Nach deutscher Panzerlieferung: Wladimir Putin spielt mit dem Atomkriegsszenario
Die Deutschen liefern Panzer an die Ukraine. Wladimir Putin nutzt die Gelegenheit, um zu drohen. Wie groß ist das Eskalationsrisiko? Eine Analyse.

Am 2. Februar 2023 griff Wladimir Putin während des Galakonzerts anlässlich des 80. Jahrestages des sowjetischen Sieges in der Schlacht um Stalingrad die angekündigte Lieferung westlicher – insbesondere deutscher – Kampfpanzer rhetorisch auf und zog, die deutsche Bundesregierung direkt angreifend, eine vollkommen ahistorische Parallele zum Großen Vaterländischen Krieg (Kampf der Sowjetunion gegen Deutschland 1941–1945).
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„Unglaublich, aber Fakt. Man droht uns erneut mit deutschen Leopard-Panzern mit Kreuzsymbolen. Man möchte erneut gegen Russland auf dem ukrainischen Boden kämpfen mithilfe der Nachfolger Hitlers“, sagte der russische Staatschef. Anschließend stieß Putin eine unverhohlene, doch dem Inhalt nach unbestimmte Drohung aus: „Wir schicken unsere Panzer zwar nicht an ihre Grenzen, haben jedoch eine Antwort parat. Und mit einem Einsatz von gepanzerten Fahrzeugen endet die Angelegenheit nicht. Alle sollten das verstehen.“

Bewusste Einschüchterungstaktik
Mit dieser Aussage entfachte Russlands Präsident erneut die Diskussion über die Wahrscheinlichkeit eines Weltkrieges sowie den potenziellen Einsatz von Atomwaffen durch Russland.
Die Unbestimmtheit russischer Drohgebärden ist kein Zufall, keine rhetorische Flapsigkeit und schon gar nicht eine eindeutige „rote Linie“, die nicht überschritten werden darf. Vielmehr handelt es sich um eine bewusste Einschüchterungstaktik des russischen Regimes.
Russlands atomare Drohgebärden
Im Rahmen des am 7. Dezember 2022 abgehaltenen Treffens zwischen Wladimir Putin und den Mitgliedern des Präsidialrates für die Entwicklung der Zivilgesellschaft und der Menschenrechte brachte die Direktorin des Zentrums für zivilgesellschaftliche Analyse und unabhängige Forschung (GRANI), Swetlana Makowetskaja, ihre Sorge vor einem drohenden atomaren Weltkrieg zum Ausdruck und bat den russischen Staatschef darum, Russlands Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen zu bestätigen.
Die Frage aufgreifend, bestätigte Wladimir Putin, dass die Bedrohung eines atomaren Weltkrieges tatsächlich zunehme. Russland handle jedoch „verantwortungsvoll“ und habe „im Gegensatz zu den USA“ die Atomwaffen ausschließlich auf dem Territorium der Russischen Föderation stationiert. Faktenwidrig behauptete Putin, dass die russische Atomwaffendoktrin keine Erstschlagsmöglichkeit vorsehe. Die hochmodernen russischen Atomwaffen – auch die sogenannten taktischen Atomwaffen – würden nur im Verteidigungsfalle eingesetzt, so Putin. Denn es handle sich dabei um ein „natürliches Abschreckungsmittel“ zur „Vermeidung von Konflikteskalation“.
Bei näherer Betrachtung waren die Worte Wladimir Putins weder beschwichtigend-versöhnlich noch überraschend oder auch nur neu. Bereits am 26. April 2022 betonte der Außenminister der Russischen Föderation, Sergej Lawrow, die Unzulässigkeit eines Atomkrieges als prinzipielle Position Moskaus. Gleichzeitig mahnte Lawrow den Westen, dass der gute Wille Russlands klare Grenzen habe und die Gefahr eines Dritten Weltkrieges keinesfalls unterschätzt werden dürfe.
Wladimir Putins atomarer Bluff
Bereits am letzten Wochenende vor Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine führte Russland eine seiner strategischen Abschreckungsübungen durch. Und eine knappe Woche nach Beginn der sogenannten „Spezialmilitäroperation“ wies Wladimir Putin öffentlichkeitswirksam den Verteidigungsminister und den Generalstabschef an, die strategischen Abschreckungskräfte der russischen Streitkräfte in „besondere Kampfbereitschaft“ zu versetzen.
