Antje Vollmer: „Sie war größer als ihr Amt“
Der Herausgeber der Berliner Zeitung, Michael Maier, über die Inspiration, die Antje Vollmer dieser Redaktion gebracht hat.

Plötzlich saßen Antje Vollmer, Ingo Schulze und einige andere vor uns in einem der sterilen Besprechungsräume im Bürogebäude in der Alten Jakobsstraße. Es war um Weihnachten 2019, von Corona war noch keine Rede, von der Rückkehr des Kriegs nach Europa auch nicht. Doch es lag etwas in der Luft. Wir gründeten ein Ressort „Zeitenwende“.
Die Friedrichs hatten die Berliner Zeitung übernommen und waren entschlossen, daraus eine offene Plattform zu machen. Antje Vollmer war die Wortführerin der Gruppe. Sie wollte mit den neuen Verlegern sprechen. Sie war einmal Bundestagspräsidentin gewesen, und als solche bekannt. Das lag schon lange zurück. Vollmer war einer der seltenen Persönlichkeiten, von der man sagen konnte, sie war größer als ihr Amt. Sie hatte das Amt geprägt, mit Scharfsinn, Bildung, Klugheit und einem Schuss Anarchie.
Lesen Sie hier den Vermächtnistext von Antje Vollmer, den die Politikerin kurz vor ihrem Tod exklusiv für die Berliner Zeitung verfasst hat
Vollmer hätte gerne die Bundesrepublik umgepflügt
In unserem ersten Gespräch war sie sehr höflich, aber auch bestimmt. Sie und ihre Freunde hätten uns aufgesucht, weil ihnen die Berliner Zeitung ein Blatt zu sein schien, das es mit dem Diskurs ohne Vorbehalte ernst meint. Vollmer und ihre Mitstreiter kamen entweder aus der Gründergeneration der Grünen oder waren Ostler. Später sollte sich herausstellen, dass auch Daniela Dahn, Peter Brandt und Friedrich Dieckmann zu einer Art informeller APO gehörten, die instinktiv eine schleichende Veränderung in Deutschland spürten. Sie fanden die Entwicklung nicht gut. Vollmer hatte einen christlichen Hintergrund mit hoher Affinität zu Kunst, Literatur und Philosophie, weshalb sie sich mit Leuten wie Bärbel Bohley oder Ulrike Poppe auf Anhieb und über weltanschauliche Gräben hinweg gut verstand. Die eigentliche Wiedervereinigung fand auf der Ebene der Bürgerrechtler statt. Doch mit dem Sieg des Westens verloren nicht nur die Bürgerrechtler aus dem Osten, sondern auch die Träumer aus dem Westen.
Vollmer hätte gerne die Bundesrepublik umgepflügt, die Ostler wollten die DDR bewahren, nur anders, und irgendwo hätte man sich in der Mitte getroffen – auf jeden Fall in einer besseren Welt. Es kam anders. Im gleißenden Licht des Marketing-Kapitalismus verdorrten die basisdemokratischen Triebe. Die Grünen wurden olivgrün, die Ostler ignoriert. Als die Vollmer-Gruppe ihre ersten Texte in der Berliner Zeitung platzierte, 2020 ff., bestand eine Ost-Redakteurin darauf, dass man einen Gegentext aus der Feder von Kalte-Krieg-Lohnschreibern bringen müsse, um „ausgewogen“ zu sein. Die Vollmer-Leute hatten kein Problem damit, sie lieferten so viele Texte, dass den Lohnschreibern die Luft ausging.
Vollmer hat große Texte verfasst
Das Friedenplädoyer von Antje Vollmer ist historisch, weil es nämlich zwei Jahre vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine kam: Vollmer hatte unermüdlich gewarnt, man werde den Frieden verlieren, wenn man alle Brücken abbricht. Vollmers Warnungen wurden nicht gehört, am wenigsten von ihrer Partei, obwohl diese die Macht gehabt hätte, die Utopie vom Frieden auszuprobieren. Im Juni 2020 führte ich mit ihr ein Interview. Sie bat mich, ihr die gedruckte Zeitung ins Krankenhaus zu bringen, es würde vermutlich ihr letztes Interview gewesen sein, sagte sie, sie werde sterben. Ich legte die Zeitung an den Bettrand. Sie überflog das Interview.
Sie schaute lange auf ihr Foto, dann auf das Ende des Interviews. Wir hatten uns dort einen Kunstgriff erlaubt. Auf die Frage „Sehen Sie heute bei den Grünen einen Politiker oder eine Politikerin, die an diese pazifistische Tradition anknüpfen könnte?“ stand da anstelle einer Antwort: „Antje Vollmer: ... (denkt lange nach und schweigt)“. Gut, sagte sie, das ist gut. Sie hat noch drei Jahre gelebt und große Texte verfasst, die bleiben.
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