Annette Kurschus: „Ich warne vor einem starren Freund-Feind-Schema“

Aus Sicht der EKD-Vorsitzenden muss dem Angreifer in der Ukraine etwas entgegengesetzt werden, allerdings: immer mit dem Ziel des Friedens. 

Die Ratsvorsitzende der der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus
Die Ratsvorsitzende der der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette KurschusFriedrich Stark/Imago

Annette Kurschus, Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), lässt keinen Zweifel: Der russische Angriff auf die Ukraine ist ein Bruch des Völkerrechts. Sie glaubt allerdings, dass jede militärische Unterstützung einer Friedensstrategie folgen müsse. Der Einsatz von Waffen müsse zum Ziel haben, die Waffen zum Schweigen zu bringen.

Es ist nun ein Jahr her, dass Russland die Ukraine angegriffen hat. Frau Kurschus, wie sehen Sie als Vertreterin der Evangelischen Kirche in Deutschland die Lage?

Der Jahrestag des Kriegsbeginns ist das eine. Mit dem heutigen Aschermittwoch beginnt auch die Passionszeit. In dieser Zeit steht für uns Christen das Leiden Jesu im Mittelpunkt, das schließlich zum Kreuz führt, an dem er qualvoll stirbt. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine dauert nun schon ein ganzes Jahr, da werden die Nachrichten von leidenden und getöteten Menschen zunehmend zu einer gewissen Routine für uns. Wir hören immer wieder Zahlen von Todesopfern, dennoch steht hinter jeder Zahl ein einzelner, unverwechselbarer Mensch. Darauf will ich den Blick richten.

Es gibt eine große Sympathie im Westen für die Ukraine, für die Geflüchteten, aber auch für die Opfer. Das ist verständlich, denn die Ukraine wurde angegriffen. Es kommen in diesem Krieg aber auch viele junge russische Soldaten ums Leben. Viele wurden zwangsrekrutiert, kämpfen nicht freiwillig. Wie sollten wir zu denen stehen?

Ich denke an alle Menschen, die zu Tode kommen. Ich will damit keinesfalls verwischen, wer verantwortlicher Täter und wer Opfer ist. Aber ich sehe auch: Präsident Putin verheizt Zehntausende, vielleicht sogar Hunderttausende junge Männer, wir kennen die genauen Zahlen nicht. Er rekrutiert sie aus den ländlichen Armutsregionen oder aus Gefängnissen. Würde er sie aus Großstädten wie Moskau oder Sankt Peterburg an die Front zwingen, würde er mehr Widerstand ernten. Aber je ärmer die Menschen sind, desto weniger wehren sie sich. Doch das Leben eines russischen Soldaten ist nicht weniger wert als das eines ukrainischen. Jedes Menschenleben ist einzigartig und unersetzlich, jeder Tote hinterlässt Menschen, die ihn lieben und um ihn trauern.

In der Kirche gibt es ja die Spannung zwischen den radikalen Pazifisten und jenen, die zum Beispiel einen gerechten Krieg oder einen Tyrannenmord für zulässig halten. Wo stehen Sie da?

Wir sind in unserer Friedensethik davon ausgegangen, dass das Völkerrecht als Grundlage des Zusammenlebens der Staaten durchsetzbar ist, vor allem nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs. Diese Friedensethik war allerdings nie eine, die auf radikalen Pazifismus gesetzt hat, denn seit 1945 wurde das Völkerrecht zwar schon oft gebrochen – aber wir haben darauf gesetzt, dass die großen, strategisch bedeutsamen Kräfte es am Ende durchsetzen werden. Darum hat unsere Friedensethik gesagt, dass rechtserhaltende Gewalt unter bestimmten Bedingungen legitim ist. Dem Angreifer muss etwas entgegengesetzt werden, allerdings: immer mit dem Ziel des Friedens. Der Einsatz von Waffen muss zum Ziel haben, die Waffen zum Schweigen zu bringen. Es muss also hinter dem Einsatz von Waffen auch eine Strategie geben, eine Strategie zu Verhandlungen. Natürlich dürfen Gespräche nicht auf der Grundlage geführt werden, dass die territoriale Integrität des angegriffenen Staates infrage gestellt wird. Es müssen Verhandlungen auf Augenhöhe sein.

Sollten die Kirchen diese taktischen Überlegungen nicht Staaten überlassen und stattdessen eine Stimme des radikalen Pazifismus sein – sie haben ja eine andere Rolle als der Staat?

Dies sind keine taktischen Überlegungen, sondern ethische Grundlinien des christlichen Glaubens. Wir können die Angegriffenen ja nicht schutzlos lassen, wenn sie mit Raketen beschossen, ihres Landes beraubt, vergewaltigt und verschleppt werden. Das Gebot „Du sollst nicht töten!“ bedeutet auch: Du darfst nicht zulassen, dass jemand getötet wird.

Soll es nun aber Verhandlungen geben?

