Merz-Versteher, Soja-Sören und Lindners Sohn: So macht die Parteijugend Wahlkampf in Berlin

Auch die Jugendorganisationen der Parteien werben um Stimmen. Dabei widersprechen sie gern der offiziellen Linie – ein Spitzenkandidat gilt sogar als Verräter.

Ob es der Mutterpartei hilft, ist der Parteijugend oft ziemlich egal
Ob es der Mutterpartei hilft, ist der Parteijugend oft ziemlich egalEmmanuele Contini

An einem kalten Januarsonntag stehen Mitglieder der Jungen Union vor einer Currywurstbude am Wittenbergplatz und diskutieren über die „Kleine Paschas“-Aussage des CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz. Eine Jurastudentin, die anonym bleiben möchte, urteilt: „Merz macht viel PR, Politik ist eben auch PR.“ Sie kenne niemanden, der Merz’ Aussage ernst nehme. Der Rassismusvorwurf komme öfter von Deutschen ohne Migrationshintergrund. Da ist sich die Gruppe, in der alle weiß sind, einig.

Ein 28-jähriger Ukrainer sagt: „Merz’ Worte waren plump gewählt, aber die Themen sind da. Man darf nur nicht vergessen, dass es auch kleine Paschas gibt, die hier ehrlich und hart arbeiten.“ Das Phänomen des Sozialtourismus erlebe er in seinem eigenen Bekanntenkreis. Auch würden Menschen aus Osteuropa hier mit dem Bürgergeld teils mehr Zuwendungen bekommen, als sie in ihrer Heimat verdienen könnten. Der VWL-Student möchte ebenfalls anonym bleiben. Er erzählt, die Atmosphäre in der Jungen Union sei heute lockerer als noch vor einigen Jahren. Damals habe man auf Partys noch viel Schlager gehört.

Warum er in der Jungen Union ist? Zu Beginn seines Studiums hätten die Bayern den Mathekurs problemlos absolviert. Bei den Berlinern hingegen habe völlige Überforderung geherrscht. „Unser Bildungssystem funktioniert unter Rot-Rot-Grün nicht“, sagt er.

Kritik an Geldern für queere und antirassistische Projekte

Gemeinsam mit der Jungen Union sind Mitglieder des Rings Christlich-Demokratischer Studenten hier, von denen viele in der JU aktiv sind. Sie kritisieren eine intransparente Verwendung von Mitteln durch den Studierendenausschuss der Freien Universität. Zu viel Geld gehe an antirassistische und queere Projekte.

Man selbst lehne Ideologie hingegen ab, erzählt einer von ihnen. Stattdessen fordert die Junge Union in Berlin: Keine verkürzten Züge der U-Bahn-Linie 3 zur Freien Universität mehr, kostenlose Tampons auf Damentoiletten.

„Eine Mitgliedschaft bei der Jungen Union hängt weder vom Geschlecht noch von der Herkunft ab“, erzählt der 35-Jahre alte Salahdin Koban. Er ist seit 2010 in der CDU und der Jungen Union und Autor des Buches „Deutschlands freiwilliger Untergang: Identitätskrise einer Nation, die keine sein will“. Laut Koban unterstütze die JU Kai Wegners Kandidatur von Beginn an.

Salahdin Koban
Salahdin KobanLichtgut/imago

Im Bund ziehen FDP und Grüne die meisten jungen Wählern an

Bei der Wahl des Abgeordnetenhauses im September 2021 entschieden sich nur acht Prozent der 18- bis 24-jährigen Wähler für die CDU. Über 40 Prozent von ihnen wählten die Grünen und Linke. Auf Bundesebene gaben dagegen nur acht Prozent der jungen Wähler ihre Stimme der Linken. Mit 21 Prozent gingen dort 10 Prozent mehr der jungen Stimmen an die FDP, als in Berlin. Auf Bundesebene waren die Favoriten der jungen Wähler bei der letzten Bundestagswahl FDP und Grüne. Für beide stimmten damals je 23 Prozent der Jungen. Grundsätzlich liegt die Wahlbeteiligung unter jungen Wählern meist stark unter dem Durchschnitt.

