Protest in Frankreich: Der linke Block will „Klassenkampf wie im 19. Jahrhundert“
Die Gewalt rund um die Proteste zur Rentenreform nehmen landesweit in Frankreich weiter zu. Wie konnte es zur Eskalation kommen? Einschätzungen eines Experten.

Es herrscht zurzeit Chaos in Frankreichs Großstädten, vor allem in Paris. Menschen verlassen die Hauptstadt, da ein bestialischer Gestank über die Millionenmetropole zieht. Der Grund dafür: Die Müllabfuhr streikt, Berge voller Plastiksäcke türmen sich deshalb an den Straßenrändern von Paris. Für Ratten sind die Müllberge das reine Paradies. Auch Krankheiten können sich in den kommenden Tagen in den französischen Straßen ausbreiten. Doch was hat das alles mit den landesweiten Protesten und der Rentenreform zu tun?
Die sozialen Unruhen im Nachbarland Deutschlands nehmen weiter zu. Über eine Million Menschen protestieren am Donnerstag gegen die Anhebung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahre. Die Gewerkschaft CGT spricht sogar von 3,5 Millionen Demonstranten gegen die Pläne von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Am Wochenende erwarten Beobachter noch mehr Menschen auf den Straßen, Gewerkschaften rufen für kommenden Dienstag einen weiteren „großen Streik- und Demonstrationstag“ aus. Selbst der Staatsbesuch von König Charles III. in Frankreich wird verschoben. Der Protest gegen die Rentenreform tangiert währenddessen immer mehr Bereiche des öffentlichen Lebens: Die Müllabfuhr, Lehrer, Bus- und Bahnfahrer, wie auch Mitarbeiter der Kritischen Infrastruktur streiken seit mehreren Tagen.
Auch die Gewalt zwischen Protestierenden und der Polizei nimmt deutlich zu. Am Freitag sind 457 Menschen festgenommen worden, dazu seien etwa 440 Polizisten und Gendarmen bei den anhaltenden Ausschreitungen verletzt worden. Bilder und Videos vom brennenden Rathaus in Bordeaux gehen um die Welt. Auch wenn die Franzosen für ihre Demonstrationsfreude und den Stolz auf die Revolution von 1789 bekannt sind und das auch nicht die erste Rentenreform in diesem Jahrhundert ist, überraschen die Bilder der Gewalt auf den Straßen von Paris, Lyon, Marseille und Co.
Wie die Parteien am politischen Rand den Protest nutzen
„Es geht da gar nicht konkret um die Sache“, sagt Frankreich-Experte Frank Baasner, „sondern generell darum, dass sich die soziale Stimmung in Frankreich schon länger aufgeheizt hat.“ Der Direktor des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg argumentiert mit dem Erstarken populistischer Parteien im politischen System der Fünften Republik. „Der ganze linke Block hat überhaupt kein Interesse an konstruktiver Politik, sie wollen einen Klassenkampf wie im 19. Jahrhundert.“

Die französische Rechte, angeführt von Marine Le Pens Rassemblement National, versuche sich eher als Alternative zu Macron zu etablieren. „Sie haben die nächsten Präsidentschaftswahlen 2027 im Blick“, sagt Baasner. Das rechte und linke Lager vereine, dass sie Macron die Legitimation absprechen, da er keine parlamentarische Mehrheit verfüge. Das ist ein zentrales Problem, und neu im Verhältnis zur letzten Amtszeit und den Gelbwesten-Protesten“, so der Frankreich-Experte.
La police procède à de nombreuses charges et matraque les manifestants dans le cortège parisien.#manif23mars #reformedeseetraites pic.twitter.com/CfBHJ4G4pz
— Amar Taoualit (@TaoualitAmar) March 23, 2023
Ein weiteres Phänomen der eskalierenden Proteste in Frankreich ist das schwierige Verhältnis zwischen dem Staat und seinen Bürgern. „Man erwartet vieles vom Staat, gleichzeitig verflucht man ihn“, fasst Baasner die Beziehung zwischen den Franzosen und dem Souverän zusammen. Demnach bündelt sich die Wut – im Gegensatz zum föderalen System in Deutschland – in einem präsidentiellen System auf eine Einzelperson. In diesem Fall: auf Macron. Die Rentenreform, die nun vom französischen Präsidenten durchgesetzt wurde, spiele da nur den Katalysator der landesweiten Protestwelle.
Der Joker der französischen Regierung
Ein weiterer Schlüsselmoment ist der Verfassungsartikel 49.3. Macron griff vergangene Woche auf den viel kritisierten Verfassungsartikel zurück, eine Art Joker für die französische Regierung. Dieser erlaubt es, die Rentenreform ohne parlamentarische Mehrheit zu verabschieden, wenn die Regierung ein anschließendes Misstrauensvotum überlebt. Der „Joker“ löste Empörung in der Assemblée Nationale aus, tumultartige Szenen spielten sich im französischen Parlament ab, Abgeordnete linker Parteien verließen bei der Rede der Premierministerin Elisabeth Borne den Saal. Am Ende scheitern jedoch zwei Misstrauensanträge gegen die Regierung, die Rentenreform ist damit verabschiedet und liegt nun beim Verfassungsrat vor.
Doch wann beruhigt sich auf den Pariser Boulevards die Lage oder drohen die Proteste ähnlich wie die Demonstrationen der Gelbwesten-Bewegung über zwei Jahre anzudauern? Baasner vermute dahingehend eine Art breitgefächerte Sozialkonferenz zwischen Regierung und Gewerkschaften. „Die französische Regierung ist nicht taub und wird gewisse Schritte auf die Arbeitnehmer zugehen“, sagt er. So seien Gesten oder eine Sonderregelung für einzelne Bereiche denkbar, beispielsweise für Arbeiter in der Baubranche. Die Rentenreform wird Macron aber um jeden Preis durchsetzen. Ob sich die Franzosen damit zufriedengeben?
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