Waffen und Verhandlungen schließen einander nicht als Alternativen aus. Beides muss zusammen gesehen werden: Der Einsatz von Waffen, der jetzt notwendig ist, um die Menschen in der Ukraine zu schützen und Russland die Erwartung zu nehmen, es könnte die Ukraine erobern, muss zum Ziel haben, dass verhandelt wird, zunächst einmal darüber, wie man zu einem Waffenstillstand kommt. Wir setzen darauf, dass es bereits jetzt Gespräche und Initiativen gibt. Wie etwa beim Getreideabkommen.

Könnten die Kirchen Vermittler sein?

Welche Kirche sollte das sein? Wer sollte sie beauftragen? Was wäre der Gegenstand ihrer Vermittlung? Solche Verhandlungen, bei denen wir davon ausgehen können, dass ihre ersten Schritte in Verschwiegenheit angebahnt werden, werden von Menschen geführt, die Erfahrung, diplomatisches Geschick haben und ein Grundvertrauen der verfeindeten Länder genießen. Was wir tun können, und das ist schwierig genug: Kontakte zur orthodoxen Kirche in Russland und in der Ukraine halten, so weit es geht. Der Ökumenische Rat der Kirchen hatte zu seiner Vollversammlung in Karlsruhe russische und ukrainische Christen eingeladen. Sowohl aus Russland als auch aus der Ukraine hat je eine Delegation an der Versammlung teilgenommen. Sie haben nicht auf einem gemeinsamen Podium gesessen und öffentlich miteinander diskutiert. Aber zwischendurch, in den Pausen, beim Essen, beim Kaffee gab es informelle Begegnungen und Gespräche. Vertreter der Kirchen können anders miteinander sprechen als Politiker.

Gab es Kritik, dass Sie Russen eingeladen haben?

Zur Klarstellung: Eingeladen hat nicht die EKD, sondern der Ökumenische Rat der Kirchen in Genf, der diesmal Karlsruhe als Tagungsort ausgewählt hatte. Der ÖRK hat im Vorfeld klar kommuniziert, dass er sowohl Gäste aus der Ukraine als auch Gäste aus Russland einladen wird. Beide sind Mitglieder des ÖRK. Bundespräsident Steinmeier hat die Versammlung mit einer Rede eröffnet und sich anschließend mit der ukrainischen Delegation getroffen.

Die russischen Kirchenvertreter sind aber nicht zwangsläufig auch Täter?

Es ist sehr wichtig, zu unterscheiden: Wir dürfen nicht alle Russen pauschal als Handlanger Putins betrachten. Es gibt etliche Stimmen in der russisch-orthodoxen Kirche, die den Krieg sehr kritisch sehen. Aber man muss auch deutlich benennen, dass das Moskauer Patriarchat und Patriarch Kyrill Putins Krieg unterstützen und ihn religiös verbrämen. Man kann das geistlich-geistige Mittäterschaft nennen.

Also sind Sie für den Dialog auch mit den Russen?

Dem, was früher „Dialog mit Russland“ hieß, hat der russische Präsident durch den Angriff die Grundlage entzogen. Es gibt jetzt keinen Dialog mit der russischen Regierung. Die Gespräche, die es zum Glück zwischen dem Bundeskanzler und Putin gibt, nenne ich nicht Dialog. Wer sind „die Russen“? Wenn Sie die mutigen Journalisten und Journalistinnen von Novaya Gazeta und andere meinen: Klar, ich bin für den Dialog mit ihnen. Ich warne vor einem starren Freund-Feind-Schema.  Man muss wirklich differenzieren. Es ist nicht angemessen, pauschal alle russischen Menschen für den Angriffskrieg der russischen Regierung in Haftung zu nehmen. In Russland stehen zu viele, aber nicht alle hinter Putin. Auch dort gibt es viele Menschen, die gegen den Krieg sind, dies offen kundtun und dafür Repressalien erdulden müssen.

Wo ziehen Sie die Grenze im Dialog?

Einen Dialog mit Kriegsverbrechern kann es nicht geben.

Also mit Opernsängern und Sportlern schon?

Wenn eine Sängerin oder ein Sportler mit mir einen Dialog darüber führen will, dass Russland keine Schuld am Krieg habe, wenn er oder sie den Krieg nicht Krieg nennt und ihn rechtfertigt, gibt es nur ein Nein und keinen Dialog darüber, egal was für einen Beruf und was für eine Nationalität mein Gegenüber hat. Die Sanktionen gegen Russland haben ihre Berechtigung. Das heißt aber nicht, dass alle Kontakte abbrechen müssen.

Wo stehen die orthodoxen Kirchen eigentlich?

Es gibt nicht „die“ orthodoxe Kirche in der Ukraine und nicht „die“ orthodoxe Kirche in Russland. Innerhalb jeder dieser Kirchen gibt es eine große Vielfalt. Kyrill spricht nicht für alle russisch-orthodoxen Christen.