Linksjugend Solid: Klaus Lederer hat die Parteilinie verraten

Klaus Lederer, Spitzenkandidat der Linken, muss mit weniger Unterstützung durch seinen Jugendverband rechnen. Bei einem berlinweiten Treffen von Solid, wie sich die Linksjugend nennt, im Karl-Liebknecht-Haus in Mitte werfen die Jungen Lederer vor, die Parteilinie verraten zu haben. Der Grund: Er unterstützt Waffenlieferungen an die Ukraine. Das gleiche Urteil trifft Bodo Ramelow, den Ministerpräsidenten Thüringens. Auch er findet, dass deutsche Waffen in die Ukraine sollen.

Als im Karl-Liebknecht-Haus zwanzig Minuten nach der vereinbarten Zeit noch immer die meisten Stühle leer sind, beschließt man, trotzdem schon einmal anzufangen. Es kommt wohl keiner mehr. Der Männerüberhang ist mit neun zu drei eindeutig.

In der Vorstellungsrunde soll jeder der zwölf Anwesenden sein liebstes Arbeiterkampflied nennen. „Lob des Lernens vom Genossen Brecht“, sagt einer. „Unsere Heimat“, schlägt ein anderer vor. Es wird gefragt, ob das überhaupt ein linkes Lied sei. Im Stehen singen alle gemeinsam „Die Arbeiter von Wien“.

Die Revolution soll auf der Straße stattfinden, nicht im Parlament

Anschließend wird ein Vortrag über Rosa Luxemburgs politische Theorie gehalten. Es geht um die russische Revolution und das Scheitern der deutschen. Und es geht um die Frage, warum man in einer parteinahen Organisation sein sollte, wenn man Revolution wolle.

Ergebnis der Debatte: Die Revolution finde auf der Straße statt, im Parlament müsse das Volk nur vom Sozialismus überzeugt werden. Solid müsse die Brücke zwischen den Ufern bauen. Denn der Linken-Spitzenkandidat Klaus Lederer sei leider kein Revolutionär – er wolle den Staat nur „verwalten“.

Und wie steht Solid zu den umstrittenen Positionen Sahra Wagenknechts? Die Antwort fällt knapp aus. Ihre Kritik an der Identitätspolitik, die den Klassenkampf verdränge, teile man. Dennoch kritisieren die Solid-Mitglieder, dass sie gegen das Selbstbestimmungsgesetz stimmte.

AfD-Jugend: Über „Soja-Sören“ und seine gebändigte toxische Männlichkeit

Bei der Jungen Alternative ist der Kampf gegen die Identitätspolitik zentrales Thema. Auf einer Wahlkampfveranstaltung der AfD vor dem Schloss Charlottenburg spricht auch der Nachwuchs. Martin Kohler, Vorsitzender der Jungen Alternative Berlin, ist 25 Jahre alt. Er trägt Krawatte, darüber eine forstgrüne Steppjacke.

In seiner Rede zeichnet er das Bild des „Soja-Sören“, laut Kohler der Prototyp des Berliner Studenten. „Soja-Sören“ studiert Soziale Arbeit und besucht einen feministischen Lesekreis. Für seine Exfreundin hat er sich das Gendern angewöhnt und „seine toxische Männlichkeit gebändigt“. Die Letzte Generation nennt Kohler eine „Sekte“. Der bekennende Christ erntet zustimmende Rufe und Applaus von knapp hundert Menschen, die sich vor der Bühne versammelt haben.

In der letzten Reihe haben sich Männer in schwarzen Lederjacken breitbeinig aufgestellt, die Arme vor den Oberkörpern verschränkt. Wenige Hundert Meter weiter versammeln sich die Antifa, die Jusos und die FDP zu Gegenkundgebungen.