Damit gab er dem Westen gegenüber ein klares Signal der Entschlossenheit ab, bis zum Äußersten gehen zu wollen. Gleichzeitig aber sorgte dieser Befehl weltweit für Verwunderung. Denn der Modus einer „besonderen Kampfbereitschaft“ der strategischen Abschreckungskräfte wird weder von strategischen Abschreckungskräften noch irgendwo anders in der russischen Armee verwendet. Aus diesem Grund ist es nach wie vor unmöglich, zu sagen, auf welche Weise der Befehl zur „besonderen Kampfbereitschaft“ ausgelegt und umgesetzt worden ist. Letztlich handelt es sich wohl um einen Bluff des russischen Staatschefs, um die westlichen Gesellschaften in Angst vor einem potenziellen atomaren Weltkrieg zu versetzen. Doch sollte dieser Bluff – ungeachtet der Widerworte Wladimir Putins – keinesfalls der letzte bleiben.
Staatspropagandistische Abschreckung um des „lieben Friedens willen“
Ähnlich beunruhigend empfinden die Medien und die Öffentlichkeit im Westen die Diskussionen im russischen Staatsfernsehen. So erklärten zahlreiche russische Propagandisten seit Monaten, nichts Falsches im Einsatz taktischer Atomwaffen in oder auch außerhalb der Ukraine zu sehen.
Naheliegenderweise sollten diese Aussagen in einem laufenden und zunehmend eskalierenden Konflikt unter direkter Beteiligung einer Atommacht nicht einfach ignoriert werden. Dennoch sind die Ankündigungen der russischen Staatspropaganda stets mit einer größeren Prise Vorsicht zu nehmen. Denn derartige Aussagen im Staatsfernsehen sind weder neu noch wirklich überraschend; zumal in der berüchtigten Sendung von Wladimir Solowjow. Bereits vor Jahren hat ein anderer umtriebiger russischer Moderator und Propagandist, Dmitrij Kisseljow, damit gedroht, die USA in eine atomare Wüste zu verwandeln.
Weder Solowjow noch Kisseljow noch andere Kremlpropagandisten werden über den Einsatz von Atomwaffen entscheiden oder diesen auch nur annähernd beeinflussen können. Vielmehr handelt es sich um eine propagandistische Inszenierung. Diese Inszenierung dient sowohl innen- als auch außenpolitischen Zielsetzungen.
Innenpolitisch sollen die im Staatsfernsehen durch Expertengemeinschaft platzierten – mit dem Kreml im Vorfeld akkordierten und sich im engen Rahmen bewegenden – Forderungen den Entscheidungsspielraum für Wladimir Putin ganz erheblich erweitern, die Bevölkerung auf unterschiedliche Szenarien vorbereiten und Putin letztlich jede Notwendigkeit zur Rechtfertigung abnehmen. Außenpolitisch soll der Westen mit den Drohungen von der Unterstützung der Ukraine – um des „lieben Friedens willen“ – abgeschreckt werden.
Die nichtexistenten roten Linien in Wladimir Putins Kopf
Die viel diskutierten sogenannten roten Linien für den Atomwaffeneinsatz werden in erster Linie von Wladimir Putin vorgegeben. Der Kremlchef war es auch, der mit seiner kaum verhohlenen Drohung, Atomwaffen in einem konventionellen Konflikt einzusetzen, gleich zu Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine eine faktische Ausweitung der offiziellen Nukleardoktrin Russlands herbeiführte.
Zwar kann sich der Westen über den genauen Verlauf der sprichwörtlichen roten Linien in der Vorstellungswelt des Präsidenten der Russischen Föderation keinesfalls sicher sein, so gipfelt letztlich jede Handlung auf westlicher Seite in einem heuristischen Spiel aus Versuch und Irrtum. Damit kann jede beliebige Handlung des Westens von Wladimir Putin zu jedem beliebigen Zeitpunkt als eine unverzeihliche Grenzüberschreitung ausgelegt werden.
Das wesentliche Missverständnis auf westlicher Seite dürfte allerdings darin bestehen, dass es angesichts des ständigen taktischen Lavierens des russischen Staatschefs keine klaren „roten Linien“ in der Vorstellungswelt Wladimir Putins sowie seiner Umgebung geben kann, ja geben darf. Die strategischen Vorgaben in den doktrinellen Dokumenten Russlands unterliegen ohnehin machtpolitisch, aber auch verfassungsrechtlich der Interpretationshoheit des russischen Staatspräsidenten.
Deutungshoheit und nicht Eskalationshoheit!
