Beschneidung: „Das Wohl des Kindes ist nicht verhandelbar“

Herr Stehr, Ihr Verband hat das Kölner Urteil zum Verbot von Beschneidungen begrüßt. Warum wollen Sie Juden und Muslime diskriminieren?

Darum geht es überhaupt nicht. Aber für mich als Arzt steht das Recht des Kindes auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit im Vordergrund. Dieses Recht kann auch durch religiöse Motive der Eltern nicht ausgehebelt werden. Die Einwilligung der Eltern für eine Operation an einem Kind ist aus gutem Grund nur rechtswirksam, wenn sie dem Wohle des Kindes dient. Auch unser ärztliches Berufsethos verpflichtet uns, Eingriffe nur vorzunehmen, um den Patienten zu helfen und sie zu heilen. Das ist bei einer Beschneidung, die ausschließlich religiöse Gründe hat, nicht der Fall.

Ist es nicht auch zum Wohle des Kindes, dass es mit der Beschneidung vollwertiges Mitglied in der Religionsgemeinschaft der Eltern wird?

Ich fordere ja kein vollständiges Verbot von rituellen Beschneidungen. Ich plädiere aber für einen Aufschub. Der Eingriff darf erst erlaubt sein, wenn der Junge die Tragweite der Operation sowie die Vor- und Nachteile selbst übersehen kann. Die Juristen nennen das Einsichtsfähigkeit. Wenn Eltern mit ihren 14- oder 16-jährigen Söhnen zu mir kommen und auch der Jugendliche die Beschneidung will, dann habe ich nichts dagegen.

Vor allem die jüdische Religion schreibt jedoch eine sehr frühe Beschneidung vor.

Das stimmt. Doch es kann doch kein Argument sein, dass etwas seit circa 4000 Jahren so gemacht wird. Heute bewerten wir das Selbstbestimmungsrecht des Kindes anders als früher. Im Übrigen haben mir jüdische und auch muslimische Mitbürger berichtet, dass Kinder durch den Aufschub der Beschneidung keine sozialen Nachteile erleiden müssen, also zum Beispiel den Ausschluss aus der Religion. Schon immer galt zum Beispiel Krankheit als Grund für einen Aufschub. Warum dann nicht das Zugeständnis zur eigenen freien Zustimmung?

Mit einem Verbot werden sie aber wohl nur erreichen, dass die Kinder im Ausland oder hierzulande unter schlechteren medizinischen Bedingungen operiert werden. Wollen Sie das hinnehmen?

Man kann doch nicht ein Übel tolerieren, um ein anderes zu verhindern. Das ist nicht mein Rechtsverständnis.

Beschneidungen haben nach Ansicht vieler Experten auch aus medizinischer Sicht Vorteile. So zeigen Studien, dass die Gefahr, an Aids zu erkranken, sinkt.
Nehmen Sie das nicht zur Kenntnis?

Diese Studien wurden in Afrika erstellt und haben auch nur dort Gültigkeit. Auf Deutschland, wo die Aids-Rate um Dimensionen niedriger liegt, kann man diese Erkenntnisse nicht übertragen. Und nur zur Erinnerung: Ich plädiere für einen Aufschub der Beschneidung. Säuglinge können sich doch nicht über Geschlechtsverkehr infizieren, sondern werden meist vorgeburtlich über die Mutter mit Aids infiziert, und zwar mit Vorhaut oder ohne.

Aber das Ganze schadet doch auch nicht, oder ?

Wir reden hier nicht über einen läppischen Eingriff! Untersuchungen zeigen, dass es bei jedem fünften Säugling nach der Operation Probleme gibt. Sie sind zum Teil so schwerwiegend, dass noch einmal operiert werden muss. Es gibt Nachblutungen, Narben, häufig später eine Verengung der Harnröhrenöffnung, und sogar teilweise Amputationen des Gliedes habe ich gesehen. Abgesehen davon dürfen wir mögliche Auswirkungen auf die Sexualität nicht außer Acht lassen, über die immer wieder von Betroffenen berichtet wird.

Was kann denn passieren?

Die Vorhaut stellt letztlich eine erogene Zone da. Die schneidet man einfach weg. Das bleibt doch nicht folgenlos. Männer, die später beschnitten wurden und damit einen Vorher-Nachher-Vergleich haben, berichten daher auch von einer geringeren Sensibilität nach dem Eingriff.

Die Bundesregierung will das Urteil des Kölner Landgerichts nun durch eine rasche Gesetzesänderung aushebeln.

Ich kann davor nur warnen. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit des Kindes ist durch das Grundgesetz vorgeschrieben. Dieses Grundrecht ist nicht verhandelbar. Man kann es nicht irgendwie teilen und bestimmten Gruppen eine Verletzung erlauben, anderen aber nicht. Da kommen wir in Teufels Küche. Das kann auch nicht im Sinne derer sein, die jetzt ihre vermeintlichen Rechte einfordern. Das Pochen auf ein besonderes Recht kann sich für die Betroffenen schnell als Bumerang erweisen.

Das Gespräch führte Timot Szent-Ivanyi