Kohler hat mit 24 Jahren geheiratet. Er sagt, Familie sei ihm wichtig, und Nächstenliebe auch. Was die JA von der AfD unterscheidet? „Die Junge Alternative will positive Gefühle vermitteln, die AfD fokussiert sich oft auf negative Botschaften“, so der ehemalige Geschichtsstudent. Ansonsten sei man politisch auf einer Linie. Seit 2019 wird die Jugendorganisation bundesweit vom Verfassungsschutz beobachtet, sie gilt als Verdachtsfall für eine extremistische Bestrebung.

Rechtsaußen soll es auch Hipster und Veganer geben

Das typische JA-Mitglied gebe es nicht, sagt Kohler. „Nicht jeder bei uns sieht sich als konservativ. Seit der Corona-Pandemie gibt es bei uns auch Veganer und Leute, die aussehen wie Hipster.“ Sie alle eine das Wissen, dass in Deutschland einiges falsch laufe. Der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in der JA beträgt nach Kohlers Angabe knapp 20 Prozent. Um welche Nationalitäten es sich dabei handelt, sagt er nicht. Den Frauenanteil schätzt er ebenfalls auf knapp ein Fünftel.

Die Jungen Liberalen wollen eine „mutige Politik der Mitte

Auch bei den Jungen Liberalen, dem FDP-Nachwuchs, ist nur jeder Fünfte eine Frau. Auf der Weihnachtsfeier in Berlin-Mitte sind es noch weniger. Unaufgefordert erzählt mir eine 24-Jährige, sie habe sich in der Organisation trotzdem nie unwohl oder benachteiligt gefühlt. Die Jungs seien alle vernünftig und respektvoll, würden einschreiten, wenn sie Übergriffigkeiten beobachten, und sie nach Partys heimbringen. Gut erzogen eben.

„Hi, ich bin der Sohn von Christian Lindner

Viele tragen Hemd, auf dem Boden tummeln sich weiße Nike Air Max und Tennissocken. Ein Start-up-Geist weht durch die Luft. „Hi, ich bin der Sohn von Christian Lindner“, stellt sich mir ein blonder Jungunternehmer mit Applewatch am Handgelenk grinsend vor. Lindner ist bekanntermaßen kinderlos.

Politisch will das Gros weder rechts noch links stehen: Ob ich mich neben der FDP eher der CDU oder den Grünen zugehörig fühle, wird gefragt. Beides sei hier willkommen. Die meisten Jugendorganisationen vertreten die Dogmen ihrer jeweiligen Mutterpartei stärker als die JuLis. Von reiner, libertärer Lehre ist hier wenig zu spüren.

Bei den JuLis sollen „alle liberalen Strömungen gern zusammenkommen“, so Christina Turbatu, Landesvorsitzende der JuLis Berlin, gegenüber der Berliner Zeitung. Die kommende Wahl sieht sie als „Chance, dass sich eine mutige Politik der Mitte etabliert“. Das Berliner Verwaltungschaos müsse beendet und Berlin als Ganzes neu gedacht werden. Man setze volles Vertrauen in den FDP-Spitzenkandidaten Sebastian Czaja und unterstütze ihn aus Überzeugung.

Die Jusos: Jungsozialisten oder solche, die es gerne wären

Die Jusos hingegen nennen sich den „Stachel im Fleisch der Mutterpartei“ und sind auf die Spitzenkandidatin der SPD kurz vor der Wahl nicht gut zu sprechen. Giffey-Kugelschreiber werden auf Wahlkampfveranstaltungen trotz Kritik an ihren CDU-nahen Positionen verteilt. Mit knapp 5000 Mitgliedern sind die Jusos die größte politische Jugendorganisation Berlins.

Die Geister zwischen Mutterpartei und Nachwuchs scheiden sich schon bei den Grundsatzfragen: Die SPD hat den Demokratischen Sozialismus als politisches Ziel festgelegt. Die Jusos wollen den Sozialismus – zumindest auf dem Papier. In der Realität sind sie sich darüber nicht immer einig.

Bei einem Treffen in Charlottenburg sind die meisten Teilnehmer Studenten. Das Grundsatzprogramm der Jusos wird besprochen. Als von der Forderung nach hohen Steuern ab einem Vermögen von einer halben Million Euro die Rede ist, wundert sich ein jungsozialistischer Jurastudent. So viel? Vielleicht liegt es daran, dass wir in Charlottenburg sind. Nach kurzer Debatte wird der Punkt dennoch abgenickt.

