Wie Kriegspropaganda funktioniert – und welche Rolle die „Soldatenmatrix“ spielt
Ein Psychoanalytiker blickt auf die Mechanismen der Kriegspropaganda. Und erinnerte sich an seine Zeit als Wehrpflichtiger der NVA.

Es gibt immer Konflikte in der Welt, manchmal entstehen daraus Kriege. Die Entscheidung zum Krieg ist nicht zwangsläufig. Sobald ein Krieg „ausbricht“, übernehmen schlagartig archaische Emotionen die Führung. Krieg ist nie vernünftig. Kriegspropaganda muss die Vernunft außer Kraft setzen.
Der britische Politiker Baron Arthur Ponsonby stellte vor hundert Jahren fest: „Wird ein Krieg erklärt, ist die Wahrheit das erste Opfer“. Nach dem Ersten Weltkrieg listete er Strukturmerkmale der Kriegspropaganda auf, darunter diese Punkte:
- Wir, die Guten, haben nur gute Absichten, wir machen Krieg nur gezwungenermaßen, Künstler und Intellektuelle unterstützen unsere Sache.
- Der Gegner kämpft mit unerlaubten Waffen, er begeht absichtlich Grausamkeiten.
- Wir begehen Grausamkeiten nur versehentlich.
- Unsere Verluste sind gering.
- Die Verluste des Gegners sind enorm.
Das ist so durchschaubar wie bei einem Streit auf dem Schulhof: „Du hast angefangen!“ – „Nein Du!“. Deshalb müssen edlere Motive dazukommen:
- Unsere Mission ist heilig.
- Der Führer des Gegners dagegen ist ein Teufel.
Es ist Krieg! Wie man archaische Emotionen weckt
So unglaublich primitiv schwarz-weiß funktioniert Kriegspropaganda bis heute. Wieso eigentlich? Schon die Ankündigung „Es ist Krieg!“ mobilisiert wie auf Knopfdruck archaische Emotionen und die entsprechenden Beziehungskonstellationen, wie sie nach Jahrtausenden von Kriegstreibereien und Kriegen in uns bereitliegen.
Der Gruppenanalytiker Robi Friedman aus Haifa fand für diese Konstellationen 2013 den Begriff „Soldatenmatrix“. Jedes Mitglied dieser Matrix wird auf seine spezielle Weise zu einem „Soldaten“. Wir Menschen sind unabdingbar miteinander verbunden. Das Geflecht aus Gefühlen und Beziehungen nennt man „Matrix“. Der Terminus geht auf den Gruppenanalytiker S. H. Foulkes zurück, einen jüdisch-deutschen, nach England emigrierten Nervenarzt. „Grundlagenmatrix“ nennen wir die Matrix, aus der wir kommen, sie reicht stammesgeschichtlich weit zurück. Die Matrix, in der wir leben, heißt „dynamische Matrix“ und die Gefühls- und Beziehungskonstellationen in uns „personale Matrix“. Alle Matrizes stehen immer in Beziehung – untereinander, zur Umwelt und zu anderen Menschen.
Der moderne Mensch ist zu Recht stolz auf seine Individualität und Subjektivität. Im Kriegsfall beeinflusst die in der Grundlagenmatrix bereitliegende Soldatenmatrix die dynamische und personale Matrix, das heißt die gesamte Kultur und jede Person werden sich zwangsläufig verändern. Die Soldatenmatrix spaltet die Welt in Gut und Böse, der Feind darf kein Mensch mehr sein. Ohne solche dehumanisierenden Spaltungen gibt es keinen Krieg. Und: Krieg geht nicht ohne emotionale Spaltungen ab.
Auch wenn Putin es nicht hören will: Es ist Krieg! Die Erschütterung ist für alle spürbar. Die deutsche Regierung spricht von „Zeitenwende“ – Friedenszeiten wenden sich in Kriegszeiten, und die Soldatenmatrix ist eine Uralt-Anpassungsleistung an Kriegszeiten, längst in den tieferen emotionalen Strukturen verortet und dem Bewusstsein kaum noch zugänglich. Wir alle sind betroffen und dürfen auch uns selbst nicht über den Weg trauen. Wenn die zur Soldatenmatrix gehörenden Spaltungsprozesse in gut/böse oder weiß/schwarz, Mensch/Dämon grundsätzlich alle ergreifen, dann sollten wir davon ausgehen, dass auch uns die Emotionen einen Streich spielen: „Wir und Selenskyj sind die Guten, und Putin ist der Dämon“?
Putins pompöse Selbstinszenierung
Zur Besinnung kommen heißt auch Putin zu entdämonisieren. Gehen wir von „uns Guten“ aus: Auf das Konto der USA, Großbritanniens und Frankreichs gehen Kriege unter Missachtung der UN-Charta – im Namen von Freiheit und Demokratie.
So gesehen könnte sich Putins Ausnahmeposition relativieren und er wäre nicht mehr in dieser exklusiven Tyrannenrolle, die nicht nur ihm wichtig zu sein scheint. Seine Selbstinszenierung auf der politischen Weltbühne als alleiniger Weltenlenker ist trotz der pompösen Inszenierungen eine (Selbst-)Täuschung, da können die Bühnenbildner noch so kreativ sein. Diese autoritäre Konstellation ist das Werk einer Gruppe: Jedes Mitglied redet dem Häuptling zum Munde und kocht heimlich seine Suppe – die Finanzoligarchen und auch seine Leute vom KGB oder FSB. Geheimdienste sind trainiert auf Verschweigen und Falschaussagen. So bekommt das monströse Bild Putins einen Beigeschmack von Wahrheit. So weit entfernt vom Leben, von Menschen und Menschlichkeit, spielt es sich leicht mit Tod und Krieg.
