Blogger in Syrien: Das Auge der Revolution
Paris - Das Bild ist verwackelt, denn das Auge der Kamera ist nicht größer ist als eine Linse. Sie sitzt wie ein Knopf auf dem Kugelschreiber, der aus der Hosentasche des syrischen Demonstranten Azaar al-Asra herausguckt. Zuerst sind nur Beine in Jeans oder Röcken auf der Aufnahme zu sehen. Plötzlich ein Schuss. Leiber fallen übereinander.
Das Auge der Kamera dreht sich mit Azaar nach rechts. Es filmt den blutüberströmten Oberkörper von Michel, seinem Freund, der zu Boden fällt. Im Bauch klafft ein Loch, Blut spritzt. Männer kommen herbei, ziehen Michel aus dem Tumult. Sie murmeln die Shahada, das islamische Glaubensbekenntnis. Die letzte Ölung für Muslime.
Jemand schreit: „Freunde, er ist Christ.“ Es sind die Worte von Azaar al-Asra, der jetzt selbst mit anpackt, um Michel aus der Gefechtszone zu schleppen. Noch eben war das der Ort einer friedlichen Kundgebung. Rufe sind zu hören: „Sie haben auf einen Christen geschossen. Lang lebe der christliche Bruder!“
Michel hat es wie durch ein Wunder überlebt, sagt Azaar al-Asra, ein 25 Jahre alter Syrer, der seit April in Paris lebt. Sein Freund wurde in einer jener provisorischen Kliniken notdürftig behandelt, wie sie syrische Ärzte überall im Land in Garküchen oder Garagen betreiben, bis sie irgendwann entdeckt werden.
Sein Finger scrollt über das Mousepad von Video zu Video. Das Notebook mit den Schrammen aus dem Krieg steht auf einem wackligen Bistrotisch an der Place Parvis Notre Dame, in Sichtweite der mächtigen Kathedrale. Überall sitzen Touristen, viele trinken Cidre oder Kaffee. Azaar al-Asra trinkt nichts, obwohl er gern ein Bier hätte. „Heute halte ich mich an den Ramadan, ich habe es meiner Mutter zu Hause über Skype versprochen.“
Wettlauf gegen die Cyber-Polizei
Die Freie Syrische Armee brachte Azaar al-Asra über die Grenze nach Jordanien. Von Amman flog er weiter nach Frankreich. Es ist das einzige Land in Europa, das Syrern noch Visa ausstellt. In Paris gibt es Hilfe für Bürgerjournalisten wie ihn. So nennen sich die Männer und Frauen, die nie für die zensierten Medien des Regimes gearbeitet haben.
Erst während des Aufstands haben sie begonnen, mit ihren Handys zu dokumentieren, was das Staatsfernsehen oder die Parteizeitungen nie veröffentlichen würden: Schüsse auf Demonstranten, das Blut in den Feldlazaretten. Oder die von der Folter versehrten Körper jener, die das Gefängnis- und Lagersystem des Regimes wieder freigegeben hat. Die Reporter stellen die Clips in der Hoffnung ins Internet, dass die Menschen die Videos auf Youtube anklicken. Für Nachrichtensendungen weltweit sind sie oft das einzige Bildmaterial aus den umkämpften Städten. Die Authentizität der Aufnahmen könne nicht garantiert werden, heißt es meist lapidar.
In Paris befindet sich das Hauptquartier der Organisation Reporter ohne Grenzen, die 1985 von Journalisten gegründet wurde, um gegen die Zensur zu kämpfen und verfolgten Kollegen zu helfen. In Syrien, das nie Pressefreiheit kannte, hatte das Hilfswerk schon immer viel zu tun. Seit das Regime mit aller Macht gegen die Revolution im eigenen Land kämpft, ist die Arbeit der Organisation noch wichtiger geworden.
Azaar al-Asra hat den Reportern ohne Grenzen einiges zu verdanken. Nicht nur die Hilfe bei der Beschaffung der Aufenthaltsgenehmigung in Paris. „Sie unterstützen uns logistisch, wo sie können, vor allem bei der Codierung unserer Videos.“ Das kann syrischen Bürgerjournalisten das Leben retten.
Auf jeden Fall gibt es ihnen mehr Zeit, bis ihnen die Cyberpolizei des Regimes auf die Schliche kommt. Ohne die Hilfe von Reporter ohne Grenzen wäre er in Syrien schon viel früher aufgeflogen, sagt Azaar al-Asra. Die im Kugelschreiber versteckte Kamera hat er allerdings aus der Türkei. Dort gebe es viele solcher James-Bond-Artikel zu kaufen, der syrische Widerstand schmuggle sie über die Grenze. „Ich glaube, die Türken finden so etwas lustig“, sagt er. In Syrien erfüllen die Scherzartikel seit Beginn des Aufstands einen sehr ernsten Zweck.
