Wladimir Putin hält wichtige Rede am 21. Februar: Erklärt er der Ukraine den Krieg?
Wäre Russland ein Rechtsstaat, würde der Kriegszustand für Putin einen entscheidenden Machtzugewinn bedeuten. Was wird er tun?

I’m there on your borders / Not gonna quit / To new world orders / I will never submit / Call me a warmonger / And I’ll give you a war / Say I’m a cheat / And I’ll still fake the score / There’s no defeat / That I’ll answer for / The West is effete / And they’re begging for more / I’ll get it all back / The old status quo / I remember how it was / And I won’t let it go
Pet Shop Boys – Living in the Past
Am 21. Februar 2023 – dem Jahrestag der Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk – wird Wladimir Putin die Rede zur Lage der Nation vor dem russischen Parlament halten. Dabei handelt es sich um die erste Rede Putins zur Lage der Nation seit April 2021. Kremlsprecher Dmitrij Peskow bremste die Erwartungen im Vorfeld des Ereignisses und kündigte lediglich an, dass der Staatspräsident auf die aktuellen Fragen, insbesondere auf die Wirtschaftsentwicklung und die Sozialpolitik eingehen möchte.
Im Hintergrund wird aber über die möglichen Inhalte wild spekuliert. Wird Wladimir Putin die sogenannte Spezialmilitäroperation beenden und der Ukraine den Krieg erklären? Wird der Kriegszustand verhängt oder gar eine weitere Mobilmachungswelle ausgerufen?
„Verteidigung neuer russischer Gebiete“
Schließlich gewährt die Quasi-Annexion der teilbesetzten ukrainischen Gebiete – Donezk, Luhansk, Saporischschja – Wladimir Putin eine formelle Rechtfertigung, jederzeit auf Wunsch die sogenannte Spezialmilitäroperation in einen vollumfänglichen Krieg zu überführen, Kriegszustand zu verhängen, Generalmobilmachung zu befehlen sowie verstärkt gegen zivile ukrainische Ziele vorzugehen.
Auch verleiht der Wunsch nach „Verteidigung neuer russischer Gebiete“ dem russischen Präsidenten eine größere Legitimität, mit dem Einsatz der Atomwaffen zu drohen; selbst wenn der tatsächliche Einsatz von Atomwaffen voraussetzungsreich ist und nur wenig wahrscheinlich erscheint.
Die inoffizielle Kriegserklärung des Westens
Über viele Monate hat der Kreml in Bezug auf die Kampfhandlungen in der Ukraine den Begriff „Krieg“ zu meiden versucht. Doch ist dies mittlerweile nicht mehr der Fall. Wladimir Putin und die russische Staatspropaganda sind dazu übergegangen, den Begriff „Krieg“ mit Blick auf die Ereignisse in der Ukraine regelmäßig zu verwenden. Allerdings sehen sie dabei Russland nicht im Krieg mit der Ukraine, sondern in einen Krieg mit dem gesamten Westen verwickelt. In dieser Vorstellung tritt die Ukraine nicht als ein aktives Subjekt der Geschehnisse auf, sondern vielmehr als ein passives Objekt – als das Schlachtfeld des globalen geopolitischen Konfliktes zwischen Russland und den USA.

Das Grundnarrativ des Kremls lautet dabei wie folgt: Die ukrainische Führung sei aufgrund des durch den Westen unterstützten Staatsstreiches im Jahr 2014 für Russland illegitim geworden. Die einzige Möglichkeit der Legitimitätserlangung habe in der Umsetzung der sogenannten Minsker Abkommen bestanden.
Kiew habe jedoch mit Rückendeckung des Westens die Umsetzung verweigert und unter der „Federführung der USA und ihrer Vasallen“ der russischsprachigen Bevölkerung des Donbass den Krieg erklärt und im Verlauf von acht Jahren Akte des Genozids gesetzt. Nachdem der Westen die Ukraine auch noch für seinen Kampf gegen Russland instrumentalisiert habe, sei die sogenannte Spezialmilitäroperation überhaupt erst notwendig geworden.
Wladimir Putin betont bei seinen Auftritten, dass Russland keine Kampfhandlungen begonnen habe, sondern den „von ukrainischen Nationalisten initiierten“ Krieg zu beenden trachte. Der russische Außenminister Sergej Lawrow ging in dieser Argumentation noch einen Schritt weiter und behauptete vor kurzem, dass „der kollektive Westen unter der Führung der USA“ Russland bereits im Jahr 2014 den Krieg erklärt habe.
