Amoklauf von Winnenden am 11.03.2009: Die Opfer leiden bis heute
Winnenden - Elena hat noch genau vor Augen, was vor zehn Jahren geschah. „Die Tür wurde aufgerissen, dann fing er schon an zu schießen. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich auch getroffen wurde, bis ich merkte, dass ich eine Verletzung an meinem Oberarm habe.“ Die junge Frau, heute Mitte zwanzig, schildert ihre Erinnerungen in einer SWR-Dokumentation über den Amoklauf von Winnenden mit ruhiger, gefasster Stimme. Sie denke nicht mehr jeden Tag daran, was damals passiert ist, sagt sie noch. Aber an manchen Tagen überwältige sie das Erlebte doch noch.
„Ich habe damals meine drei besten Freundinnen verloren“, sagt sie. Elena selbst, von fünf Kugeln schwer verletzt, überlebte knapp.
Morde eines Einzelgängers
Es ist der Morgen des 11. März 2009, als der 17-jährige Tim Kretschmer die Beretta-Pistole seines Vaters und 285 Schuss Munition an sich nimmt. Waffe und Pistole sind nicht weggesperrt, wie es eigentlich Vorschrift ist, sondern liegen im Kleiderschrank des elterlichen Schlafzimmers. Kretschmers Vater, ein Unternehmer, wird deshalb anderthalb Jahre später wegen fahrlässiger Tötung zu einer Bewährungsstrafe verurteilt werden.
Der 17-Jährige, der seit dem vorangegangenen Herbst im kaufmännischen Berufskolleg lernt, verlässt kurz nach 9 Uhr das Haus. Zu Fuß geht er zur nahen Albertville-Realschule, wo gerade seine jüngere Schwester Unterricht hat. Auf der Toilette im Untergeschoss lädt er die Pistole und verstaut die übrige Munition in den Taschen seiner Jacke. Es ist 9.30 Uhr, als er im Obergeschoss vor dem Raum 305 steht, der bis zum Sommer 2008 sein Klassenzimmer gewesen ist. Dort wird gerade die 9c unterrichtet, die Klasse von Elena. Gleich wird Tim Kretschmer die Tür aufreißen und sein Morden beginnen.
Gehänselt und verspottet
Später wird der 17-Jährige in den Medien als Einzelgänger beschrieben, als jemand, der kaum Freunde hatte und stundenlang Ballerspiele am Computer spielte. Der gehänselt wurde, weil er sich altmodisch kleidete und Koteletten wachsen ließ, und den Mitschüler als Riesenbaby und Sexiest Man Alive verspotteten. Aber reicht das als Motiv für einen Massenmord?
Schon kurz nach den ersten Schüssen in der Schule geht ein Notruf bei der Polizei ein. Fünf Minuten später sind drei Beamte vor Ort. Anders als beim Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium, wo die Polizei sieben Jahre zuvor das Schulhaus nicht zu betreten wagte, warten die Beamten in Winnenden nicht auf ein Sondereinsatzkommando, sondern stürmen selbst in die Schule. Zu diesem Zeitpunkt hat der Amokschütze bereits acht Schülerinnen, einen Schüler und drei Lehrerinnen erschossen.
Kretschmer feuert auf die Polizisten und ergreift die Flucht. Im Park des benachbarten Krankenhauses erschießt er einen Gärtner und nimmt einen Autofahrer als Geisel. Nach 40 Kilometern, an der Autobahnausfahrt Wendlingen, steuert der Fahrer den Wagen auf einen Grünstreifen und kann fliehen. Kretschmer läuft in ein nahe gelegenes Autohaus, wo er zwei weitere Menschen tötet. Als die Polizei eintrifft, liefert er sich mit den Beamten ein kurzes Feuergefecht, bevor er sich gegen 13 Uhr mit einem Schuss in den Kopf selbst tötet.
"Ich habe einen Traum"
Zehn Jahre später gibt es die Albertville-Realschule in Winnenden immer noch, auch wenn die Stadt anfangs über einen Abriss nachdachte. „Wir haben uns gefragt, kann man an einem Ort, wo so etwas passiert ist, wieder Schule machen? Kann an einem solchen Ort wieder Gemeinschaft entstehen, das Gefühl von Sicherheit?“, sagt Norbert Sailer, damals Bürgermeister von Winnenden. Doch statt sie abzureißen, wurde die Schule umgebaut und erweitert. Große Glasfronten prägen heute das Gebäude, offene, helle Unterrichtsräume und ein Motto, das an der Fassade steht: „Ich habe einen Traum.“
Die drei Klassenzimmer allerdings, in denen Schüler und Lehrer starben, sind umgestaltet worden. Elenas Klassenzimmer, in dem ihre Freundinnen verbluteten, beherbergt heute die Bibliothek der Schule. Hier steht ein „Regal der Solidarität“, in dem Briefe von Schülern aus der ganzen Republik gesammelt werden. Der ehemalige Chemiesaal, ebenfalls ein Tatort, bietet heute der „Schülerfirma“ einen Raum. Hier können die Jugendlichen etwa gemeinsam Kaffee rösten und Kleidungsstücke nähen. Ein drittes Klassenzimmer ist als Gedenkraum gestaltet. Weiße Wände, an der Frontseite stehen Datum und Uhrzeit an der Wand, als der Amoklauf begann: „11.03.2009 9.33 Uhr“. 15 kleine weiße Tischpulte stehen im Raum, eins für jedes Opfer und gestaltet von den Hinterbliebenen. Bilder der Toten stehen darauf, Kerzen, Fotobücher, Schulhefte, Musik-CDs, verwelkte Rosen, Kuscheltiere… Erinnerungsstücke.
Prävention gegen Mobbing
Auch die 28.000 Einwohner der nordöstlich von Stuttgart gelegenen Stadt haben einen Ort des Gedenkens. Unweit der Schule steht ein ringförmiges Stahl-Monument des Künstlers Martin Schöneich. „Der gebrochene Ring“ heißt das acht Tonnen schwere Kunstwerk, das sich auf einer Seite in die Höhe schwingt, als bäume es sich auf. Durch eine schmale Bruchstelle kann man sich ins Innere des Ringes zwängen, wo im Stahl die Namen der Toten verewigt sind. Seit dem Amoklauf gibt die Stadt zudem mehr Geld aus für Präventionsprojekte gegen Mobbing und Gewalt unter Jugendlichen, man finanziert Sozialarbeiter und Antiaggressionstraining an den Schulen.
Kurz nach dem Amoklauf hatten Opferangehörige ein „Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden“ gebildet, das sich heute „Stiftung gegen Gewalt an Schulen“ nennt. Das Bündnis forderte die Politik auf, die Waffengesetze zu verschärfen und die Gewaltdarstellungen in den Medien einzuschränken. Vorrangiges Ziel der Initiative war und ist das Verbot großkalibriger Waffen. 100.000 Unterschriften standen unter einer entsprechenden Petition, die das Aktionsbündnis im Juni 2010 dem Bundestag übergab. Aber mehr als einen Teilerfolg hat man bislang nicht erreicht: Zwar ist Jugendlichen der Umgang mit großkalibrigen Waffen inzwischen verboten, und auch die Überprüfung von Waffenbesitzern wurde verschärft.
Doch die Hauptforderung der Hinterbliebenen von Winnenden, den privaten Besitz großkalibriger Waffen generell zu verbieten, hat die Politik bislang abgewehrt.