Wie das deutsche Erbrecht Reiche begünstigt und die kleinen Leute bestraft

Jedes Jahr werden in Deutschland 400 Milliarden Euro vererbt. Unser Autor denkt: Dabei werden vor allem bereits reiche Erben bevorzugt.

Analysen bestätigen: die Vermögen sind heute so ungleich verteilt wie nie.
Analysen bestätigen: die Vermögen sind heute so ungleich verteilt wie nie.Sabine Gudath

Den Kindern soll es einmal besser gehen! Dieses Paradigma hat die deutsche Nachkriegsgesellschaft in West und Ost geprägt und tut es immer noch. Fakt ist: Die letzten sieben Jahrzehnte waren aus wirtschaftlicher Sicht für den Großteil der Deutschen gute Jahrzehnte. Es wurde viel Vermögen aufgebaut, im Westen deutlich mehr als im Osten und in jüngerer Zeit viel mehr und schneller als in der Generation unserer Eltern und Großeltern.

Die Formel „Wohlstand für Alle“ als Politikziel wurde vom damaligen Bonner Wirtschaftsminister Ludwig Erhard erfunden. Die zentrale Prämisse war die Überwindung einer Situation, in der eine „dünne Oberschicht, welche sich jeden Konsum leisten konnte“ einer „quantitativ sehr breiten Unterschicht mit unzureichender Kaufkraft“ gegenübersteht. Aufgeschrieben vor 65 Jahren, im Jahr 1957 wohlgemerkt. Es ging also um die Teilhabe aller an den Wohlstandsgewinnen.

Und heute? Heute leben wir in einem Land, in der die Ungleichheit größer ist denn je. Breite Schichten der Gesellschaft fühlen sich eher abgehängt denn integriert, vor allem auch wirtschaftlich. Die Vermögen, das heißt das, was man auf dem Sparbuch, als Aktien, als Wertgegenstand oder als Immobilie besitzt, sind so ungleich verteilt wie nie. Die fetten Jahre scheinen für viele Menschen vorbei zu sein.

Aus den Analysen des in Berlin ansässigen Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) kann man lernen: Die reichsten 10 Prozent der Deutschen besitzen 63 Prozent des gesamten privaten Vermögens, während die unteren 40 Prozent der Deutschen kein nennenswertes Vermögen haben oder sogar Schulden. Besonders die Superreichen profitierten von Vermögenszuwächsen, gerade in den letzten Jahren: 0,1 Prozent der Bevölkerung besitzen inzwischen mehr als ein Fünftel aller Vermögenswerte. Oder anders ausgedrückt: die 45 reichsten Familien Deutschlands kontrollieren genau so viel Kapital wie 40 Millionen Deutsche am anderen Ende der Verteilung.

Der ehemalige Wirtschaftsminister und Bundeskanzler Ludwig Erhard. Von ihm wurde die Formel „Wohlstand für Alle“ als Politikziel erfunden.
Der ehemalige Wirtschaftsminister und Bundeskanzler Ludwig Erhard. Von ihm wurde die Formel „Wohlstand für Alle“ als Politikziel erfunden.dpa

Dass es unter den wirklich Vermögenden nur wenige Ostdeutsche gibt, ist klar, denn hier konnte nicht über einen langen Zeitraum akkumuliert werden. Westdeutsche hatten einen großen Vorsprung, der sich inzwischen als unaufholbar herausstellt. Auch heute noch hat der durchschnittliche Ostdeutsche nur etwa die Hälfte von dem auf der hohen Kante, was ein Westdeutscher dort ansammelt.

Erbschaften sind ungleich verteilt

Ein gewichtiger Grund für die größer werdende Schere zwischen Arm und Reich liegt inzwischen auch an intergenerationalen Transfers. Erbschaften und Schenkungen sind zu maßgeblichen Einflussfaktoren auf die soziale Positionierung der Erben und Beschenkten geworden. Und sie sind extrem ungleich verteilt. Es gilt: Wer hat, dem wird gegeben. Das DIW fand heraus, dass überdurchschnittlich Vermögende auch überdurchschnittliche Erbschaften und Schenkungen erhalten, dazu auch noch öfter.

Während in etwa jeder zehnte Deutsche in den letzten 15 Jahren etwas geerbt hat, ging die Hälfte des Geldes und der Sachwerte an Mitglieder der oberen Schichten. Insgesamt reden wir von ca. 400 Milliarden Euro, die in Deutschland jedes Jahr vererbt werden. Zum Vergleich: für die Grundsicherung/ALG, Sozialhilfe, Kinder- und Jugendhilfe, Wohngeld, Elterngeld, Kindergeld und Bafög zusammen wurden 2021 nur etwa 220 Milliarden Euro ausgegeben.