Warum Putin den Krieg begonnen hat, werden wir nie erfahren, aber mutmaßen dürfen wir: Er fühlte sich in die Enge getrieben und in seinem Größenselbst getroffen durch zum Beispiel das Werben des Westens um die Ukraine, die sich aus der russischen Einflusssphäre herauslöst, durch die Osterweiterung der Nato. Es gibt viele Denkmöglichkeiten, sicher ist alles mehrfach determiniert. So oder so stellt es ein „Versagen der Diplomatie“ dar. Das Minsker Abkommen blieb jedenfalls auf der Strecke.
Ich wende mich als Arzt und Gruppenanalytiker an die Öffentlichkeit – und weil mich das Thema persönlich angeht. 1962 war ich bei der Nationalen Volksarmee. Im August gab es Alarm, Atomkrieg drohte. Der Generalsekretär der KPdSU Nikita Chruschtschow ließ auf Kuba Atomraketen stationieren. Der amerikanische Präsident J. F. Kennedy drohte daraufhin mit einem Atomschlag. Der Ukrainer Chruschtschow hat übrigens 1954 die Krim der Ukraine geschenkt.
Ich war 19, Kanonenfutter
Der Krieg hätte sich fraglos über Deutschland abgespielt. Ich war 19, im Alter der meisten „Muschkoten“ dieser Welt, jenes einflusslosen Kanonenfutters. Ich war Kraftfahrer in der Munitionskompanie. Der 30 Jahre alte Lkw SIS 151 brauchte 100 Liter Benzin auf 100 km und zehn Liter Öl. Schrott eben. Wir verluden die Munition aus den Bunkern auf die Autos, schlugen eine Lichtung in den Wald, wo die beladenen Autos standen. Da die nicht reichten, wurden Anhänger von den umgebenden LPGs herangeholt und beladen. Der Alarm dauerte bis November, vier Monate, eine Ewigkeit: kein Ausgang, kein Urlaub, elendes Lebensgefühl.
Ich war 19. Meine Mutter hatte schreckliche Angst, ich eigentlich nicht, so konnte ich sie beruhigen. Als der Alarm zu Ende war, gab es Schnaps bis zum Umfallen, ein Riesenbesäufnis. Und es gab Auszeichnungen, Lob von Partei und Regierung sowie Beförderungen: Ich wurde Gefreiter und bedankte mich befehlsgemäß: „Ich diene der Deutschen Demokratischen Republik.“ Hohler geht es nicht. 2006 traf ich bei einer Kriegskindertagung einen Altersgenossen, der 1962 auch Muschkote war, allerdings bei der Bundeswehr. Er sagte, wäre damals eine Atombombe gefallen, hätte er alle Vorgesetzten abgeknallt. Er war immer noch wütend, über 40 Jahre später. Mir tat das gut.
Ich bin emotional sofort auf der Seite der ukrainischen Menschen, die zwischen zwei Großmächten verschaukelt werden sollen. Das erinnert mich an unsere Situation damals. Doch die Ukrainer bleiben nicht Spielball, sie wehren sich gegen die Aggression der Russen und auch gegen doppelte Moral und leere Versprechungen der Europäer und Amerikaner. Diese Bedingungen und der kreuzsympathische kreative Präsident lassen hoffen.
Aber die Soldatenmatrix!
Es wundert nicht, dass Länder, die mitten im Krieg in Trauma, Schmerz, Angst und Hass befangen sind, besonders radikal der Soldatenmatrix anheimfallen: Der Krieg reißt Lücken in den Zivilisations-Firnis und beim Blick in die Erdspalten und Krater kann man die archaische Soldatenmatrix live erleben. „Ruhm und Ehre der Ukraine!“ Männer müssen bleiben. Wer es noch nicht verstanden hat, wie das jahrhundertealte und weltweite Patriarchat entstanden ist, der sollte einen Blick in diese prähistorische Welt werfen.
Was man zunächst nicht bedenkt: Auch eine „Glory“-Stimmung (Triumph und Siegesrausch) in Kriegszeiten führt zu Entdifferenzierungsprozessen und zum Verlust von Empathie, Schuld- und Schamgefühlen, gehört also zur Soldatenmatrix. Nur unter solchen Beziehungsnotständen können Menschen Krieg führen – und Menschen töten.
Das Projekt Europa war doch immer auch das Projekt Frieden, auf das die Europäer stolz waren. In einer „Glory“-Stimmung gilt diese großartige Leistung plötzlich als „naiv“. Diese Verächtlichkeit ist das Werk der archaischen Soldatenmatrix. Und sie erwächst hinter dem Rücken und gegen unseren Willen.
Abstand bekommen, die Perspektive wechseln
Zurzeit wird viel von der europäischen „Familie“ gesprochen, wer dazugehört und wer nicht. Unsere Kultur der Diversität, Pluralität, Menschenwürde und Toleranz ist in Gefahr. Nicht nur durch den Aggressor Putin. Wir selbst sind im Begriff, sie zu demontieren, gegen unseren erklärten Willen. Jeder von uns ist auf seine eigene Art vom Geschehen in der Ukraine emotional betroffen und erfasst von der Soldatenmatrix.
Um so wichtiger, sich nicht weiter in dieses Netz einspinnen zu lassen. Wir haben die Möglichkeit, den zum Handeln nötigen Abstand zu bekommen, zu reflektieren, die Perspektiven zu wechseln, den Verstand einzuschalten – und nicht kritiklos einzustimmen in Ruhmesgesänge oder Durchhalteparolen.
Christoph Seidler ist Nervenarzt und Psychoanalytiker und schreibt über psychosoziale Aspekte als Bedingungen von Erkrankungen und deren Aufklärung. Gerade erschien sein letztes Buch „Warum nur Krieg?“ (Mattes, Heidelberg).
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