Barack Obama in Hiroshima: Ein Ort für Visionen

Der Protest gegen den Besuch aus den USA fährt an diesem Freitagnachmittag in einem schwarzen Reisebus durch die Straßen Hiroshimas. An den Seiten des Gefährts prangen riesige japanische Fahnen, darin sitzen die „Aufrichtigen Untertanen des Kaisers“, so nennen sich die Rechtsradikalen.

Während US-Präsident Barack Obama auf dem Weg zu seinem Termin mit der Geschichte ist, beschallen die Rechten die Parallelstraßen aus ihren Lautsprechern mit markigen Sprüchen. „Die USA haben in Japan einen Genozid verübt, als sie 1945 die erste Atombombe in dieser Stadt abgeworfen haben.“ Der Besuch eines amerikanischen Präsidenten „verhöhnt unser Volk und unsere Götter“. Dann mokieren sie sich über die Hautfarbe des Präsidenten.

Die „Aufrichtigen Untertanen“ sind mit ihrer extremen Position jedoch eine Minderheit. Entlang des Friedensboulevards in Hiroshima haben sich schon am Freitagvormittag Zehntausende Bürger der Stadt gesammelt, die Obama mit eigenen Augen sehen wollen. Die meisten sind begeistert, dass sich endlich ein US-Präsident in ihrer Stadt blicken lässt. Wer hier wohnt, für den ist die atomare Gefahr nicht allein eine unheimliche Vorstellung, sondern geschichtliche Realität.

Die Flamme, die nicht verlischt

Es ist ganz still, als Barack Obama aus seiner schwarzen Limousine steigt. Er geht ein paar Schritte und legt dann am Gedenkstein für die Opfer der Atombombe einen Kranz ab. Hinter dem Stein brennt eine Flamme, sie wurde 1964 entzündet und soll erst erlöschen, wenn die Welt frei von Atombomben ist. Obama hält eine kurze Rede, in der er angemessene Worte für den Anlass findet. So jedenfalls sehen es viele seiner Zuhörer. „Das erste Lächeln unserer Kinder am Morgen. Wir wissen, dass genau diese kostbaren Momente auch stattfanden“ – noch kurz vor dem Abwurf der Bombe. „Die hier starben, waren wie wir“, fährt der Präsident fort. Das Wunder der Wissenschaft solle dazu dienen, Leben zu erhalten, nicht, es auszulöschen.

Er fordert dann dazu auf, über Religionen und Staaten hinauszudenken und die Menschheit als eine Familie zu begreifen. Das trifft den Nerv der Bewohner einer Stadt, die sich mit großem Engagement dem Frieden und der Abrüstung verschrieben hat. „Eine Mahnung zur Umkehr“ sieht Obama in den Ereignissen vor 71 Jahren. Er fordert neue Anstrengungen für eine atomwaffenfreie Welt – auch wenn es sie zu seinen Lebzeiten vermutlich nicht mehr geben werde.

Obamas Besuch hat historisches Format. Noch keiner der amerikanischen Nachkriegspräsidenten hat es für nötig befunden, den Ort zu besuchen, an dem ihr Vorgänger Harry Truman die erste Atombombe einsetzen ließ. Truman führte seinerzeit an, den Krieg möglichst schnell beenden zu wollen. Obama akzeptiert nun in offizieller Funktion, dass es auch eine andere Dimension des Kernwaffeneinsatzes gibt: das Leid, das die Bombe ganz unabhängig von Kriegsschuld und strategischen Fragen ausgelöst hat. „An einem hellen, wolkenlosen Morgen fiel hier der Tod vom Himmel.“ Die Bombe habe unbeschreibliches Leid und Schrecken verbreitet.

70.000 Menschen starben sofort, als am Morgen des 6. August 1945 die Bombe die Stadt traf. Fünf Monate später waren doppelt so viele tot. In Nagasaki, wo die Amerikaner drei Tage nach Hiroshima eine zweite Atombombe zündeten, starben 70.000 Menschen bis Dezember 1945. Unzählige weitere Menschen erkrankten erst später tödlich an der radioaktiven Strahlung.

Während Obama spricht, steht Japans rechtskonservativer Premier Shinzo Abe neben ihm. Er ist der Gewinner dieses Besuchs. Während die Visite für Obama ein innenpolitisches Risiko darstellt, wird das Profil des japanischen Regierungschefs durch den Auftritt an der Seite des US-Präsidenten gestärkt.

Obamas ist jedoch nicht Abe zuliebe gekommen, es war ein ehrlicher Wunsch des US-Präsidenten, der bis Freitagmittag zusammen mit Kanzlerin Angela Merkel 400 Kilometer entfernt am G7-Gipfel teilgenommen hat. Er hat sich in seinen beiden Amtszeiten für die atomare Abrüstung stark gemacht. Da er ohnehin nicht mehr zur Wiederwahl steht, kann er sich nun große Gesten leisten, die innenpolitisch nicht unbedingt populär sind.

Das offizielle Geschichtsbild in den USA besagt, dass die Kernwaffe das angemessene und notwendige Mittel gewesen sei, um den Krieg zügig zu beenden. So seien Hunderttausende Leben gerettet worden. Tatsächlich wäre ein Kampf Mann gegen Mann, Haus um Haus unvermeidlich gewesen, wenn der Kaiser nicht offiziell kapituliert hätte: Japan war fanatisiert, die Bevölkerung hielt ein Aufgeben für ehrlos.

