbeit zu strafen scheint, und einer personellen Situation, die einem in Wochen und Monaten der Unterbesetzung, des Einspringens und Alleine-Arbeitens alles abverlangt, resignieren irgendwann auch die letzten Überzeugungstäter. Noch sind wir nicht an diesem Punkt, aber wir ebnen uns den Weg dahin. Abschließend möchte ich sagen, dass, wenn der Wert einer Gesellschaft an ihrem Umgang mit den Schwächsten ihrer Glieder erkennbar ist, dies ein Armutszeugnis der unsrigen ist.

Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag freien Autorinnen und Autoren sowie jedem Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.