Berlin-„Corona zerstört gerade die Zukunft meiner Generation. Wir brauchen mehr Zusammenhalt in der EU, um dieses Problem zu lösen.“ Das sagt Nini Tsiklauri, 28, Schauspielerin und Europa-Aktivistin. Mit ihrem Buch „Lasst uns um Europa kämpfen“ möchte sie das sperrige Thema für Jüngere mit positiven Emotionen aufladen und legt ein leidenschaftliches Plädoyer für die EU vor. Die georgischstämmige Autorin blickt schon in jungen Jahren auf ein Leben voller Wendungen zurück, das sie nicht zuletzt zur politischen Aktivistin gemacht hat.
Berliner Zeitung: Frau Tsiklauri, in Ihrem Buch schreiben Sie: „Die EU ist das Beste, was wir als Menschheit geschaffen haben.“ Die EU in allen Ehren, aber ist das nicht übertrieben?
Nini Tsiklauri: Natürlich, da muss ich eingestehen: Die EU in ihrer derzeitigen Verfasstheit ist nicht gerade ein strahlender Leuchtturm, eher ein unbeständig flackerndes Licht. Der Brexit, illiberale Entwicklungen in Polen und Ungarn sowie eine Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners – gerade auch jetzt beim neuen EU-Migrationspakt: Das alles hat das Vertrauen in die EU erschüttert. Mit dem Satz wollte ich zum Ausdruck bringen, dass die Idee der EU grandios ist: Viele Nationen friedlich unter einem Dach vereint, die das Verbindende in den Mittelpunkt stellen und sich gegenseitig die Hand reichen – das ist es, was die EU ideell ausmacht.
Sie sind in Georgien geboren, Ihre Eltern sind mit Ihnen nach Ungarn geflüchtet, als Sie ein Baby waren, und gingen dann wieder zurück nach Georgien, als Sie acht Jahre alt waren. Anschließend wanderten Sie nach Deutschland aus, heute leben Sie in Wien. Eine europäische Biografie.
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So kam es auch, dass Ungarisch meine Muttersprache wurde und ich erst mit acht Jahren richtig Georgisch lernte, mitsamt georgischer Schrift. Dort in der Schule in Tiflis war das erste Gedicht, das ich gelernt habe, kein georgisches, sondern „Gefunden“ von Goethe. Da hat sich das Bild von Deutschland als Land der „Dichter und Denker“ bei mir verinnerlicht - und eine magische Anziehungskraft ausgeübt.
Und dann kamen Sie nach Deutschland. Wie war das für Sie?
Ich war zehn Jahre alt, als wir in Osnabrück ankamen. Ich habe mich sofort willkommen und gut aufgenommen gefühlt – vielleicht auch, weil in dieser Stadt die Menschen sich untereinander zuerst als Osnabrücker wahrgenommen haben und erst dann als Deutsche. Ähnlich, wie ich das heute in Wien und Österreich erlebe. Traurig machte mich, dass Georgien auf den Landkarten Europas nicht eingezeichnet war. Geografisch gehört Georgien zwar nicht mehr zu Europa, kulturell aber schon. Ich bezeichne daher mein kleines kaukasisches Heimatland gerne als den Balkon Europas.
Aber Sie berichten auch von einer schmerzhaften Erfahrung.
Das war 2008, als wir unsere Verwandtschaft besuchten. Wir sind mitten in den zehntägigen Kaukasuskrieg hineingeraten und mussten unseren Heimaturlaub abbrechen. Ich flüchtete ein zweites Mal - diesmal bewusst. Und fuhr mit meiner Familie über eine zerbombte Straße, atmete den Rauch von detonierten Bomben ein und sah Häuser in Flammen. Es war pures Glück, dass uns nichts passiert ist. Damals habe ich mir geschworen, für Frieden und Gerechtigkeit einzutreten, wo ich nur kann. Das mache ich jetzt auch mit der überparteilichen Bewegung „Pulse of Europe“, die ich nach Wien geholt habe.
Was sind die europäischen Werte für Sie ganz persönlich?
Oft heißt es ja, Europa sei von Anfang an eine bloße Wirtschaftsgemeinschaft gewesen, aber diese Annahme ist grundfalsch. Europa ist eine Gemeinschaft, deren Grundprinzip die Solidarität ist – die zugegebenermaßen brüchig geworden ist. Für mich sind die Werte in erster Linie Demokratie und Freiheit. Sie machen unser Leben hier lebenswert. Auch wenn das nach Floskeln klingt. In Georgien gibt es nicht wenige Menschen, die für den Einsatz für diese Werte sterben.

