Ukraine mit Waffen unterstützen oder nicht? Keiner kommt hier mit sauberen Händen raus
Wer das Manifest von Wagenknecht/Schwarzer unterstützt, muss harte Kritik ertragen. Das erinnert unseren Kolumnisten an Debatten in der Pandemiezeit.

Der Gesundheitsminister ist immer noch im Amt. Mag sein, dass der Kanzler diese Figur als „Nie wieder“-Mahnmal auf ihrem Postensockel belässt. Allerdings kann Karl Lauterbach, das muss der Neid ihm lassen, einen stets aufs Neue verblüffen. Jüngst mit dem Lamento, seiner Nonstop-Panikmache sei nicht vehement genug widersprochen worden: „Die Stimmen, die eine Ansteckungsgefahr durch Kinder anerkannt haben und sich trotzdem gegen Schulschließungen ausgesprochen haben, waren nicht laut genug.“ Chuzpe ist ein karges Wort.
Es gab damals eine Reihe von Fachleuten und Millionen interessierte Bürger, die Corona zwar für eine ernst zu nehmende Infektionskrankheit hielten. Doch Dauer-Schulschließungen, Ausgangssperren oder Masken unter freiem Himmel fanden sie maßlos und die Grundrechte missachtend. Viele machten sehr wohl den Mund auf. Nur selten in Talkshows. Dort wohnte ja schon Lauterbach. Ersatzweise durften diese Leute sich als unsolidarische Schwurbler geißeln lassen: Ihnen sei schnuppe, ob Oma keine Luft mehr kriegt. Amoralisch sie alle, nichts anderes.
Es gibt eins auf den Deckel
Der an Maßnahmenkritikern trainierte Umgangston hat die Pandemie überlebt. Die Seuche nach der Seuche. Das erfahren gerade die Damen Schwarzer und Wagenknecht sowie jene, die sich ihrem „Manifest“ zur deutschen Kriegsteilhabe anschließen. Aus gut informierten Quellen lernen sie allerhand über ihre Existenz als Charakterkrüppel.
Der Aufruf sei „unerträglich“, meldet t-online. „Gewissenlos“, findet ihn Historiker Münkler. „Zynismus pur“, sieht Politologe Masala und einen „Ausdruck übelsten Nationalpazifismus‘“. Die taz nennt das Papier „politobszön“ und bescheinigt den Signatarbürgern: „Amoralisch sie alle, nichts anderes.“
Das „Manifest“ hat blinde Flecken
Die im Osten größere Zustimmung wird von der FAZ erkannt als „das Echo der Angst aus den Nischen einer untergegangenen Diktatur“. Hello again, da sind sie wieder, die DDR-deformierten Gemüter. Der Tagesspiegel diagnostiziert: „Die Unterzeichner lehnen es ab, mit der Angst vor einer Ausweitung des Krieges zu leben. Die Kosten für die Bewahrung ihres Seelenfriedens bürden sie (…) der Ukraine auf. Das zeugt von moralischer Verkommenheit.“ Ich fasse zusammen: Wer sich in die Hose macht, verfügt nicht nur über ein, sondern ist auch ein Arschloch.
Das „Manifest“ hat blinde Flecken. Es lässt, keine Frage, Fragen offen: Darf Aggression sich lohnen? Ist es Opfern zumutbar, mit Verbrechern Kompromisse zu machen? Was, wenn Putin nicht verhandeln will? Doch auch die Gegenseite hat Leerstellen: Wann ist Russland besiegt? Wann hat die Ukraine nicht verloren? Werden Waffen geliefert, bis niemand mehr da ist, um sie abzufeuern? Erwächst aus dem Kiewer Kampfgeist die Pflicht anderer, gleichermaßen All-in zu gehen?
Keiner kommt hier mit sauberen Händen raus. Das haben Dilemmata so an sich. Im Personalwesen wird ständig von Respekt und wertschätzender Kommunikation geredet. Gute Idee. Sich gegenseitig moralisch in die Tonne zu treten und menschliche Elementar-Features abzusprechen, hat nur Sinn, wenn man in schalldichten Lauterbach-Kokons leben will.
Ich habe mich zum verkommenen Gesocks gesellt, als der Unterschriftenzähler bei 450.000 stand. Auf der einzig richtigen, guten geschweige denn sicheren Seite stehe ich damit keineswegs. Nur sollen nachher nicht wieder Klagen kommen, der Widerspruch sei zu leise gewesen.
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