Azaar al-Asra ist Kurde und Sunnit. Im Wirrwarr der syrischen Ethnien und Religionen ist er damit einerseits Angehöriger einer Minderheit und andererseits Teil der sunnitischen Mehrheit der Bevölkerung, die die Revolution trägt. Der Jurastudent stammt aus dem kurdischen Al Quamishli. Die Stadt wird heute von kurdischen Milizen kontrolliert, die indes nicht immer reibungslos mit der Freien Syrischen Armee zusammenarbeiten.
Zum ersten Mal verhaftet wurde Azaar al-Asra im Jahr 2004. Damals war er siebzehn und wie viele Syrer der Meinung, dass der junge Präsident Baschar al-Assad das Land reformieren will. Die Naivität hat er mit ausgerissenen Fingernägeln bezahlt, nachdem die Polizei ihn auf einer Demonstration für die kulturelle Freiheit der Kurden festgenommen hat. Später studierte er in Damaskus, von wo aus er auch erlebte, wie die arabische Revolution in Tunesien siegte und danach auf Ägypten übergriff.
In Syrien habe der Aufstand mit Solidaritätsbekundungen für die Demonstranten in Tunis und Kairo begonnen, sagt er. Der Tag, an dem im südsyrischen Deraa Eltern auf die Straße gingen, um gegen die Folterung ihrer verhafteten Kinder zu demonstrieren, gilt als Initialzündung der Proteste. Die Kinder in Deraa hatten Graffiti gesprüht, die das Regime zu Reformen aufriefen.
Die erste große Demonstration in Damaskus fand an einem Freitag im März 2011 statt. Schon damals spielte eine Kamera eine Rolle – getragen von Azaar al-Asra. „Wir hatten eine Gruppe auf Facebook gebildet, die nach dem Freitagsgebet in der Umayyaden-Moschee zu einem Protestmarsch aufrufen sollte. Meine Aufgabe war es, das Ganze mit meinem Smartphone zu filmen.“
Azaar al-Asras erster Auftrag als Bürgerjournalist für die Revolution ging gehörig schief. Keiner wollte die revolutionären Losungen rufen, und auch er selbst war nervös.
„Ich wollte schon während des Gebets filmen, aber mir zitterten so die Hände, dass jeder sehen konnte, wie ich mit dem Handy herumfuchtelte“, sagt er. Plötzlich rief einer der Mitstreiter: „Staatssicherheit! Die filmen uns sogar beim Beten.“ Azaar al-Asra war schnell umgeben von Gläubigen, die ihn beschimpften. „Gott sei Dank hat mein Freund, der Lügner, mich da heil rausgebracht“, sagt er. Die List erfüllte ihren Zweck. Die zornigen Gläubigen zogen zum ersten Mal zu Tausenden durch die Straßen von Damaskus.
Hunderte von Toten und Massakrierten gefilmt
Es ist endlich dunkel geworden in Paris, für heute ist das Fasten vorbei. Azaar al-Asra knurrt der Magen. Er bestellt einen Kaffee und ein Baguette. Paris tut manchmal weh, sagt er. Der Himmel über der Stadt ist so weit. Und die Menschen sind so fröhlich. Die Stadt der Liebe?… Er selbst habe seiner Freundin schon seit Monaten nicht mehr sagen können, dass er sie liebt. „Das geht nicht mehr. Irgend etwas ist in mir kaputtgegangen“, sagt er.
Kaum noch Mensch sei er nach Monaten als Fotograf im Widerstand gewesen, bei den Hunderten von Toten und Massakrierten, die er mit der Kamera gefilmt habe. Die Bilder rauben ihm oft den Schlaf.