Buch: Nini Tsiklauri: Lasst uns um Europa kämpfen. Mit Mut und Liebe für eine starke EU (Edition a)
Haben Sie ein aktuelles Beispiel?
Im vergangenen Jahr fand die erste Pride Parade in Tiflis statt. Die orthodoxe Kirche rief im Vorfeld dazu auf, die friedlichen LGBTQ-Demonstranten mit Steinen zu bewerfen. Die Menschen sind trotzdem zum Umzug gekommen, sie ließen sich nicht einschüchtern.
Hierzulande nehmen wir solche Freiheiten längst für selbstverständlich. Kommt aus Ihrer Sicht auch daher eine gewisse Abgeklärtheit, was den europäischen Gedanken angeht?
Genau das beobachte ich. Vor allem für viele junge Menschen, die in Deutschland oder etwa Österreich nach 1990 geboren wurden, sind Frieden, Freizügigkeit und Wohlstand etwas, das immer verfügbar scheint. Dass das eine falsche Sicherheit ist, sehen wir seit ein paar Jahren – und gerade Corona zeigt uns leider sehr schmerzhaft, wieviel auf dem Spiel steht.
Sie sagen, Corona zerstöre die Zukunft Ihrer Generation. Inwiefern?
„Lost“ ist gerade zum Jugendwort des Jahres gewählt worden – und auch ich habe noch nie so viel von diesem Wort gefühlt, wie in diesem Jahr. Freunde mussten Praktika absagen, verloren einen sicher geglaubten Job. Durch die Grenzschließungen konnten sich Paare über längere Zeit nicht mehr sehen und die Jugendarbeitslosigkeit schnellt gerade in südlichen Ländern wieder nach oben.
Kann vielleicht auch deswegen Corona zur Chance für ein solidarischeres Europa werden?
Unbedingt! Das ist tatsächlich meine ganz große Hoffnung. Aber es kann auch ganz anders kommen. Aktuell stehen wir vor einer Weggabelung: Gibt es angesichts der Krise langfristig eher einen Rückzug ins Nationale oder erkennen wir, dass das Virus nicht vor Ländergrenzen halt macht und wir seine Ausbreitung und auch seine Auswirkungen nur gemeinsam bekämpfen können? Ich plädiere natürlich für den zweiten Weg. Was mich hoffen lässt, ist, dass einige von uns jungen Menschen momentan viel Zeit zum Nachdenken und Reflektieren haben.
In Ihrem Buch findet sich ein Do-it-yourself-Rettungsplan zugunsten des europäischen Projekts. Sie empfehlen unter anderem, die „Ode an die Freude“ als Handy-Klingelton zu installieren. Sicher, dass das Begeisterung für Europa weckt?
Ich benutze die Melodie selbst und Menschen sprechen mich öfter darauf an, etwa in der Trambahn. Manchmal ergeben sich spontane, längere Gespräche zu Europa – und mitunter beginnen Menschen mit einer negativen Haltung zur EU diese zu überdenken. Es geht mir um die Sichtbarmachung Europas, und da zählen auch kleine symbolische Akte. Das kann auch ein „I love EU“-Sticker sein oder eine Europaflagge, die am Balkon hängt.
Gestern haben wir unsere @PulseofEurope #HausParlamente in eine selbstgebaute, virtuelle und interaktive Stadt (@gather_town) verlagert! Eine heiße Empfehlung für #Corona Zeiten und darüber hinaus. https://t.co/e4BSdcXNJb
— Nini Tsiklauri 🇪🇺 (@ninitsiklauri) October 15, 2020
Was wünschen Sie sich für Europas Zukunft?
Ich möchte, dass Brüssel und die EU-Kommission nicht länger als Sündenbock für Dinge herhalten müssen, die eigentlich die nationalen Regierungen zu verantworten haben. Probleme werden viel zu oft projiziert und der eigene Einfluss auf das politische Geschehen geleugnet. Das muss unbedingt aufhören. Gleichzeitig muss das Fundament, das Europa ausmacht, stärker geachtet und respektiert werden.