Bettina Jarasch: War die Sperrung der Friedrichstraße gefährlich - oder für die Grünen genial?
Die Spitzenkandidatin der Grünen will nach einem Jahr im Senat „nicht nur die Nette“ sein und setzt im Wahlkampf auf eine bestimmte Strategie. Unterwegs mit einer Entschlossenen.

Zehn Tage vor der Wahl läuft Bettina Jarasch über die Schloßstraße in Steglitz, zwischen Journalisten und Leuten ihrer Partei, die Bündel mit Flyern in den Händen halten. Sie will in nur einer Stunde drei Wahlkampfstände der Grünen entlang der Einkaufsstraße besuchen. In diesem Tempo rast sie zurzeit durch die Stadt. Es ist viel zu tun. In den Umfragen liegt die CDU seit Wochen vorn, die SPD an diesem Tag auf dem zweiten Platz, aber es könnte am Wahlsonntag vor allem darauf ankommen, wer die meisten Anhänger dazu bringt, überhaupt wieder wählen zu gehen.
Eine Passantin bleibt stehen und ruft: „Ach, die Friedrichstraßen-Frau!“
Neben Jarasch läuft Nils Busch-Petersen über die Straße, der Chef des Handelsverbands Berlin-Brandenburg. Der hat ihr zur Begrüßung erklärt, dass er ihr jetzt mal eine funktionierende Einkaufsstraße zeige, und zwar eine, auf der sogar Autos fahren. Als Jarasch wenige Tage zuvor einen Teil der Friedrichstraße in Berlin-Mitte wieder für Autos hatte sperren lassen, postete Busch-Petersen, aus Berlin solle wohl eine „Weltstadt Bullerbü“ werden.
An einem Wahlkampfstand unterhält sich Jarasch mit einem Mann, der von ihr wissen will, ob sie ihm sein Auto wegnehme. Und ob sie die mit dieser Straße sei. Der Name ist ihm entfallen. Hier in Steglitz.

„Die mit der Friedrichstraße“, antwortet Jarasch und lacht. Ihr typisches Jarasch-Lachen, mit dem sie oft auch auf unangenehme Fragen reagiert. Bei der Frage des Mannes aber wirkt sie gut gelaunt. Ganz so, als sei ein Plan aufgegangen.
Sie ist jetzt die mit der Friedrichstraße. In den letzten Tagen des merkwürdigen Wiederholungswahlkampfs in Berlin. Sie ist die, die Straßen für Autos sperrt, Verbrenner verbieten und ganz Berlin mit Radwegen zupflastern will. Das ist eine ganze Menge mehr, als Bettina Jarasch im letzten Wahlkampf vor anderthalb Jahren in Berlin war. Die Leute in der Stadt haben jetzt eine Ahnung, wer sie ist. Ihre Botschaften gefallen vielen nicht, die Sache mit der Friedrichstraße hat die halbe Stadt gegen Jarasch aufgebracht. Das riskiert sie.
Ob die erneute Sperrung mitten im Wahlkampf gefährlich war oder genial, wird sich am Wahlsonntag erweisen. Die Straße ist so bekannt, dass ihre Sperrung natürlich auch ein Symbol ist. Aber macht es genug Leuten gute Laune? Oder verärgert es die Berliner so sehr, dass sie gleich den ganzen Senat loswerden wollen? Jarasch hat erklärt, in einer Koalition mit SPD und Linken weitermachen zu wollen. Aber diesmal will sie die Chefin dieser Koalition werden. Um dieses Ziel zu erreichen, brauchen die Grünen nicht die Stimmen von 80 Prozent der Berliner. Aber sie brauchen mehr als die SPD, mehr als Franziska Giffey.
Die Unbekannte, die Beinahe-Wahlsiegerin
Jedenfalls wird Jarasch nun, an diesem Tag in Steglitz, auf der Straße erkannt. Im Sommer 2021 war sie ebenfalls in Steglitz. Sie sprach in einem Park vor ein paar Dutzend Grünen-Anhängern. Nach dem Auftritt eines Öko-Zauberers. Fast zwei Drittel der Berliner gaben in Umfragen an, dass sie keine Ahnung hätten, wer Bettina Jarasch ist.
Bei der Wahl im September kamen die Grünen trotzdem auf Platz zwei, nur knapp hinter der SPD. Am Wahlabend schien es sogar, als würde Jarasch neue Regierende Bürgermeisterin werden und nicht Franziska Giffey. Eine Prognose des rbb sah die Grünen knapp vorn. Eine Prognose ausgerechnet des Senders, bei dem Oliver Jarasch arbeitet, ihr Mann.
Jarasch stand auf einer Bühne in der Columbiahalle in Tempelhof, auf der Wahlparty ihrer Partei, sagte, dass man abwarten müsse. Sie strahlte, wie so oft, aber an diesem Abend schien sie fast zu schweben. Sie hatte es allen gezeigt.