Diese Einschüchterungstaktik der unbestimmten Drohungen soll nach Ansicht des russischen Regimes die westlichen Gesellschaften ganz bewusst im Ungewissen belassen; in ständige innere Unruhe versetzt, mit den eigenen Zweifeln und – aus der Epoche des Kalten Krieges stammenden – Urängsten vor einem Atomkrieg konfrontiert. Solcherart sind direkte Drohungen mit dem Einsatz von Atomwaffen gar nicht notwendig. Denn die unbändige Kraft des menschlichen Vorstellungsvermögens zeichnet ganz von allein zahllose Untergangsszenarien.
Gegenüber dem Westen sowie den westlichen Gesellschaften sollen die regelmäßigen – ihrem Inhalt nach – unbestimmten Drohungen der russischen Führungsriege sowie das Fehlen offizieller „roter Linien“ Unruhe stiften, Angst machen, Zwistigkeiten befördern und andeuten, dass es für Russland keine selbsteinschränkenden „roten Linien“ gibt, die man nicht zu überschreiten bereit wäre. Damit behält Putin im gegenwärtigen Konflikt die Deutungshoheit. Diese Deutungshoheit wird unglücklicherweise nicht selten mit der – auf russischer Seite in Wahrheit nur eingeschränkt vorhandenen – Eskalationshoheit verwechselt. Die Folgen dieser Verwechslung sind allerdings alles andere als harmlos, befördern diese doch sehr stark die russischen antiwestlichen Fake-Narrative.
Ein wohlklingender Trugschluss
Aus den genannten Gründen ist die Sorge, dass westliche Waffenlieferungen an die Ukraine (so nicht zuletzt die angekündigte Lieferung deutscher Kampfpanzer) für den Kreml zwingend eine Grenzüberschreitung bedeuten müssen und den Einsatz taktischer Nuklearwaffen provozieren könnten, ein wohlklingender Trugschluss, der sich aus einem überraschend mangelhaften Verständnis Russlands und seiner Macht- und Elitenstrukturen entspinnt.
Westliche Vorsicht und Uneinigkeit wird als Schwäche betrachtet
So verständlich und nachvollziehbar der Wunsch nach klaren „roten Linien“ auf westlicher und insbesondere deutscher Seite auch sein mag, gilt es zu beachten, dass jede Selbsteinschränkung vom Kreml als ein eindeutiges Zeichen der Schwäche ausgelegt wird und aus diesem Grunde nicht deeskalierend, sondern stark konfliktbefeuernd wirkt. Darüber hinaus ist jede einzelne auf westlicher Seite rhetorisch gezogene „rote Linie“ willkommenes Wasser auf die Mühlen der auf Hochtouren laufenden russischen Propagandamaschine.
Die sehr wohl existenten roten Linien in der Vorstellungswelt russischer Eliten
Die wesentliche Frage im Zusammenhang mit der Möglichkeit des Atomwaffeneinsatzes durch Russland bleibt, ob die Elitengruppen rund um den Kremlchef eine nukleare Eskalation auch tatsächlich mitzutragen bereit sind. Das war, ist und bleibt nicht der Fall.
Die Einflussmöglichkeiten der Eliten auf die Entscheidungsfindung des russischen Präsidenten hängen aber nicht nur mit dem weiteren Kriegsverlauf, sondern vor allem mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung Russlands unmittelbar zusammen. Wenn der internationale Sanktionsdruck aufrechterhalten wird und sich die wirtschaftliche und soziale Lage Russlands zuspitzt, wird Wladimir Putin mehr Unterstützer aus den Reihen der gemäßigten wirtschaftsliberalen Eliten benötigen, um sein Machtsystem stabil zu halten.
Und je mehr Unterstützer Putin in den Reihen der Eliten für eine Stabilisierung Russlands benötigt, umso unwahrscheinlicher wird ein Abdriften in eine personalistische Diktatur und letztlich auch der Einsatz der Atomwaffen.
Daraus lässt sich eine einfache, doch unglücklicherweise für sehr viele unverständliche Wahrheit ableiten, welche nicht oft genug wiederholt werden kann: Je entschlossener sich die Ukraine mithilfe der westlichen Waffenlieferungen gegen Russland zu wehren und auf dem Schlachtfeld auch zu gewinnen vermag, desto geringer wird der Preis sein, den die Ukraine, der Westen und letztlich die gesamte Welt für den Frieden zahlen müssen.
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