Im März 2012 – da lebte er bereits mit der Identität eines vom Regime getöteten Alewiten – schnappte die Falle beinahe zu. Der Staatssicherheit war es gelungen, einen Spitzel in die Untergrundzelle einzuschleusen. Im letzten Moment sei er gemeinsam mit anderen Bürgerjournalisten entkommen, sagt er. „Ein Informant hat mir klargemacht, dass ich ganz oben auf ihrer Liste stehe, sonst wäre ich geblieben.“
Anisa Dawud sitzt an einem großen Esstisch in einer Wohnung irgendwo in einer Pariser Vorstadt. Die junge Frau mit dem strengen Pferdeschwanz nippt ab und zu an einem Glas Orangensaft. Dawud gehört zu denjenigen aus Azaar al-Asras Widerstandsgruppe, die nicht so viel Glück hatten. Sie wurde verhaftet. Zum zweiten Mal, nachdem sie bereits 2011 mehrere Monate eingesperrt war. Ende Juni kam sie frei, nach Wochen in einer ein Meter mal zwei Meter großen Zelle. In der ganzen Zeit gaben die Wärter ihr keine Kleidung zum Wechseln oder die Gelegenheit für eine Dusche, sagt sie. „Irgendwann gewöhnt man sich an den eigenen Gestank.“
Anisa Dawud war so etwas wie die zentrale Figur der Gruppe. Im Bürgerjournalismus kannte sie sich aus. Schon vor dem Beginn der Revolution schrieb die Ingenieurin heimlich für Untergrundblogs, sammelte in dem Ministerium, in dem sie arbeitete, Beweise für Korruption und Vetternwirtschaft. Als die Protestbewegung nach Damaskus übergriff, war sie von Anfang an dabei, im Widerstand das revolutionäre Volkskomitee zu organisieren. Sie leitete ein Medienzentrum, das Kontakte zu ausländischen Sendern wie Al-Dschasira oder CNN herstellte. Außerdem entwickelte sie die Slogans für die Demonstrationen. „Eins, eins, Syrien ist eins“. Oder: „Unsere Freiheit beginnt mit dem Recht zu demonstrieren.“
In der Schule hat sie schon früh gemerkt, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem, was syrische Eltern ihren Kindern beibringen und dem, was sich vor der Haustür abspielt. „Ich stamme aus einer Region in der Nähe der libanesischen Grenze. Die Regierungsleute haben bei uns einfach Grundstücke enteignet, weil sie Schmugglerwaren zwischenlagern wollten. Alle wussten, dass sie Gangster sind. Aber keiner hat etwas gesagt. Das habe ich nicht verstanden.“ Ihr Doppelleben ließ ihr wenig Zeit, selbst demonstrieren zu gehen. Tagsüber war sie die brave Angestellte in einer Regierungsbehörde, nachts die revolutionäre Journalistin.
Sie produzierte Internetbeiträge über die Proteste oder redigierte Artikel für Untergrundzeitungen. Zum Schlafen und Essen blieb wenig Zeit. Von 2011 an stellte sie immer mehr schockierende Videos ins Internet. Auch sie musste lernen, dabei nichts zu empfinden, um sich selbst zu schützen. Am schlimmsten seien die Besuche bei ihren Eltern gewesen, sagt sie. Die glaubten weiter dem Staatsfernsehen. „Wenn ich die Lügen sah und wie meine Eltern sie hinnahmen, hätte ich schreien können. Dann hätte ich aber meine Tarnung verloren und meine Eltern als Mitwisser gefährdet. Also hielt ich den Mund.“
Sühne oder Amnestie?
Draußen klatscht der Regen gegen das Fenster. Die Hitzewelle in Paris ist erst einmal vorbei, der Himmel ist so grau wie der Beton der Neubauten ringsum. Anisa Dawud möchte genau so wenig wie Azaar al-Asra, ihr Freund aus dem Widerstand, für immer in Paris bleiben. Es gibt keinen Plan B für ein längeres Exil, sagt sie. Auch weil sie nicht daran glaubt, dass nach der Revolution die große Abrechnung der Volksgruppen anbricht. Sunniten, Alewiten, Drusen, Kurden, Christen – sie alle hätten bei der Demokratiebewegung mitgemacht. Dawud nennt es eine Lüge, dass die Revolution ein Kampf zwischen Sunniten und Alewiten sei. „Natürlich stellen Sunniten jetzt die Mehrzahl der Aufständischen und waren auch bei den Protesten in der Überzahl. Ganz einfach, weil die meisten Syrer eben Sunniten sind“, sagt sie. Aber eben nicht alle Revolutionäre seien Sunniten.
Von Versöhnung sprechen beide Bürgerjournalisten im Exil und meinen dennoch nicht genau dasselbe. Anisa Dawud will, dass alle, die in Syrien gemordet, gefoltert und misshandelt haben, nach der Revolution vor Gericht kommen. Auch die Polizeibeamtin, die sie in der Haft immer wieder geschlagen hat, soll vor einem Richter stehen.
Azaar al-Asra ist sich nicht sicher, ob die Revolutionäre nach dem Sieg nicht besser eine Amnestie verkünden. Der Hass soll mit der Diktatur verschwinden. Er weiß genau, was er machen wird, wenn er endlich in einem freien Syrien lebt. „Ich gehe zum Umayyaden-Platz in Damaskus. Da hat mich ein Verkehrspolizist vor meiner ersten Verhaftung verraten.“ Und was würde er tun, wenn er ihn tatsächlich träfe? „Ich würde ihm in die Augen schauen. Und dann würde ich zu ihm sagen: Möge Gott Dir vergeben.“