Gates Stiftung: „Wir müssen in den nächsten Jahren weiter geimpft werden“

Der Deutschland-Chef der Bill und Melinda Gates Stiftung skizziert, wie sich die Stiftung die Reaktion auf künftige Pandemien vorstellen kann.

Bill Gates auf der Klimakonferenz in Glasgow. 
Bill Gates auf der Klimakonferenz in Glasgow. dpa

Tobias Kahler, Deutschland-Chef der Bill und Melinda Gates Stiftung, zieht ein Zwischenfazit über die Impfkampagne gegen Covid-19. Er erklärt, welche globalen Schritte als nächstes notwendig sind und gibt außerdem einen Ausblick, wie sich die Stiftung die Reaktion auf künftige Pandemien vorstellen kann.

Berliner Zeitung: Herr Kahler, bei unserem Gespräch vor einem Jahr haben Sie auf die Notwendigkeit einer globalen Herdenimmunität hingewiesen und gesagt, wenn wir eine Immunität bei etwa 60 Prozent der Bevölkerung erreicht haben werden, dann werde die Pandemie vorbei sein. Wie sehen Sie das heute?

Tobias Kahler: Einigkeit besteht sicherlich bei einem Fazit: Die Wissenschaft hat in Rekordzeit Ergebnisse geliefert. Das war in dieser Geschwindigkeit nicht zu erwarten und ist ein riesiger Erfolg. Allerdings müssen wir feststellen, dass es neue, deutlich ansteckendere Varianten des Coronavirus gib­­­­­t. Daher müssen wir davon ausgehen, dass der Anteil der immunisierten Personen deutlich höher liegen muss.

Der Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, hat neulich die reichen Länder angeprangert, weil sie gesunde Menschen mit Booster-Impfungen versorgen wollen, während in den ärmeren Ländern die Impfquote extrem niedrig ist. Wie bewerten Sie dieses Ungleichgewicht?

Grundsätzlich ist es eine gute Voraussetzung, dass sichere und geeignete Impfstoffe überhaupt zur Verfügung stehen – und seit neuestem auch wirksame Medikamente. Es gibt jedoch weiterhin eine massive Ungerechtigkeit bei der Verteilung dieser Impfstoffe und Medikamente. Es kann nicht unseren moralischen Standards entsprechen, dass der absolut größte Teil der Impfstoffe in die reichen Länder geht. Einige davon haben sich das Zwei- bis Dreifache der Impfdosen gesichert, die für Auffrischungsimpfungen eigentlich notwendig wären. Das ist eine krasse Ungerechtigkeit und kann zur Folge haben, dass sich ansteckendere und schwerere Virusvarianten bilden und weltweit ausbreiten können, auch in Deutschland.

Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?

Die Situation führt uns die globale Ungerechtigkeit in der Gesundheitsversorgung weltweit klar vor Augen. Die Pandemie hat hier bestehende Ungleichheiten weiter verschärft: Aktuell steigt zum Beispiel nach Jahrzehnten des Rückgangs wieder die weltweite Verbreitung von Unterernährung. Und in vielen Ländern mit geringem Einkommen ist die Kindersterblichkeitsrate weiterhin sehr hoch. In Subsahara-Afrika sterben rund sieben Prozent der Mädchen und Jungen vor ihrem fünften Geburtstag. Auf Covid-19 bezogen muss unser Ziel deshalb sein: Die am meisten gefährdeten Menschen auf der Welt müssen unbedingt so schnell wie möglich geschützt werden.

In Deutschland wird die Booster-Impfung diskutiert, auch junge und gesunde Menschen wollen sich ein drittes Mal impfen lassen. Pfizer-Chef Albert Bourla hat neulich in einem Interview erklärt, dass er davon ausgeht, dass es jedes Jahr Auffrischungen geben dürfte. Wie soll das gerecht vor sich gehen, und wie geht man mit neuen Varianten um?

Wir erwarten, dass Sars-CoV-2 in Zukunft vor allem endemisch auftreten wird, aber niemand kann heute schon genau sagen, wie sich das Virus weiterentwickeln wird. Es ist allerdings sehr wahrscheinlich, dass die Produzenten es – wie bei der Grippe – mit einer Weiterentwicklung der Impfstoffe schaffen werden, regelmäßig auf etwaige Veränderungen des Virus zu reagieren. Die Forschung an Covid-19-Impfstoffen der nächsten Generation läuft ja bereits auf Hochtouren.