Die Jusos wollen sich einsetzen für die Sanierung von Berlins maroden Schulen, und die finanziellen Entlastungspakete der Bundesregierung werden diskutiert. Einstimmiges Ergebnis: Sie reichen nicht aus.

Jessica Rosenthal, Parteivorsitzende der Jusos in der SPD
Jessica Rosenthal, Parteivorsitzende der Jusos in der SPDS.H.Schröder

Zurück zu den Anfängen: Immer noch Karl Marx und Rosa Luxemburg

Man ist sich einig: Die Jusos dürften ihre ideologischen Wurzeln nicht vergessen, Karl Marx und Rosa Luxemburg. Bei allen Meinungsverschiedenheiten, so heißt es, bleibe eine Konstante: der Kapitalismus als Kernproblem unserer Gesellschaft. Vielleicht könne man ja eine Wochenendexkursion machen, auf der Theorie gelesen wird, schlägt ein Theologie-Student vor. Eine junge Frau wünscht sich einen marxistischen Lesekreis für Finta-Personen.

Ob man nicht die sogenannten feministischen fünfzehn Minuten abschaffen könne, fragt einer. Die Zeit wird zu Beginn jeder Sitzung für einen Vortrag über feministische Belange eingeräumt. Neun Männer und fünf Frauen sind hier, zählt ein Student laut durch. Man sei noch lange nicht am Ziel. Antrag abgelehnt.

Grüne Jugend: Veganes Essen und Altgrünen-Kritik

Die Grüne Jugend übt, wie die Jusos und Solid, linke Kritik an ihrer Mutterpartei. Man sehe sich zwischen Parlament und Straße organisiert, und beteilige sich aktiv an der Klimabewegung, so Luna Afra Evans, Sprecherin der Grünen Jugend Berlin.

Luna Afra Evans Sprecherin im Landesvorstand der GRÜNEN JUGEND Berlin
Luna Afra Evans Sprecherin im Landesvorstand der GRÜNEN JUGEND BerlinKilian Vitt/Grüne Jugend

Die Mitgliederversammlung in Charlottenburg beginnt mit einer Befindlichkeitsrunde, in der alle kurz erzählen, wie es ihnen geht. Unter den zehn Teilnehmern ist der Anteil an Männer und Frauen ausgeglichen. Insgesamt sind in der Grünen Jugend Berlin knapp die Hälfte der Mitglieder weiblich, inter oder divers.

Es gibt beim Treffen ein „awareness team“ aus zwei jungen Frauen, für den Fall, dass sich jemand unwohl fühlt. Einer fragt, ob man mal im Verband essen gehen könne. Klar, aber das Essen müsse laut Satzung vegan sein.

Es werden Gremien gewählt, davon muss die Hälfte mit Finta-Personen besetzt sein. Ein junger Mann kandidiert. Er sagt, er komme gut mit den Altgrünen zurecht, das solle den anderen bei der Abstimmung bewusst sein. „Mit welchem Flügel?“, wird er gefragt. Damit habe er sich noch nicht so recht auseinandergesetzt.

Giffey ist eine konservative Bürgermeisterin, findet die Grüne Jugend

„Eine Koalition mit der CDU wäre ein fatales Zeichen für die Zukunft Berlins. Konservative Politik lehnen wir ausdrücklich ab“, sagt Evans gegenüber der Berliner Zeitung. „Kai Wegners Vision von Berlin handelt von rassistischen Vornamen-Debatten und zugeparkten Kiezen.“ Doch auch in der rot-grün-roten Regierung werde konservative Politik betrieben, findet Evans. Giffey stehe echtem Fortschritt im Weg.

Welchen politischen Einfluss die Jugendorganisationen auf das Wahlergebnis haben, ist schwer zu sagen, aber Kritik an der eigenen Partei hilft ja zumindest stets der Konkurrenz.