130 Jahre Lippenstift: Die Erfolgsgeschichte eines Würstchens

In diesem Herbst sollen die Lippen so rot sein wie saftige Beeren oder so samten wie ein guter Bordeaux. Make-up-Experten haben diese Farben zum Trend erklärt. Und wie immer, wenn Mode- oder Schminktrends für die neue Saison verkündet werden, ist von Schönheit und Jugendlichkeit die Rede, von Streicheleinheiten und Verführung – Versprechen, von denen die Damenwelt seit jeher hofft, dass sie in Erfüllung gehen.

Seit Jahrtausenden färben sich Frauen die Lippen. Schon 3500 v. Chr. gab es eine Art Lippensalbe, wie Funde in der sumerischen Stadt Ur belegen. Frauen haben sich die Lippen aufgebissen, damit sie voller und roter wirkten, sie haben mit gefährlichen Pflanzenextrakten und Pomaden experimentiert, nur um erotischer zu wirken. Geschminkte Frauen wurden als Huren beschimpft oder wie Göttinnen angehimmelt.

Wie ein kleiner Stift das Leben der Mutigen, Gescholtenen und Sittsamen veränderte, zeigt die Ausstellung „Lippenbekenntnisse – 130 Jahre Lippenstift“ im Kunstforum Halle. Sie erinnert an die Weltausstellung 1883 in Amsterdam, auf der französische Parfümeure den ersten Lippenstift präsentierten. Der „Stylo de Amor“ bestand aus gefärbtem Rizinusöl, Hirschtalg und Bienenwachs, einer Mischung, die weder wohlschmeckend noch -duftend klingt.

Das Würstchen, wie der Liebesstift damals despektierlich auch genannt wurde, war in Seidenpapier gewickelt. Vor allem Theaterschauspielerinnen und Suffragetten benutzten den Stift. Sich die Lippen anzumalen, galt als sündhaft und setzte eine gehörige Portion Selbstbewusstsein voraus – konnte sich aber auch nicht jeder leisten: Zu jener Zeit war so ein Stift purer Luxus – auch ohne goldene oder mit Diamanten verzierte Hülsen, die in der Ausstellung zu sehen sind.

Seinen Durchbruch feiert der Lippenstift in den Zwanzigerjahren. Der Charleston ist populär, die Frauen tragen kurze Röcke, rauchen, haben einen Bubikopf und „Bienenstich“-Münder. Die Lippenformen von Stummfilmstars wie Asta Nielsen oder Josefine Baker können mithilfe von Schablonen auf den eigenen Mund übertragen werden. 1923 kommt der erste Lippenstift mit Drehtechnik auf den Markt, schon 1928 gibt es einen Stift mit Sonnenschutzfaktor und 1935 wird in Deutschland ein Lippenstift mit Schiebetechnik patentiert.

Rot bleibt meistgenutzte Farbe

An den Mündern der Frauen ist die politische und wirtschaftliche Lage im Land abzulesen: Während des Zweiten Weltkrieges ist deutschen Frauen das Schminken verboten. Zur selben Zeit wird in den USA eine Beauty-Box mit Spiegel, Puderdose, Lippenstift und Lidschatten für arbeitende Frauen entwickelt.

Mit dem deutschen Wirtschaftswunder wird der Lippenstift zum Allgemeingut. In der Plastikhülle kostet er nur 1,50 Mark. Hildegard Knef und Liz Taylor werben für den „Volkslippenstift“, und es ist nicht mehr eine Frage des Geldes, ob frau sich schminkt, sondern eine Frage der Prioritäten, die sie setzt, des eigenen Geschmacks und der Mode.

Doch ausgerechnet in den Sechzigerjahren, in denen es schick ist, mädchenhaft wie die magere Twiggy auszusehen und sich die Lippen nur mit Gloss nachzuziehen, besingt Cliff Richard die roten Lippen eines schönen Fräuleins und landet mit seinem Song am 7. Dezember 1963 auf Platz eins der Hitparaden. „Rote Lippen soll man küssen“ – so der deutschsprachige Titel von „Lucky Lips“ – hält die Spitzenposition sieben Wochen lang.

Ob sich das Loblied auf die roten Lippen in irgendeiner Weise auf die Lippenstiftproduktion ausgewirkt hat, ist nicht bekannt. Rot, die Farbe der Liebe und des Glücks, aber bleibt die meistbenutzte Lippenstiftfarbe – egal, ob wie in den Sechzigern Pastelltöne oder in den Neunzigern transparente Lippenfarben in Naturtönen angesagt sind. Einer Umfrage von TNS Infratest zufolge benutzen 53 Prozent aller Frauen vor allem rote Lippenstifte.

Wertvolle Öle, Liposome und Vitamine

Inzwischen können Lippenstifte viel mehr als färben und vor Sonnenbrand schützen. Sie aktivieren das Collagen und lassen die Lippen voller aussehen – in der zweiten Hälfte eines weiblichen Lebens kann das wichtiger sein als die Kussechtheit. Und auch wenn schon in früheren Zeiten gern der Gesundheitsaspekt der Lippenpflege – und sei es nur zur Legitimation des Stifteinsatzes – angeführt wurde, enthalten viele Produkte heute wertvolle Öle, Liposome und Vitamine und gehören in die Kategorie Bio-Kosmetik.

Da lässt nicht einmal der Umstand, dass eine Frau, die sich regelmäßig schminkt, im Laufe eines Jahres einen ganzen Lippenstift verschluckt, die Hand vor dem Spiegel zurückzucken. Gegen ein Schönheitsprodukt, das noch dazu gesund ist, kann nicht einmal die entschiedenste Make-up-Verweigerin etwas haben. Und so gehört der Lippenstift heute zu den meistverkauften Schönheitsprodukten weltweit.

Mag sein, dass der massenhafte Gebrauch des kleinen Stiftes auch etwas mit der Wirtschaftskrise zu tun hat. Leonard Lauder, Sohn der Kosmetik-Unternehmerin Estée Lauder, entwickelte 2001 gar den wissenschaftlich nicht belegten Lippenindex, demzufolge die Frau in Zeiten von Wirtschaftskrisen häufiger zum Lippenstift greift – wohl, so die Theorie, um vom nicht mehr ganz so neuen Kleid abzulenken.

Männer hingegen finden nicht nur den perfekt geschminkten Mund anziehend. Eine Frau beim Nachziehen der Lippen zu beobachten, ist für sie mindestens genauso erotisierend. So oder so: Im uralten Spiel zwischen Mann und Frau hat der „Stylo de Amor“ noch lange nicht ausgedient.