Anton Hofreiter: Putin klar und deutlich sagen, dass er in diesem Krieg keine Chance hat
Der Grünen-Politiker und Vorsitzende des Europaausschusses über die weitere Unterstützung der Ukraine und die Rolle der Grünen in der Koalition.

Das Interview mit Anton Hofreiter findet im Besprechungsraum des Europaausschusses des Bundestags statt, dem der 52-Jährige vorsitzt. Es ist Sitzungswoche im Bundestag und die Termine der Abgeordneten sind dicht getaktet. Im Gespräch zeigt sich schnell: Mit der Entscheidung für Panzerlieferungen in die Ukraine ist ein Problem der Koalition ausgeräumt, viele andere bleiben.
Herr Hofreiter, die Entscheidung für eine Lieferung von Kampfpanzern ist gefallen. Mich würde das Making-of interessieren. Ist es so, wie Olaf Scholz insinuiert: Alle haben sich umsonst aufgeregt, während er hinter den Kulissen verhandelt und die USA mit ins Boot gezogen hat?
Es ist ehrlich gesagt egal, welche Geschichte die SPD jetzt erzählt. Für mich ist entscheidend, dass wir die Ukraine weiter unterstützen. Wichtig ist, gerade für mich als Europaausschuss-Vorsitzenden, dass wir in Zukunft das Vertrauen bei unseren europäischen Partnern wieder aufbauen.
Das heißt, dass im Vorfeld viel Vertrauen verspielt wurde?
Es ist wichtig, bei derart zentralen Themen überlegt vorzugehen. Aber es ist auch jeden Tag Krieg in der Ukraine. Wenn man Entscheidungen monatelang hinauszögert, ist das in einer derart bedrohlichen Situation ein großes Problem.
Wie meinen Sie das?
Warum liefern wir die Waffen? Doch nicht, weil wir das an sich toll finden. Es geht darum, dass die Ukraine sich verteidigen kann, damit dieser Krieg zu Ende geht. Wenn die Lieferungen verzögert werden, bringt das nicht nur die Ukraine in Schwierigkeiten. Auch Russland wird erst zu Verhandlungen bereit sein, wenn die Überzeugung in der russischen Führung wächst, dass sie diesen Krieg nicht gewinnen kann. Die glauben noch immer, der Westen sei schwach und langfristig gewännen sie den Krieg.
Der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich hat schon geargwöhnt, dass diejenigen, die im Alleingang Panzer liefern wollen, bald auch nach Truppen oder Flugzeugen schreien, wie er es nennt. Der ukrainische Präsident hat jetzt in der Tat schon Kampfjets angefordert. Wo endet die Unterstützung?
Ich kann absolut verstehen, dass die Ukraine angesichts der barbarischen Angriffe insbesondere auf die Zivilbevölkerung und angesichts der Kriegsverbrechen, die in den besetzten Gebieten begangen werden, alles haben will, was möglich ist. Aber es gilt die Regel: Wir werden nicht Kriegspartei. Deswegen gibt es einen Riesenunterschied zwischen der Aussage „Wir schicken Truppen“ und der Unterstützung mit Waffen.

Er hat sich von Anfang an gemeinsam mit seinen Abgeordnetenkollegen Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) und Michael Roth (SPD) intensiv für Waffenlieferungen in die Ukraine eingesetzt. Die drei Politiker waren die ersten deutschen Parlamentarier, die nach Kriegsbeginn in das Land reisten.
Die Koalition hat sich an der Panzer-Frage massiv zerstritten. Glauben Sie, dass es nach der Entscheidung harmonischer wird?
Das hoffe ich sehr, denn in Europa wird von Deutschland Führungsverantwortung erwartet. Im kommunikativen, aber auch im tatsächlichen Handeln. Deswegen erwarte ich, dass der neue Verteidigungsminister auch die Prokura hat und eine koordinierende Rolle etwa bei der Lieferung der Leopard-Panzer übernimmt. Das lange Schweigen aus Deutschland hat in Europa gelinde gesagt für Verunsicherung gesorgt.
Es bleibt also erst mal bei den genehmigten Kampfpanzern?
Es geht jetzt erst einmal darum, dass die Ukraine in ausreichender Stückzahl mit dem Waffensystem unterstützt wird, dessen Lieferung der Bundeskanzler gerade beschlossen hat. Die ukrainischen Soldaten müssen schnell ausgebildet werden, und die Zahl der Panzer muss ausreichend sein, denn es besteht die Gefahr, dass Russland im Frühjahr die Ukraine wieder von mehreren Seiten aus angreift. Dann braucht die Ukraine richtig viel Material, um sich weiter verteidigen zu können.
Aber im Ergebnis war es schon ganz geschickt von Olaf Scholz, dass die Amerikaner nun auch Panzer liefern, oder?