Die Unbekannte, die Frau ohne Regierungserfahrung. Jarasch, die jetzt 54 ist, war Journalistin und hat für die Grünen im Bundestag gearbeitet, bevor sie in die Partei eintrat. Die Kandidatin, auf die sich die Grünen nur geeinigt zu haben schienen, weil sie keinem der zerstrittenen Lager im Berliner Landesverband angehörte. Die Frau, von der es hieß, sie profitiere nur vom Hype um Annalena Baerbock und Robert Habeck, von der grünen Welle, die vor der Bundestagswahl anrollte, die am selben Tag war wie die Berlin-Wahl. Als diese Welle abflachte, sanken auch Jaraschs Umfragewerte. Aber die Grünen in Berlin kamen wieder nach oben, anders als die Grünen im Bund.
Sie holten in Berlin das beste Ergebnis, das sie hier je hatten. Bettina Jarasch wurde Senatorin für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz – und Bürgermeisterin. Nur eben nicht Regierende.
Von allen Themen, die sie bearbeitet, ist der Verkehr das, was die Berliner am meisten aufregt. Aus völlig verschiedenen Gründen. An einem verregneten Tag Anfang Januar bauen sich sieben Menschen mit großen Schildern an der Frankfurter Allee in Friedrichshain auf. Sie fordern Tempo 30 für die Hauptverkehrsstraße. Sofort. Sie richten sich an Bettina Jarasch, die hier gleich ein Stück Radweg einweihen wird.

Jarasch kommt mit einem E-Bike, als sie absteigt, sagt sie zu ihrer Mitarbeiterin: Es seien Journalisten da, die ausschließlich schauen wollen, wo sie ihr Rad abstelle. Im Oktober war sie zur Eröffnung eines anderen Radwegs mit dem Auto gekommen und dann auf ein Rad gestiegen, für die Kameras. Das hatte böse Schlagzeilen gegeben.
Sie stellt ihr E-Bike an einen normalen Fahrradständer und erklärt in einer Rede, dass an diesem Tag der letzte Pop-up-Radweg in Berlin „verstetigt“ werde. Man versteht Jarasch kaum, weil Lkw durch ihre Worte donnern. Ein Mann vom Allgemeinen Deutschen Fahrradclub äußert Lob, aber auch Kritik. Die Pop-up-Radwege stammen noch aus der ersten Phase der Pandemie, seitdem sind kaum neue Radwege in Berlin entstanden. Den Leuten, die bei Jaraschs Terminen protestieren, geht alles nicht schnell genug. Der Rest der Stadt reagiert oft allergisch auf ihre Ideen zur Verkehrswende.
Sie joggt durch Berlin, allein
Sie wolle ihm nicht das Auto wegnehmen, erklärt Jarasch dem Mann in Steglitz. Sie fahre selbst manchmal Auto, weil sie nicht alles mit dem Rad oder zu Fuß schaffe. Das sagt sie immer, wenn der Vorwurf kommt, sie wolle Autos verbieten. Die Autos, mit denen sie im Wahlkampf manchmal unterwegs ist, sind E-Autos. Verbrenner sollen ihrer Ansicht nach bis 2030 aus der Innenstadt verschwinden. In sieben Jahren. Das wiederholt sie am Wahlkampfstand nicht, sondern spricht von mehr Platz für alle, und auch für Bäume. Der Mann wünscht ihr Glück.
Auf der Frankfurter Allee sagt sie, es werde bei den neuen Koalitionsverhandlungen „einen deutlichen Radfahrschwerpunkt“ geben. Noch klingt sie, als bereite sie sich auf die nächste Amtszeit als Verkehrssenatorin vor.
In der dritten Januarwoche halten die Berliner Grünen im Hotel Estrel in Neukölln ihre Landesdelegiertenkonferenz ab. Jarasch kommt, als der Saal schon voll ist, und steuert ihren Platz in der ersten Reihe an, ohne hier oder dort stehen zu bleiben. In ihrem Wahlkampfvideo, das vorgestellt wird, joggt sie durch Berlin, von ihrer Wohnungstür bis zum Roten Rathaus. Allein.