Friedensnobelpreisträger Barack Obama

Einige Historiker weisen zwar darauf hin, dass das völlig erschöpfte Land bereits zu einem Friedensschluss bereit gewesen sei und sich die Macht der Bombe auch anders hätte demonstrieren lassen als mit dem Abwurf über einer Stadt. Doch das ist eine Außenseiterposition. In den USA ist eine Mehrheit überzeugt, dass das Land mit den richtigen Mitteln für die richtige Sache gekämpft hat.

Der Auftritt geht vielen Amerikanern also gegen den Strich, doch für Obama lohnt er sich trotzdem. Er nützt mehreren seiner Vorhaben. Die Fernsehbilder aus Hiroshima sollen beweisen, dass er die Abrüstungsversprechen aus den frühen Tagen seiner Präsidentschaft nicht vergessen hat. Obama ist 2009 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden, vor allem auch wegen seiner, wie das Komitee damals bemerkte, Vision für eine Welt ohne Atomwaffen. Doch am Ende seiner Amtszeit hat er nicht allzu viel vorzuweisen, das den Preis rechtfertigen würde. Der Besuch in Hiroshima ist eine Möglichkeit, trotzdem Momente zu schaffen, die für die Geschichtsbücher taugen.

Die USA haben zwar bereits Hunderte Atombomben entsorgt, besitzen aber immer noch knapp 5 000. Auch global ist das Projekt „atomwaffenfreie Welt“ kaum vorangeschritten. Mit Nordkorea ist in der Zwischenzeit sogar ein atomar bewaffneter Staat dazugekommen, ohne dass Obama etwas dagegen tun konnte.

Kritiker werfen Obama Widersprüche zwischen seinen Worten und Handlungen vor: Er spricht in Hiroshima lyrisch von Tod, Feuer und einer besseren Welt, doch seine Regierung kauft und liefert mehr Waffen als je zuvor. „Der Besuch in Hiroshima ist der Gipfel der Scheinheiligkeit“, kommentiert des einflussreiche konservative US-Magazin National Review. Obama sei als Oberbefehlshaber genauso an Zwänge gebunden wie seinerzeit Truman. Der Auftritt sei eine Farce.

Ganz so weit gehen Kommentatoren in Japan nicht. Doch sie weisen darauf hin, dass eine Abrüstungsbotschaft allein die Welt nicht unbedingt sicherer mache „Die guten Absichten des Präsidenten könnten die Sicherheit in der Region schädigen“, meint Peter Tasker, Analyst beim Forschungshaus Arcus Research in Tokio. Bisher habe gerade die militärische Stärke der USA die Stabilität und den Frieden sichergestellt. Tasker sieht die Scheinheiligkeit vor allem darin, sich auf Atombomben zu konzentrieren, wenn viel simplere Waffen derzeit ganz reales Leid anrichten.

Mehr Geld für Waffen

Wegen der angespannten Lage in Ostasien und weltweit liegt auch Japans Premier Abe nichts daran, dass Obama Ernst macht und die USA auf einen echten Abrüstungskurs bringt. Sein Land braucht die US-Atomstreitmacht als Schutzschirm gegen Nachbarn wie Nordkorea, China und Russland. Auch Abe muss sich Scheinheiligkeit vorwerfen lassen: In Hiroshima lässt er sich als Friedenspremier ablichten, doch er selbst treibt eine Politik der Wiederbewaffnung Japans voran.

Abes Politik verändert das japanische Selbstverständnis von einem pazifistischen Staat zu einem durchsetzungsfähigen Teilnehmer an regionalen Machtspielen. Er hat bereits ein Paket mit Sicherheitsgesetzen durch das Parlament gedrückt, die einen vorsorglichen Einsatz der Selbstverteidigungskräfte des Landes erlauben. Damit ist Japans ursprünglich streng friedliche Verfassung eigentlich schon ausgehebelt.

In Ostasien ist ein neuer Rüstungswettlauf ausgebrochen. Die Ausgaben gehen angesichts steigender Spannungen steil in die Höhe. Unter Abes Freunden in der Liberaldemokratischen Partei wird bereits die Forderung lauter, das eigene Land angesichts „nie dagewesener“ Bedrohungen atomar aufzurüsten. Und das in Japan, das mit Hiroshima, Nagasaki und Fukushima dreifach atomar verletzt ist.

Abes Rüstungsanstrengungen kommen auch Obama gelegen. Je mehr Japan fürs Militär ausgibt, desto mehr sparen die USA – schließlich ist Japan der Vorposten Amerikas im Pazifik. Gleichwohl ist Barack Obamas Besuch keine leere Geste, sondern gerade in einer Zeit, da weltweit immer extremere und aggressivere Politiker Erfolg haben, ein Symbol dafür, dass die USA sich ihrer Verantwortung stellen: als das einzige Land, das jemals Atombomben im Krieg eingesetzt hat.

Am Freitagnachmittag in Hiroshima wird Obama einmal mehr zum Redner mit einer Vision. „Wir können unsere Zukunft selbst wählen“, sagt er. Und entwirft eine Welt, die aus den Atomangriffen gelernt hat und „eine moralische Erweckung“ erlebt. Bei Shinzo Abe meint man in diesem Moment einen skeptischen Blick zu erkennen.