Die inoffizielle Kriegserklärung erfolgte unmittelbar nach dem „von den USA mit Unterstützung der EU orchestrierten Staatsstreich in der Ukraine“, so der langjährige russische Chefdiplomat. Die führende russische Propagandistin und Chefredakteurin des Staatsmedienunternehmens Rossija Segodnja (Russia Today) Margarita Simonjan stellte in einem ihrer jüngsten Interviews unmissverständlich fest, dass Russland den Krieg gegen die gesamte Nato führe. Dies erkläre aus ihrer Sicht auch die Dauer des Konfliktes.

Mithilfe dieses Grundnarrativs zieht die russische Führung schamlos historische Scheinparallelen mit dem Feldzug Napoleons gegen das Russische Reich und dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion und versucht auf diese Weise, die eigene Bevölkerung auf einen langen entbehrungsreichen Kampf gegen einen übermächtigen Gegner um das Überleben Russlands einzuschwören.
Ungeachtet der unermüdlichen Bemühungen scheint der Erfolg dieses Unterfangens allerdings alles andere als gesichert zu sein. Die Herausforderung beginnt bereits beim Begriff „Krieg“ und der Einstellung der russischen Bevölkerung gegenüber diesem Phänomen.
Ein echter Krieg kann nur auf russischem Boden ausgetragen werden
Nach Ansicht der Experten des renommierten regierungskritischen Meinungsforschungsinstituts Levada-Zentrum wird im kollektiven Bewusstsein der russischen Bevölkerung unter dem Begriff Krieg traditionell ein Weltkrieg verstanden (genauer: atomarer Weltkrieg). Ferner kann ein (echter) Krieg nach Ansicht der Bevölkerung nur auf russischem Boden stattfinden. Das unter Wladimir Putin zum Staatskult erhobene Gedenken an den Großen Vaterländischen Krieg (Kampf der Sowjetunion gegen Deutschland 1941–1945) trägt wesentlich dazu bei. Kriegshandlungen außerhalb Russlands werden dagegen von der Gesellschaft als – mehr oder weniger Aufmerksamkeit erfordernde – begrenzte bewaffnete Auseinandersetzungen beziehungsweise Friedens- und Unterstützungseinsätze unter Beteiligung russischer Streitkräfte verstanden und im Alltag weitgehend ausgeblendet.
Diese Eigenart der russischen Gesellschaft kam der Führung des Landes bislang sehr gelegen und wurde zu propagandistischen Umdeutungszwecken stets herangezogen; so insbesondere mit Blick auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, der von Beginn an als eine bloße „Spezialmilitäroperation“ abgetan wurde. Doch mittlerweile dürfte diese besondere Auffassung des Phänomens Krieg für Russlands Führung zu einer ernst zu nehmenden Herausforderung werden.
Patriotische Begeisterungswelle wird ausbleiben
Die zunehmende Dauer des Krieges, welcher bereits seit Monaten in die Phase des Abnutzungskrieges übergegangen ist, sowie das intensive internationale Sanktionsregime zwingen Russlands Führung zu immer mehr unpopulären Entscheidungen. Die negativen Folgen dieser Entscheidungen wird die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in ihrem – bislang weitgehend nur wenig gestörten – Alltag zunehmend zu spüren bekommen. Russlands Krieg gegen die Ukraine wird damit endgültig in die Wohnzimmer und das Bewusstsein der Menschen Eingang finden, verstören und Unmut schüren. Einen ersten Vorgeschmack auf potenzielle Proteste boten die landesweiten negativen Reaktionen auf die sogenannte Teilmobilmachung im September 2022.

Mit weiteren unpopulären Entscheidungen bei einer gleichzeitigen sanktionsbedingten Verschlechterung der Lebensbedingungen werden die Grenzen der sprichwörtlichen Leidensfähigkeit der russischen Bevölkerung auf eine sehr harte Probe gestellt. Denn eine patriotische Konsolidierung wie im Jahr 2014 rund um die völkerrechtswidrige Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim erscheint äußerst unwahrscheinlich zu sein. Schließlich bekamen damals die meisten Russen die sanktionsbedingten Folgen der Krim-Annexion und des Donbass-Krieges in ihrem Alltag so gut wie nicht zu spüren. Auch ist die symbolische Bedeutung der Halbinsel Krim sowie der Stadt Sewastopol im historischen Bewusstsein der russischen Bevölkerung ungleich höher bemessen als die weitgehend bedeutungslosen, Ende September 2022 quasi-annektierten Regionen der Ukraine.