Erbschaften können ein großes Glück sein. Ist das ein gutes Argument dafür, sie höher zu besteuern?
Erbschaften können ein großes Glück sein. Ist das ein gutes Argument dafür, sie höher zu besteuern?Westend61/imago

Immer wieder werden Argumente vorgebracht, Erbschaften und Schenkungen höher zu besteuern. Eines davon lautet, dass die Erben ja in der Regel nichts für ihr finanzielles Glück geleistet haben, sondern einfach nur Glück in der Geburtslotterie hatten. Ein guter Punkt. Auf der anderen Seite wird natürlich darauf verwiesen, dass das zu vererbende Vermögen ja bereits besteuert wurde, als es entstanden ist. Auch dies ist zunächst einmal richtig. Beide Argumente sollte man aber einmal vor dem eingangs erwähnten Grundsatz der Ermöglichung einer breiten Teilhabe an den Wohlstandsgewinnen, die in unserer sozialen Marktwirtschaft entstehen, beleuchten.

Wir leben in einer Zeit, in der es unmöglich geworden ist, durch eine „normale und redliche“ Arbeit Vermögen im größeren Stil anzusparen. Vielmehr ist es so, dass bis in die mittleren Schichten hinein am Monatsende kaum etwas übrig bleibt. Natürlich leben wir objektiv gesehen alle auf einem höheren Wohlstandsniveau als die Angehörigen früherer Generationen.

Aber der Flachbildfernseher, die Griechenlandreise und der (geleaste) Mittelklasse-Jahreswagen sollten nicht eine verbesserte soziale Teilhabe aller Schichten vortäuschen, denn es ist schlichtweg der Fahrstuhleffekt der Modernisierung, den wir da sehen: auch die unteren Schichten sind über die Jahre einige Etagen höher gefahren, wobei sich aber der Abstand zur goldenen Penthouse-Etage deutlich vergrößert hat. Früher konnte man seine soziale Positionierung durch Bildung und Fleiß verbessern. Heute ist es vor allem wichtig, dass man einiges an finanzieller Potenz und sozialem Kapital aus seinem familiären Hintergrund in die Wiege gelegt bekommt.

Selbst das Argument, dass der Staat versucht, die Ungerechtigkeit von Erbschaften durch Erbschaftssteuern etwas auszugleichen, zieht nicht. Denn schaut man sich die derzeitigen Regelungen an, wird deutlich, dass hier die „kleinen Leute“ stark benachteiligt sind und von vielen Regelungen gar nicht profitieren können.

Vorteil durch Erbe „mit warmer Hand“

Anfang des Jahres geisterte in der öffentlichen Debatte herum, dass die Erben von Immobilien durch ein reformiertes Verfahren zur Feststellung des Wertes der Immobilie womöglich schneller in einen erbschaftssteuerpflichtigen Bereich gelangen. Dies könne für einige zu einem größeren finanziellen Problem werden. Hat der Erbe oder Beschenkte noch kein Vermögen aufgebaut, so wird dieser gezwungen sein, die Immobilie zu verkaufen, um daraus die Steuerlast zu bestreiten.

Der Clou dieses Narratives ist, dass man sich durch die weit verbreitete Angst der Mittelschicht vor einer eventuellen Steuerlast deren Zustimmung zu möglichst hohen Freibeträgen sichert. Großzügige Freibeträge klingen ja zunächst einmal gut, besonders dann, wenn man meint, selbst davon profitieren zu können.

Die Expo Real - Fachmesse für Immobilien und Investitionen.
Die Expo Real - Fachmesse für Immobilien und Investitionen.aal.photo/imago

Viel wichtiger als die Höhe von Freibeträgen ist aber der Blick auf die Vorteile durch die wiederholbare Inanspruchnahme der Freibeträge alle zehn Jahre, also das, was man „vererben mit warmer Hand“ nennt. Von dieser Regelung profitieren fast nur die, die hohe Vermögen verfügen und in der Lage und Willens sind, ihren Erben regelmäßig größere Werte zu Lebzeiten zu überlassen.

Für Reiche ist es problemlos möglich, jedem Kind mehrere Millionen steuerfrei zu übertragen. Und das geht folgendermaßen: Jedes Elternteil kann seinem Kind jeweils 400.000 Euro schenken, also 800.000 Euro pro Kind – und das alle zehn Jahre und gänzlich steuerfrei! Fängt man damit bei der Geburt des Kindes an, kann dieses zum 21. Geburtstag bereits ein Vermögen von 2,4 Millionen Euro „geerbt“ haben, und keinen einzigen Cent Steuern darauf zahlen. Nach geltender Rechtslage kann auch jedes Großelternteil nochmals je 200.000 Euro alle zehn Jahre steuerfrei an den Enkel übertragen. So können sich mit 21 Jahren im Extremfall – bei zusätzlich vier schenkenden Großeltern – zusammen mit dem Elternanteil fast 5 Millionen Euro ansammeln.