Den armen Ländern ist damit allerdings noch nicht geholfen 

Aktuell gibt es wirklich ein großes Problem: Deutschland hat zugesagt, bis Ende des Jahres 100 Millionen Impfdosen an Länder mit geringem Einkommen zu spenden. Bislang sind davon erst 20 Millionen geliefert worden. Nun hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn mitgeteilt, dass ein Teil der verbleibenden Spenden in den Januar und Februar des kommenden Jahres verschoben werden, um bei den Auffrischungsimpfungen mit Biontech hierzulande Engpässe zu vermeiden.

Kann nicht geliefert werden, weil sich alle Deutschen impfen lassen wollen?

Die Situation ist sowohl in Deutschland als auch in anderen europäischen Ländern etwas komplexer. In manchen Ländern liegen weiterhin Millionen Dosen gewissermaßen auf Halde und werden nicht in die ärmeren Länder abgegeben. Diese Impfstoffe gibt es zusätzlich zu denen, die in den eigenen Bevölkerungen als Booster verimpft werden. Allerdings riskieren die Regierungen damit, dass ein beträchtlicher Teil der Dosen unter Umständen vernichtet werden muss, sobald ihr Ablaufdatum überschritten wurde. Darüber hinaus gibt es weiterhin noch rechtliche Probleme bei der Abgabe von Impfstoffen an andere Länder.

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Foto: Katharina Kritzler
Tobias Kahler
Deutschland-Chef der Bill und Melinda Gates Stiftung. Zuvor arbeitete er für den australischen NGO ONE. Er studierte Politik, Internationale Beziehungen und Wirtschaftswissenschaften an der University of North Carolina at Chapel Hill, an der Freien Universität Berlin und der London School of Economics.

Welche?

Es müssen verschiedene Fragen zwischen den Impfstoffherstellern, der globalen Impfinitiative Covax und den beteiligten Staaten geklärt werden. Dies betrifft unter anderem die Frage, ob und zu welchen Konditionen die EU Impfstoffe an Drittstaaten abgeben darf. Dafür ist eine Genehmigung der Hersteller erforderlich, etwa aufgrund von Haftungsfragen. Für die Weitergabe von Impfdosen müssen deshalb neue Verträge geschlossen werden, was den Prozess verlangsamt.

Warum droht die Vernichtung von Millionen von Impfdosen?

Der Zeitdruck ist enorm: Die Länder, die Impfstoffe per Spende erhalten sollen, müssen nachweisen, dass sie nach der Lieferung auch wirklich in der Lage sind, die Dosen verimpfen zu können. Um das konkret planen zu können, brauchen die Empfängerländer verlässliche Zusagen über Lieferungen. Denn Verteilung und Logistik sind in den fragilen Strukturen vieler Länder eine große Herausforderung. Covax und die globale Impfallianz Gavi sind zwar weltweit sehr gut aufgestellt und kennen die Bedingungen in den einzelnen Ländern am besten. Aber auch sie brauchen eine sichere Grundlage und eine gewisse Vorhersagbarkeit.

Spielt neben diesen rechtlichen und logistischen Fragen auch die Frage eines gewissen Impf-Egoismus in einzelnen Ländern eine Rolle?

Wir verstehen natürlich, dass die einzelnen Länder ihre eigenen Bevölkerungen bestmöglich versorgen wollen. Aber es gibt einige reiche Länder, die sich in bilateralen Abkommen mit Herstellern höhere Quoten zulasten weniger finanzstarker Länder gesichert haben – und das schon lange, bevor die ersten Impfstoffe gegen Covid-19 Notzulassungen erhalten haben. Hinzu kommt, dass Staaten wie Indien Exportbeschränkungen verhängt haben, als die Fallzahlen in der eigenen Bevölkerung stark angestiegen sind. Viele der dort produzierten Dosen sollten über Covax eigentlich an ärmere Länder geliefert werden. Natürlich war die Lage in Indien dramatisch, wenn wir uns an die Bilder erinnern. Daher ist das Verhalten auch nachvollziehbar.