Ich bin froh, dass die Amerikaner dabei sind. Aber den Ärger auf dem Weg dorthin hätte man sich sparen können. Und die Vorstellung, dass Olaf Scholz das nun quasi im Alleingang erreicht hat, ist, sagen wir mal, interessant.
Es gibt noch genug andere Themen, über die sich die Koalition streitet. Die Klimapolitik zum Beispiel. Im Koalitionsausschuss wurde jetzt mit dem Verkehrsminister über die Klimaziele seines Ministeriums gerungen. Ist Verkehrsminister Volker Wissing für die Grünen der Problembär in der Koalition?
Im Verkehrsbereich ist es nicht sofort möglich, die Sektorziele einzuhalten. Das liegt an den Fehlern der Vergangenheit. So viel Ehrlichkeit muss sein. Die Bahn ist in eine grundlegende Schieflage geraten, es hat viel zu lange keine Fahrradstrategie gegeben, die Elektromobilität ist zu lange vernachlässigt worden. Trotzdem kann die Lösung nicht sein, dass man die Sektorziele aufgibt. Die Lösung muss sein, dass man sich einfach umso stärker anstrengt.
Und haben Sie den Eindruck, dass Verkehrsminister Wissing das nicht so richtig engagiert angeht?
Ich habe die Sorge, dass es in die falsche Richtung geht. Angesichts der Tatsache, dass wir kaum das Personal haben, um die bestehenden Autobahnen zu unterhalten, kann man nicht über den Bau neuer Autobahnen reden. Wir müssen erst mal sicherstellen, dass die Autobahnbrücken stabil bleiben. Im Klimabereich geht es auch zu langsam voran. Bei den Ladesäulen wurde ein bisschen was gemacht, aber es ist noch zu wenig. Bei der Bahn haben wir immer noch die Strukturen, die seit Jahrzehnten nicht funktionieren. Da muss man meiner Meinung nach mehr Druck machen.
Die FDP argumentiert, dass das Planungsbeschleunigungsgesetz allen Projekten zugutekommt, also auch der Bahn.
Ich bin der Meinung, dass Planungsbeschleunigung auf das fokussiert werden soll, wo ein großer Bedarf besteht. Das ist zum Beispiel bei der Ertüchtigung der Straßenbrücken der Fall. Wir haben keine entscheidenden Probleme beim Neubau von Autobahnen. Aber wir haben ein großes Problem beim Neubau von Schienen, wo man inzwischen Zeiträume von 20 bis 40 Jahren hat vom Beginn der Planung bis zur Fertigstellung. Das kann so einfach nicht bleiben.
Woran liegt das?
Es gibt organisatorische Defizite bei der Bahn. Außerdem ist das Planungsrecht sehr komplex. Und es hat auch damit zu tun, dass nicht ausreichend Geld zur Verfügung gestellt wird, sodass selbst was fertig geplant ist, nicht zeitnah gebaut werden kann. Es hat zwölf Jahre gebraucht, um das dritte und vierte Gleis zwischen München und Augsburg zu bauen – nachdem bereits alle Genehmigungen da waren! Vor weit über 100 Jahren hat es beim ersten und zweiten Gleis zwei bis drei Jahre gedauert.
Könnte es sein, dass wir die letzten 100 Jahre vor allen Dingen genutzt haben, um uns in ein komplexes Bürokratienetz einzuhegen, aus dem wir jetzt selber nicht mehr rauskommen?
Es ist eine Mischung. Es gibt inzwischen schlicht auch zu wenig Personal in der öffentlichen Verwaltung. In den Kommunen und in den zuständigen Genehmigungsbehörden sind viele Stellen von Bauingenieurinnen und Bauingenieuren gestrichen worden. Da ist Personalabbau manchmal sogar als Bürokratieabbau verkauft worden. Gleichzeitig sind die Regelungen deutlich komplizierter geworden. Man sieht das bei der Windkraft. Dort lagen die Genehmigungszeiten 2005 bei sechs bis neun Monaten. 2021 waren es sechs bis acht Jahre.
Na, wunderbar. Wie kriegt man das wieder weg?
Bei der Windkraft ist es gelungen, vieles zu entrümpeln, insbesondere mit dem Windkraft-an-Land-Gesetz. Wir brauchen gerade auch beim Ausbau der erneuerbaren Energien weitere Vereinfachungen. Umso ärgerlicher ist es, wenn Entscheidungen wie der jüngste Wind-Erlass in Bayern diese Bemühungen konterkarieren.
Wenn man sich jüngste Umfragen anschaut, dann gibt es ein Gefühl von Stillstand in Deutschland. Viele glauben, dass es in den nächsten Jahren eher schlechter wird. Ist so eine Stimmungslage nicht ein großes Problem für die Politik, gerade wenn man viel reformieren möchte?
Man sieht, dass es durchaus möglich ist, Dinge in Deutschland zu verändern.