Schließlich blieb auch von patriotischer Aufbruchsstimmung und allgegenwärtiger Begeisterung des sogenannten Russischen Frühlings des Jahres 2014 nichts übrig. Vielmehr machte der traditionell kurze „Russische Frühling“ endgültig dem langen, kalten und trostlosen „Russischen Herbst“ Platz. Insofern wird den unermüdlichen Bemühungen der russischen Staatspropaganda zum Trotz die Umdeutung des Angriffskrieges gegen die Ukraine in einen Überlebenskampf Russlands gegen den kollektiven Westen wohl kaum als Rechtfertigung für zahllose Entbehrungen angenommen werden. In einen neuen „Vaterländischen Krieg“ um die jüngsten Gebietserweiterungen wird die russische Bevölkerung mitnichten ziehen wollen.
„Spezialmilitäroperation“ ist zu Ende, es lebe der Krieg?
Viele Analysten warnen seit Wochen vor einer weiteren Eskalation der Kriegshandlungen und einer breit angelegten russischen Offensive im Vorfeld der Lieferung moderner westlicher Kampfpanzer an die Ukraine. Solcherart könnte der Präsident der Russischen Föderation Wladimir Putin während der Rede zur Lage der Nation die sogenannte Spezialmilitäroperation für erfolgreich beendet erklären, gleichzeitig jedoch argumentieren, dass angesichts der „zunehmenden westlichen Involvierung in den Konflikt“ und der „wachsenden internationalen Aggressionen“ der Krieg gegen die Ukraine zum Schutz Russlands unausweichlich wurde.
Damit müsste verfassungsrechtlich die Ausrufung des Kriegszustandes einhergehen, um eine reibungslose Generalmobilmachung und die Einberufung der Reservisten zu ermöglichen. Auch wenn die Mobilmachung mit der Einführung des Kriegszustandes nicht unmittelbar einherzugehen hat, ist der Kriegszustand im Falle einer Generalmobilmachung zur einfacheren und kontrollierbaren Abwicklung jedoch sinnvoll und wahrscheinlich. Der Kriegszustand ist aber für die russische Führung mit unkalkulierbaren Risiken verbunden.
Putin definiert, ob Russland angegriffen wird
Für die Verhängung des Kriegszustandes verlangt die Verfassung der Russischen Föderation zwingend einen Angriff oder die Gefahr eines Angriffs auf Russland. Rechtlich ist dies angesichts der Kriegshandlungen in den durch Russland teilbesetzten und quasi-annektierten Regionen der Ukraine – Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja – bereits der Fall. Dies wäre allerdings ohnehin nicht notwendig, legt doch das russische Verfassungsgericht die Befugnisse des Präsidenten bereits seit Mitte der 1990er-Jahre sehr großzügig aus.
Demnach kommt dem Präsidenten aufgrund der sogenannten Garantenstellung die Definitionshoheit über Bedrohungen und alle zu ihrer Abwendung notwendigen Maßnahmen zu, welche dem Schutz der Souveränität der Russischen Föderation, ihrer Unabhängigkeit und staatlichen Integrität dienlich erscheinen. Die beiden Kammern des russischen Parlaments müssen zwar informiert werden und die Oberkammer hat die Entscheidung des Präsidenten auch formell zu genehmigen, das gilt jedoch als reine Formsache.
Mit der Verhängung des Kriegszustandes ginge die ganze Fülle der Macht auf den russischen Präsidenten über. Danach könnte Wladimir Putin mittels Präsidialdekreten am Parlament vorbeiregieren und selbst verfassungsmäßig gewährleistete Rechte einschränken.
Der Kriegszustand erlaubt es der Regierung nicht nur, härter gegen kritische Berichterstattung oder freie Meinungsäußerung vorzugehen, Demonstrationsverbote oder Ausgangssperren beinahe pauschal zu verhängen, Verkaufsverbote für Alkohol und Waffen einzuführen, Verstaatlichung von Unternehmen oder Ausreiseverbote einzuleiten, sondern würde in letzter Konsequenz auch eine Abschaltung Russlands vom Internet erlauben.
Wäre Russland also ein Rechtsstaat, würde der Kriegszustand für Putin einen entscheidenden Machtzugewinn bedeuten. Doch ist Russland nur zu offensichtlich kein Rechtsstaat. Auch hat die russische Führung seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine eine ganze Reihe von wichtigen Repressionsmaßnahmen eingeführt, die selbst bei einer nicht allzu strengen Betrachtung nur im Kriegszustand möglich gewesen wären.