Welche langfristigen Konsequenzen zieht die Gates-Stiftung aus der Pandemie? Wie sollten sich die Verhältnisse ändern?

Zuallererst sind wir überzeugt, dass Impfen die beste Lösung gegen Pandemien ist. Das heißt, dass die nun zur Verfügung stehenden Impfstoffe weiterentwickelt werden müssen. Die mRNA-Technologie ist eine unglaubliche Erfolgsgeschichte. Mit ihr konnten sehr schnell neuartige Impfstoffe zum Einsatz gebracht werden. Moderna hat den ersten Impfstoff-Kandidaten in nur 48 Stunden entwickelt. Es wird Impfstoffe auf mRNA-Basis nicht nur gegen Covid-19, sondern auch gegen viele andere Infektionskrankheiten geben, wie etwa HIV oder Malaria. Überall auf der Welt werden schon jetzt Produktionskapazitäten aufgebaut, um global schnell und gerecht verteilen zu können. Biontech plant etwa bereits den Aufbau einer Fabrik in Afrika. Zweitens ist es wichtig, ein weltweites Monitoring-System zu schaffen, um neue Virus-Varianten in Echtzeit erkennen und rechtzeitig eindämmen zu können. Dazu sollte es ein dauerhaftes, weltweites Test-System und eine Taskforce geben, die immer aktiv und schnell einsatzbereit sind. Außerdem müssen die globalen Kapazitäten für die Genom-Sequenzierung weiter ausgebaut werden, um bei größeren Ausbrüchen schnell reagieren zu können. Der dritte Punkt ist die Notwendigkeit der weltweiten Koordinierung der Regierungen, damit alle weltweit einheitlich und entschlossen vorgehen können.

Wie kann man sich das globale Monitoring vorstellen?

Das Monitoring läuft heute schon wesentlich besser als zu Beginn der Pandemie. Die WHO errichtet gerade in Berlin einen Hub für pandemische und epidemische Datenerfassung. Dazu sollen Daten jeglicher Art nutzbar gemacht werden, um zu sehen, wie sich Pathogene verbreiten. Das betrifft die Prognose ebenso wie das Tracking und geht mit einer Nutzung von Künstlicher Intelligenz einher. Deutschland hat hier übrigens mit der E-Health-Software SORMAS, die vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung bereits 2014 für den Kampf gegen Ebola entwickelt wurde, eine Vorreiterrolle eingenommen. Insgesamt wird der Erfolg natürlich davon abhängen, in welchem Ausmaß die WHO-Mitgliedstaaten den Informationsaustausch zulassen.

Die Tests kommen im Moment alle aus China wäre es nicht ein Standort-Aspekt, die Tests zum Beispiel in Deutschland herstellen zu lassen?

In einer Pandemie hilft sicher immer eine gewisse Diversifizierung in den Lieferketten, zumal es beispielsweise von Qiagen auch Diagnostik aus deutscher Herstellung gibt. Die Tests aus China haben gut funktioniert, sie waren in kurzer Zeit in großen Massen verfügbar.

Welche Rolle spielen Medikamente bei der Corona-Behandlung?

Zum Glück gibt es mit Molnupiravir das erste Medikament, das eine sehr gute Wirkung hat. Das Medikament kann die Sterberate um 50 Prozent reduzieren, man kann hier also wirklich von einem Durchbruch sprechen. Deshalb stellt die Gates-Stiftung umgerechnet mehr als 100 Millionen Euro bereit, damit diese Therapie auch Menschen in armen Ländern zur Verfügung gestellt werden kann.

Werden Impfungen wichtiger als Medikamente?

Impfungen haben eindeutig die höhere Wirksamkeit. Wir erhalten einen Schutz vor der Infektiosität. Selbst wenn der Impfschutz mit der Zeit nachlässt, so verschwindet er doch nicht. Wenn die Menschen geimpft sind, steigt die Immunität und weniger Menschen werden krank. Das ist die effizienteste Methode.

Bleiben uns die Corona-Impfungen erhalten?

Ich persönlich gehe davon aus, dass wir in den nächsten Jahren weiter geimpft werden müssen.

Das Gespräch führte Michael Maier.