Sie setzt sich, arbeitet an einem Papier, wenig später geht sie auf die Bühne, in einem rosa Pulli und einem schwarzen Rock, um ihre große Wahlkampfrede zu halten. Genauer gesagt: um sie abzulesen. In persönlichen Gesprächen kann sie charmant und gewinnend wirken, auf der Bühne arbeitet sie sich eher angestrengt durch ihren „Plan für Berlin“, redet über „Mieterinnenstrommodelle“, verkehrsberuhigte Plätze und Bienen auf Dächern. Man kann vor Details kaum folgen.
Den größten Applaus bekommt sie, als es um Lützerath geht, den Ort, der für den Kohlekompromiss der Grünen im Bund abgebaggert wird. In Nordrhein-Westfalen. Der Kompromiss sei „kein toller Erfolg“, sagt sie. Sie kritisiert die Bundespartei. Annalena Baerbock und Robert Habeck werden erst zwei Tage vor der Wahl für einen gemeinsamen Auftritt nach Berlin kommen.
Freundlich oder eine Überrumpelung?
Ihr eigentlicher Wahlkampfauftakt folgt vier Tage später, in einer Pressekonferenz, die sie als Verkehrssenatorin gibt. Es ist die Friedrichstraßen-Pressekonferenz. Sie sagt selbst, dass es um „das vielleicht meistdiskutierte“ Projekt des Stadtumbaus geht.
Sie redet von Liefer- und Ladezonen, „hochwertigen Sitzmöbeln“, von Stadtumbau in Brüssel und Singapur, sie verspricht, dass es „sehr, sehr schön“ wird in der Friedrichstraße. Sie sagt: „Während wir hier sitzen, werden die Anlieger informiert.“ Das klingt erst freundlich und dann nach Überrumpelung.
Es sind noch drei Wochen bis zur Wahl. Ihre Mitarbeiter hatten Anfang Januar gesagt, dass dann die heiße Phase beginne.
Franziska Giffey, ihre Chefin im Senat und Konkurrentin im Wahlkampf, hat schon am Vorabend erklärt, dass sie wenig von der Sperrung der Straße halte. Auf die Kritik angesprochen, sagt Jarasch am Morgen: „Wenn Franziska Giffey das jetzt nicht teilt, dann wundert mich das.“
Ein paar Tage später ist Giffey in der Abendschau zu sehen. Ein Mann erklärt ihr auf der Straße, dass er CDU wählen will. „Wissen Sie, wer dann ins Rathaus kommt?“, fragt Giffey. Wegner, sagt der Mann. Nee, sagt Giffey. Was denn, fragt der Mann. „Na, Frau Jarasch“, sagt Giffey, als wolle sie den Mann erschrecken.
Das ist jetzt der Ton. Die zwei Frauen, die ein Jahr lang Kolleginnen waren, einander seit den Koalitionsverhandlungen duzen, die möglicherweise auch noch in Zukunft gemeinsam regieren werden, scheinen vor allem gegeneinander zu kämpfen. Während der Mann von der Union in den Umfragen davonzieht.

Der Wahlkampf sei diesmal „nicht nur kürzer, sondern auch aggressiver“, sagt Bettina Jarasch elf Tage vor der Wahl. Sie nimmt in der Parteizentrale der Berliner Grünen einen Energieriegel aus einem Glas. Sie habe heute noch nichts gegessen, sagt sie. Es ist 15 Uhr, auf dem Tisch stehen noch die Kaffeetassen vom vorigen Interview. Niemand hat Zeit, etwas wegzuräumen.
Die, die immer gedacht haben, ich bin nur die Nette, wissen jetzt, dass ich Dinge durchsetzen kann.
Die Unterschiede zwischen den Parteien kämen deutlicher heraus, sagt Jarasch, das sei gut für die Demokratie. Sie spricht über die „Aufholjagd“ beim letzten Mal und sagt: „hätten wir noch zwei, drei Wochen mehr gehabt“. Vielleicht wäre sie dann schon Regierende Bürgermeisterin. Aber sie sei auch dankbar für das Jahr als Senatorin, „in einer großen, bauenden, die Stadt gestaltenden Verwaltung“. 1500 Mitarbeiter, ganz viele Fachleute darunter. Es sei eine perfekte Vorbereitung gewesen.
Was hat die Stadt gelernt über Bettina Jarasch? „Die, die immer gedacht haben, ich bin nur die Nette, wissen jetzt, dass ich Dinge durchsetzen kann.“ Und was würde sie von Franziska Giffey unterscheiden, als Regierende? „Ich bin weniger von den aktuellen Schlagzeilen getrieben“, sagt sie.
Bei der Verabschiedung erzählt sie, dass sie ihre Magisterarbeit über Nietzsche geschrieben habe, über den „Willen zur Macht“.
Am Wochenende vor der Wahl erklärt Kai Wegner in einem Interview, dass die Verkehrspolitik der Ökopartei nicht mit ihm zu machen sei, für einige klingt es, als schließe er eine Koalition mit den Grünen aus. Bettina Jarasch antwortet ihm am Sonntagmorgen vor dem S-Bahnhof Treptower Park. Hier soll gleich eine Fahrraddemo gegen den Weiterbau der A100 starten. Der Autobahn, die Wegner die „Klimaautobahn“ nennt. Ricarda Lang ist da, die Bundesvorsitzende der Grünen, in Mantel und Kleid und ohne Fahrrad. Die Mikrofonanlage verschluckt das Ende von Jaraschs Sätzen, sie muss so oft ansetzen, dass sie wie eine Platte mit Sprung klingt.

„Wer am nächsten Sonntag Sonstiges wählt, der bekommt Sonstiges und keinen Klimaschutz“, diesen Satz bekommt sie heraus. Sie kämpft nicht nur gegen die Großen, auch gegen die Kleinen. Gegen alle. Sie macht ein Gruppenfoto hinter einem Transparent, setzt sich auf ihr Rad und fährt in die Kälte.