Abschied aus Kairo: Die Stadt der Überlebenskünstler
Kairo - Die Pyramiden von Giza im Rücken, das flimmernde Kairo zu Füßen – wer sich um die Mittagszeit bei den pharaonischen Wahrzeichen Ägyptens aufhält, kann ein akustisches Spektakel der besonderen Art erleben. Gegen zwölf Uhr erhebt sich mit einem Mal ein Gequake und Gesumme aus den Häuserschluchten der 25-Millionen-Metropole, das aus 100.000 Lautsprechern gen Himmel steigt. Munter trompeten Allahs Vuvuzelas für ein paar Minuten durcheinander – die guten und die schlechten Sänger, die verfrühten und verspäteten.
Fünfmal am Tag schallt der so genannte Azzan, der Gebetsruf der Muslime, durch die Stadt am Nil, die jeden Besucher fasziniert – mit ihrem orientalischen Charme, ihrer Vitalität, ihrer Frömmigkeit. Jeder zweite Taxifahrer betört sich in seinem Wagen den ganzen Tag mit lauter Koranmusik. Im Ramadan gilt das Durchmurmeln des Korans von vorne bis hinten als wichtiger Schritt in Richtung Paradies. Egal ob in der überfüllten Metro, auf abgewetzten Stühlen vor Hauseingängen oder zwischen parkenden Autos auf der Bordsteinkante.
Lieber beten als schlafen
Mindestens 4000 Moscheen beherbergt die ägyptische Hauptstadt plus 50.000 Minigebetsräume, Zawayas genannt. Die Lautsprecher auf den Dächern sind bisweilen größer als die frommen Garagenmoscheen im Erdgeschoss, die dem Hauseigentümer ewigen Lohn im Himmel und einen prächtigen Steuervorteil auf Erden bescheren. Doch immer mehr Bürger beschweren sich beim zuständigen Ministerium für religiöse Stiftungen, wenn ihr lokaler Muezzin morgens um vier mit 130 Dezibel sein „Beten ist schöner als Schlafen“ durch ihre Wohnstraße dröhnt. Selbst die altehrwürdige Lehranstalt Al Azhar wertete die Kairoer Praxis als „Lärmbelästigung“.
Trotzdem will es nicht gelingen, dem penetranten Sendungsbewusstsein einen Riegel vorzuschieben. Für Scheich Ismail Nourmani, der der „Moschee des Lichtes“ an der Nil-Corniche vorsteht, sind seine täglichen Gebetsrufe „heilige Pflicht“. Auch der Nebenerwerbs-Iman Khaled von der Zawaya nahe dem Fini-Platz im Stadtteil Dokki, der gleich drei große Lautsprecher hoch oben auf dem Dach am Himmelssaum betreibt, kann die ganze Aufregung nicht verstehen. Dass er morgens die gesamte Nachbarschaft für eine halbes Dutzend Frühbeter aus dem Schlaf reißt, quittiert er mit gottgewissem Achselzucken. Er rufe seit 25 Jahren und würde das gerne noch weitere 25 Jahre tun, wenn Allah ihm das vergönne. Wem das nicht passe, meint er, der könne ja wegziehen.
Neun Jahre haben wir Khaleds blechernes Gotteslob ertragen, jetzt ziehen wir weg – von Kairo nach Tunis. Wir verlassen Kairo, die Stadt, die schon beim Anflug wirkt wie eine endloser Teppich aus staubig-braunen Häuserklötzchen, durch deren Mitte sich schwarz und träge der Nil schlängelt. An Tagen, wenn die gelblich-diesige Abgasglocke nicht allzu tief hängt, kann man aus der Luft sogar die Pyramiden ausmachen, das einzige noch existierende Weltwunder der Antike.