Manche Kinder sind mit einem goldenen Löffel im Munde geboren: für Reiche, ist es möglich jedem Erben Millionen steuerfrei zu übertragen.
Manche Kinder sind mit einem goldenen Löffel im Munde geboren: für Reiche, ist es möglich jedem Erben Millionen steuerfrei zu übertragen.Westend61/imago

Voraussetzung ist natürlich, dass die Familie eben sehr reich ist. Erblasser, die zeitlebens jeden Euro ins kleine Häuschen steckten und dieses dann nach ihrem Tod „auf einen Schlag“ vererben, können die Erben unter Umständen in Schwierigkeiten bringen. Im Zweifel muss dann das von den Eltern hart erarbeitete Haus verkauft werden, um die anfallenden Steuern zu bezahlen.

Die kleinen Leute sind also in doppelter Hinsicht die Verlierer – weil die Eltern sparsam waren, ins eigene Haus investierten und es sich nicht leisten konnten, vorzeitig ihren Sparstrumpf zu verschenken. Im Zweifel braucht man es ja für die Pflege – das ist eine häufige Begründung. Und ja, vorzeitiges Weitergeben birgt in der Tat einige Unabwegbarkeiten und man möchte im Ernstfall nicht mittellos dastehen.

Besonders absurd wird es, wenn – wie es oft geschieht – Eltern oder Großeltern für ihre Enkel etwas ansparen, beispielsweise 10 Euro im Monat, und dafür kein separates Konto auf den Namen des Enkels eröffnen. Dieses angesparte Geld wird beispielsweise im Falle der Pflegebedürftigkeit der Großeltern vom Sozialamt eingezogen, wenn kein weiteres Vermögen da ist. Selbst um eine kleine Starthilfe „richtig“ zu verschenken oder zu vererben muss man sich also vorher gut informieren. Auch hier sind die kleinen Leute benachteiligt.

Ist das deutsche Erbrecht angemessen?

Ist das deutsche Erbrecht angemessen? Augenscheinlich nicht: Während Vermögende jedem ihrer Kinder an der Schwelle zum Erwachsenwerden zweieinhalb bis 5 Millionen Euro mit auf den Weg geben können und damit dieses Geld durch die Umgehung der Besteuerung in Teilen auch der Allgemeinheit vorenthalten, schaut der einfache Bürger dumm aus der Wäsche, denn er kann gar nicht von den Freibeträgen profitieren.

Ein durchschnittlicher Arbeitnehmer schafft es nach Angaben des Statistischen Bundesamtes in etwa 10 Prozent seines Nettoverdienstes zu sparen. In 45 Arbeitsjahren kommen selbst durch diszipliniertes Sparen nur etwa 160.000 Euro zusammen, auf die (sofern nicht zusätzlich ein Haus oder weiteres Vermögen vererbt wird) auch keine Steuer anfällt. Dies ist nicht wenig Geld – aber eben nichts im Vergleich zu den Beträgen, die die oberen 10 oder 20 Prozent der Gesellschaft steuerfrei verschenken können.

Der durchschnittliche Arbeitnehmer in Deutschland müsste übrigens 670 Jahre lang arbeiten und kontinuierlich 10 Prozent vom Lohn ansparen, um auf 2,4 Millionen zu kommen, die so mancher Spross aus finanziell begünstigten Familien eben schon zur Volljährigkeit steuerfrei vermacht bekommen hat. Die moderne Version von „Wohlstand für Alle“ halt.

Vor diesem Hintergrund wäre eine Abschaffung der Regelung wiederkehrender Freibeträge für Erbschaften und Schenkungen sinnvoll, um die eklatante Benachteiligung der ärmeren Mehrheit der deutschen Bevölkerung zumindest ein wenig abzumildern. Eine große Reform der Erbschaftssteuergesetze wäre ein Schritt zu deutlich mehr Chancengleichheit und Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft und könnte helfen, den sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhalt maßgeblich zu verbessern. Die derzeitigen Freibeträge nützen vor allem denen, die sich es leisten können: den Kindern der (laut Credit Suisse) ca. 100.000 Deutschen, die jeweils ein Vermögen von mehr als 10 Millionen Euro besitzen. Öffentlich debattiert wird darüber wenig.

Denis Huschka ist promovierter Soziologe und arbeitet als freier Autor und Strategieberater. Er hat als Geschäftsführer zweier Sachverständigenräte der Bundesregierung die Sphären der Wissenschaft und Politik verknüpft.

Transparenzhinweis: Der Autor war von 2006 bis 2011 Mitarbeiter des DIW Berlin.

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