Was ich für unerträglich halte, ist die Ideologie, die Kyrill vertritt: Wir kämpfen im Namen Gottes. Ich halte das für gotteslästerlich.

Haben Sie einen ständigen Austausch?

Ich persönlich nicht. Ja, auch wenn unsere regulären Gesprächskanäle derzeit hier und da unterbrochen sind, so bleiben sie doch grundsätzlich bestehen. Es ist wichtig, dass wir gerade jetzt miteinander in Verbindung sind – so schwer das ist.

Zur Person 
Annette Kurschus wuchs in einem evangelischen Pfarrhaus auf. Sie ist Theologin und Pfarrerin. Seit 2012 ist sie die leitende Geistliche (Präses) der Evangelischen Kirche von Westfalen und seit November 2021 zugleich Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

Vielleicht ist es so, dass sich irgendjemand besonders anstrengen muss, um Verhandlungen überhaupt erst anzuschieben. Können die Kirchen aktiv werden, wenn sich alle Staaten eingegraben haben?

Die Kirchen sind sehr aktiv. Sie leisten im Moment Großes bei der Aufnahme von Geflüchteten und Hilfen für die Menschen in der Ukraine. Sie sind aktiv gegen den Hass, sie werben für den Frieden, sie beten für die Opfer und auch für die Feinde. Ich traue der Kraft von Worten viel zu. Man wird die Kirchen sehr brauchen, wenn der Krieg zu Ende ist – hoffentlich wird das bald sein –, wenn es um Aufbau, Versöhnung, Umgang mit Traumata geht. Darin sind wir stark. Leider gehört zur Wahrheit, dass auch Kyrill sehr aktiv darin ist, dem Krieg den religiösen Unterbau zu liefern. Das ist bitter. Die Kirchen können anbieten, dass sie mit ihren Möglichkeiten zur Verfügung stehen, wo sie gebraucht werden.

Sie legen Wert darauf, die getöteten Menschen weder auf Helden für die gute Sache noch auf Handlanger eines Kriegsverbrechers zu reduzieren?

Ja. Das habe ich vorhin ja bereits erläutert. Solche Schablonen distanzieren und dispensieren vom Mitleid. Die Passionszeit aber zieht uns ins Leiden, in ein Mitleiden hinein. In der Passionszeit, die jetzt beginnt, besinnen sich Christinnen und Christen auf den Leidensweg Jesu ans Kreuz. Das qualvolle Leiden und Sterben dieses einen Menschen wird uns zum Spiegel für das Leiden der Vielen. Jeder Mensch hat eine eigene Geschichte. Jeder ist ein Mensch mit unverlierbarer Würde, jeder bleibt ein einzigartiges Geschöpf Gottes.

Sie haben vorhin den Ökumenischen Rat der Kirchen erwähnt. Der Generalsekretär des Ökumenischen Rats im Nahen Osten (MECC), Michael Abs, hat uns kürzlich im Interview gesagt, dass die EU-Sanktionen die Hilfe für die Erdbebenopfer in Syrien massiv behindern. Er bittet dringend um Aufhebung der Sanktionen. Werden Sie sich dafür einsetzen, die EKD-Kirchen sind ja Mitglied im MECC?

Es hat mich sehr erschüttert, zu sehen, dass die Hilfen in Syrien nicht ankommen. An dem Elend, das dort nach dem furchtbaren Erdbeben herrscht, wird deutlich, dass in dieser Notsituation für die Sanktionen nicht nur das Regime bezahlen muss.

Also kommt da ein Vorstoß?

Die Diakonie-Katastrophenhilfe ist mit ihren Partnerorganisationen seit Jahren vor Ort und hilft. Dort beobachtet man die Situation sehr genau. Es gibt Anzeichen, dass die Sanktionen nicht erst seit dem Erdbeben vor allem die Ärmsten der Armen treffen. Das darf aus meiner Sicht nicht sein.

Die Sanktionen zeigen, dass es einen Krieg vor dem Krieg gibt. Wäre es denkbar, dass die Kirchen sich in Konflikten schon früher einschalten, um nicht am Ende dann immer vor dem Dilemma des Radikalpazifismus stehen zu müssen?

Die Sanktionen gegen Russland sind nach dem Angriff verhängt worden, nicht vorher. Durch ihre weltweite ökumenische Vernetzung sehen die Kirchen oft sehr früh, wo Konflikte eskalieren, und leisten im Rahmen ihrer Möglichkeiten das Ihre, um Frieden zu stabilisieren. Dazu gehört die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen, denn Armut ist ein großer Konflikttreiber. Die kirchlichen Friedensdienste haben viel geleistet und hören nicht auf mit ihrer Arbeit. Wir werden weiterhin deutlich auf Fehlentwicklungen hinweisen. Nicht immer werden wir gehört.

Das Gespräch führte Michael Maier.