Kairo, die Stadt des Gebets und des Lasters, die Stadt der tausend Minarette und tausend Nachtclubs, die Stadt der guten Laune, der schlechten Luft und des heillosen Verkehrschaos’. Schwarz qualmende Minibusse mischen sich mit ratternden Tuk-Tuks, Eselskarren mit Pferdekutschen, funkelnde deutsche Edelschlitten kreuzen zwischen Rostlauben aus den 50er-Jahren. Dazwischen Heerscharen von Pizzafahrern auf Mopeds, die sich alle zusammen unter permanentem Hupen durch die Straßen wälzen.
Fast jeder ist auf das Auto angewiesen, öffentliche Busse sind eine Seltenheit. „Fahr auf die Seite, du Eselskutscher“, das ist der Standardfluch hinter dem Steuer. Kein Wunder, dass Kairos Bürgermeister seit einem halben Jahrhundert versuchen, die Eselskarren von den Straßen verbannen. Diese Gefährte seien ein Gefahr für den Verkehr und verbreiteten ein schlechtes Image von Ägypten, argumentierten sie. Sechs Mal nahmen die Stadtväter seit 1973 Anlauf, zuletzt 2016 – ohne jeden Erfolg.
„Es stimmt, dass unsere Karren bisweilen den Verkehr behindern“, räumt einer ein, der mit seinem Vehikel in unserer Straße in Dokki Alteisen und Papier sammelt und dessen Esel nachts mit im Haus schläft. „Doch bei den verstopften Straßen“, sagt er, „kommen auch die Autos nicht mehr viel schneller voran.“
Sich in solchen Zuständen Tag für Tag durchzuschlagen, braucht ein breites Spektrum an Charaktereigenschaften. Und so sind Ägypter meist beides – liebenswürdig und verbohrt, humorvoll und aufbrausend, hilfsbereit und rücksichtslos. Ihre megalomane Nil-Metropole ist das Herz der Arabischen Welt. 2011 feierten die Bewohner auf dem Tahrir-Platz die erste Revolution seit den Pharaonen. Damals zogen die enthusiastischen Bilder des Arabischen Frühlings die Welt in ihren Bann. Kairo wurde im Nahen Osten zur Drehscheibe der Hoffnung.
Heute, gut sechs Jahre später, ist nichts davon geblieben. Alle Blütenträume sind verwelkt, die altbekannte Ohnmacht zurückgekehrt. Die Menschen auf den Straßen sind stumm und verängstigt. Mit ihren politischen Sehnsüchten haben sie sich wieder verkrochen in die virtuelle Welt von Twitter und Facebook.
Politisch herrscht Friedhofsruhe. Mehr als 60.000 Menschen sind hinter Gittern, Hunderte Aktivisten spurlos in den Fängen des Geheimdienstes verschwunden. Das neue Gesetz für Nichtregierungsorganisationen wird auch noch die Reste der Zivilgesellschaft ersticken. Selbst das renommierte „Nadeem Zentrum zur Behandlung von Opfern von Gewalt und Folter“, die einzige Hilfsadresse für Misshandelte im ganzen Land, wurde zum Aufgeben gezwungen.
Exzessive sexuelle Gewalt
Seit der Eröffnung des Zentrums im Jahr 1993 habe es in Ägypten noch nie solche Zustände gegeben, beklagt Nadeem-Mitbegründerin Aida Seif al-Dawla beim Gespräch in ihrer Wohnung. Die Brutalität der Folter habe extrem zugenommen. In den Gefängnissen gebe es „exzessive sexuelle Gewalt“ – gegen Frauen und Männer gleichermaßen. Die Staatsschläger agierten ohne jede Skrupel. Sie brüsteten sich offen ihrer Untaten – getragen von einem durch Medien und Regime aufgehetzten öffentlichen Klima, sagt die Psychiatrie-Professorin, die an der Ain Shams Universität lehrt. „Wir werden euch die Luft zum Atmen nehmen“, habe ein Regimemitglied kürzlich zu ihr gesagt, „und das ist das, was sie tun.“
Im Kairoer Alltag merkt man von diesem politischen Brodeln noch wenig. Attentate richten sich vor allem auf Polizeiposten an den Rändern der Stadt. Wie eh und je herrscht in den warmen Nächten unbeschwerter Betrieb auf den Nilbrücken, wenn sich deren Fußgängerstreifen in improvisierte Open-Air-Cafés verwandeln.