Ja, das ist ein Problem. Aber man darf auch eines nicht vergessen: Wir sind bis jetzt durch diesen Winter viel, viel besser gekommen, als es noch im Spätsommer die meisten erwartet haben. Die Gasspeicher sind zu circa 90 Prozent voll. Es ist gelungen, eine ganze Reihe von Gesetzen zu verabschieden, wie eben das Windkraft-an-Land-Gesetz. Die LNG-Terminals wurden innerhalb kürzester Zeit gebaut, und von Blackouts oder Gasmangellage spricht keiner mehr. Man sieht, dass es durchaus möglich ist, Dinge in Deutschland zu verändern, und wir müssen jetzt einfach weiter gestalten.
Wie gefährlich für die Grünen ist die Enttäuschung bei einem Teil ihrer Klientel durch den Abriss von Lützerath?
Ich kann verstehen, dass Leute dagegen demonstrieren. Es geht ja um den Schutz unseres Klimas. Letztlich muss man anerkennen, dass die Einigung eindeutig einer der besseren Kompromisse ist. Der alte Kompromiss, der ja gemeinsam mit den Umweltverbänden vereinbart wurde, hat den Kohleausstieg für das Jahr 2038 festgeschrieben. Dass man es in einer Energiemangellage, die man im Herbst ja noch befürchtet hatte, schafft, den Kohleausstieg in Nordrhein-Westfalen um acht Jahre vorzuziehen, ist eine positive Nachricht.
Also alles in Ordnung?
Ich glaube, es ist auch für uns Grüne notwendig, dass wir bei Klimafragen insbesondere der FDP, aber teilweise auch der SPD und dort, wo wir in den Ländern mitregieren, noch mal härter entgegentreten und versuchen, mehr durchzusetzen. Das gilt insbesondere im Verkehrs- und im Baubereich.
Bald dauert der Krieg in der Ukraine schon ein ganzes Jahr. Wie ist Ihr Blick auf diese Zeit?
Es war ein heftiges Jahr. Insbesondere für die Menschen in der Ukraine war es ein schreckliches Jahr. Die Kriegsverbrechen von Butscha sind auch bei uns bekannt geworden, aber es gibt sie ja in nahezu allen besetzten Gebieten. Von denen, die man befreit hat, weiß man, dass schwerste Verbrechen begangen wurden. Es werden Kinder entführt, zwangsadoptiert, ihre Namen geändert. Es gibt massenhaft sexualisierte Gewalt gegen Frauen, Männer und Kinder. Die Hoffnung war trügerisch, dass wir nach dem schrecklichen Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien keinen größeren Krieg mehr in Europa sehen würden. Wenn wir zu langsam begreifen, was da passiert, werden die Menschen in der Ukraine den Preis dafür bezahlen.
Haben Sie eine persönliche Prognose, wie lang der Krieg noch dauern könnte?
Das hängt auch stark von unserem Handeln ab. Meine Analyse ist, dass je klarer und deutlicher wir Putin zeigen, dass er keine Chance hat, diesen Krieg zu gewinnen, desto eher wird er bereit sein, zu verhandeln. Noch glaubt Putin, dass er in einem lang andauernden Krieg am Ende gewinnen kann. Und erst wenn wir ihm deutlich gemacht haben, dass das nicht der Fall sein wird, erst dann besteht eine Chance, dass er zu ernsthaften Verhandlungen bereit ist.
Und danach sollte die Ukraine möglichst schnell in die EU?
Ja, die Ukraine sollte möglichst schnell in die EU. Es ist wichtig, dass wir die Europäische Union dafür fit machen und ermöglichen, dass sie weitere Mitgliedstaaten aufnehmen kann. Da geht es auch um die Aufnahme der Westbalkanstaaten, auch wenn sich Serbien gerade in die falsche Richtung entwickelt. Es geht dabei auch um die Auseinandersetzung zwischen Autokratie und Demokratie.
Wie meinen Sie das?
Ich schaue da nicht nur auf Russlands Angriffskrieg in der Ukraine und die Versuche, die europäischen Demokratien zu schwächen, sondern blicke auch nach China. Dort, wo die EU Lücken lässt, mischt sich China stärker ein – insbesondere im Westbalkan. Die EU-Erweiterung ist nicht nur gut für die Ukraine, sondern auch für uns. Sie ist ein geostrategisches Schlüsselland und macht uns unabhängiger. Mit 44 Millionen Menschen hat sie vor dem Krieg Nahrung für 500 Millionen Menschen produziert. Und wer uns da dann zukünftig unter Druck setzen will als Europäische Union, dem kann man durchaus mit einem gewissen Selbstbewusstsein antworten: Ihr mögt vielleicht seltene Erden haben, aber wir haben was zu essen. Wer wird am Ende wohl länger durchhalten?
Danke für das Gespräch.
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Interview: Christine Dankbar