Vom Unwillen zu unpopulären Entscheidungen
Aus den genannten Gründen bleiben sowohl eine formelle Ausrufung des Kriegszustandes als auch eine offizielle Verkündung der Generalmobilmachung für den Kreml und für Wladimir Putin persönlich mit kaum kalkulierbaren Risiken verbunden. Denn der Kriegszustand würde die russische Bevölkerung in ihrem Alltag hart treffen und damit zu einer erheblichen Gefahr für die Popularität Putins werden. Die weitreichenden Maßnahmen würden in der Bevölkerung große Unruhe auslösen. Aktuell ist es so ziemlich das Letzte, was die russische Führung braucht. Und abgesehen davon wird das russische Parlament jedem vom Kreml gewünschten Gesetzesvorschlag – so wie die international hochgradig umstrittene Verschärfung des Strafrechts im März 2022 – ohne Widerrede zustimmen.
Schließlich greift der Präsident seit Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine immer öfter zur Möglichkeit, mittels Präsidialdekreten zu regieren und diese von der Veröffentlichung auszunehmen. Das vergangene Jahr hat diese verfassungswidrige Praxis eindrucksvoll bestätigt. Selbst Grundrechtseinschränkungen, die laut Verfassung eigentlich nur im Kriegszustand möglich wären, sind an der Tagesordnung. Bislang hielt Russland zumindest eine Schein-Rechtsstaatlichkeit aufrecht. Nunmehr hält es Wladimir Putin offensichtlich nicht mehr für nötig, seine Handlungen in einen – auch nur rein formellen – rechtsstaatlichen Rahmen zu gießen.
Darüber hinaus sollte nicht übersehen werden, dass die Unterstützungsbereitschaft seitens der Bevölkerungsmehrheit für die Regierung und den Präsidenten in den kommenden Monaten, auch aufgrund des sich langsam doch unaufhaltsam entfaltenden Sanktionsdrucks abnehmen wird. Unpopuläre Entscheidungen wie die Verhängung des Kriegszustandes und die offizielle Generalmobilmachung würden die Destabilisierung des Putin’schen Regimes wesentlich beschleunigen.
Doch selbst der erklärte Unwille des Kremls zu unpopulären Entscheidungen wird wohl kaum zu einem schnelleren Ende des Krieges beitragen.
Keine Überraschungen, doch ein enormer Stresstest für die Ukraine und die westliche Solidarität
Überraschende oder gar sensationelle Ankündigungen dürfte Wladimir Putins Rede zur Lage der Nation am 21. Februar 2023 nicht zutage bringen: Zu unkalkulierbar erscheinen die Risiken unpopulärer Entscheidungen, zu ungewiss der Ausgang breit angelegter Offensivoperationen, zu folgenschwer ihr Scheitern. Ein Einlenken kommt aufgrund der horrenden – doch aktuell noch tragbaren – Kosten des Krieges und stark destabilisierender Wirkung für das politische System Russlands ohnehin nicht infrage. Zumal Wladimir Putin nach wie vor von einem Erfolg seines Kriegszuges überzeugt zu sein scheint.

Vielmehr dürften die Kernaussagen von Putins Rede Kremls Lesart des Ukraine-Krieges als eines komplexen politischen Prozesses (hier wohl ganz im Sinne der Clausewitz’schen Formel vom Kriege als der Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln) offenlegen. Nachdem Russland zum gegenwärtigen Zeitpunkt kein zeitnahes militärisches Siegesszenario für sich erblickt, wird Moskau alles daran setzen, den Krieg in die Länge zu ziehen, in der Hoffnung, den längeren Atem zu behalten.
Dabei wird der Kreml die Interessenskonflikte innerhalb des westlichen Bündnisses sowie die Gesellschaftskonflikte im Westen zu befeuern, für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren und die breit angelegte Desinformationskampagne zu intensivieren versuchen, die ukrainische Bevölkerung terrorisieren und gegen Kiew aufzubringen trachten, die Infrastruktur sowie die Wirtschaftsgrundlagen der Ukraine nachhaltig schädigen, um die ukrainischen Eliten in die Verhandlungen und letztlich zur Aufgabe sowie zum Diktatfrieden zu zwingen.
Russlands Angriffskrieg wird uns somit wohl noch länger begleiten. Die kommenden Monate werden zu einer enormen Herausforderung für die Ukraine und zu einem Stresstest für die westliche Solidarität.
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