„Ägypter sind Überlebenskünstler“
Die weißen, roten und gelben Plastikstühle entlang der staubigen Geländer sind voll besetzt, fliegende Teekocher und Cola-Verkäufer bedienen die Kundschaft, die inmitten der Abgase die leichte Brise nach Sonnenuntergang genießt. Auf der berühmten Qasr-el-Nil-Brücke mit ihren vier Bronzelöwen stehen junge Paare Hand in Hand am Geländer. Musiker trotzen dem Verkehrsgetöse mit ihrer Gitarre. Dazwischen dösen Angler, die oft nur dornige Zweige aus dem trüben Wasser ziehen.
„Ägypter sind Überlebenskünstler“, sagt Abdel-Halim Ibrahim, Architekt und Städteplaner an der Kairo Universität. Ihn wundere immer, wie Menschen unter solchen Umständen nicht nur durchhalten, sondern auch noch Glück empfinden können. „Für mich ist das der Kern der ägyptischen Kultur: Sie hat viele Tausend Jahre erlebt, und sie wird weiter überleben.“
So wie in Sichtweite der Brückenlöwen in dem hellerleuchteten Musiktempel auf der Nil-Insel Zamalek, in dem sich die Vornehmen und Kulturbewussten der Stadt zu Opern und Symphonien treffen. Wer hier als Dirigent oder erster Geiger arbeitet, braucht eiserne Nerven. In jeder Vorstellung schellen Handys, Touchscreens leuchten, Zuschauer twittern und texten. Zwischendurch knallen hinten die Saaltüren, weil jemand auf Toilette muss oder ein ganzer Clan zu spät kommt. Richtig still wird es nie im halbrunden Auditorium, es sei denn, das Orchester prügelt die Unruhe entschieden nieder – mit Beethovens Fünfter oder dem Radetzky-Marsch.
Bier aus der Schatzkammer
Von solchen Kulturkämpfen im Opernhaus weiß Rida al Baguri nichts, auch wenn er seit Jahren mit einem speziellen Kulturgut handelt. Früher war der weißhaarige 63-jährige Offizier in der ägyptischen Armee, jetzt nennt er sich „King Soliman“. Jeden Tag um 17 Uhr, eine Stunde vor Sonnenuntergang, lässt er am kleinen Soliman-Gohar-Platz in Dokki das schwere Metallrollo hochrasseln, das den Blick freigibt auf die dunklen Holzregale seines Laden, vollgestopft mit alten Radios, Grammophonen und betagten Uhren. Bald treffen die ersten Kunden ein, verschwinden im Inneren und verlassen den Ort wenig später schwer bepackt – in jeder Hand eine dicke schwarze Plastiktüte. Denn „King Solimans“ verstaubte Musikaliensammlung dient nur als Fassade. In Wahrheit ist er einer von mehreren Hundert nicht-lizensierten Alkoholhändlern, die das spärliche Angebot der 19 offiziellen „Drinkies“-Läden ergänzen.
Verborgen in seiner Schatzkammer hinter der braunen Schiebetür lagert Rida al Baguri wandhoch die einheimischen Weine. In den beiden Kühlschränken stapelt sich das ägyptische Bier der Marken Sakkara und Stella. Lediglich vom gefälschten schottischen Whisky in seinem Sortiment rät er seinen deutschen Kunden mit besorgter Miene ab. Dabei schwört er, noch nie auch nur einen Tropfen gekostet zu haben. Schließlich sei er ein guter Muslim, und Alkohol ist im Islam verpönt. Was er dann über seine Kunden denke? „Ich bin nur ein einfacher Händler“, sagt Rida al Baguri. „Möge Allah über meine Kunden richten.“ Eine Straße weiter ruft der Nebenwerbs-Imam Khaled in gewohnter Lautstärke zum Abendgebet.