Berliner Koalition: Von Blutgrätschen und Angstzuständen

Die rot-rot-grüne Koalition in Berlin pfeift auf Corona-Solidarität und zerlegt sich selbst. Das Ergebnis der Kommunalwahl in NRW dürfte den Ton noch verschärfen. 

Michael Müller (SPD), Regierender Bürgermeister von Berlin, und Ramona Pop (Grüne), Senatorin für Wirtschaft, Energie und Betriebe.
Michael Müller (SPD), Regierender Bürgermeister von Berlin, und Ramona Pop (Grüne), Senatorin für Wirtschaft, Energie und Betriebe.dpa/Fabian Sommer

Berlin-Corona mag die Welt verändert haben, das Wählerverhalten hat das Virus offensichtlich nicht auf den Kopf gestellt. Das zeigt die Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen – sehr zum Verdruss der SPD: Nur noch 24,3 Prozent - ein Minus von 7,1 Prozentpunkten im Vergleich zur Wahl 2014 - verbucht die SPD im bevölkerungsreichsten Bundesland NRW, eine der traditionellen Herzkammern der Partei. Die Grünen hingegen gewinnen mehr als acht Prozentpunkte dazu und landen bei 20 Prozent. Alles beim Alten also: Die SPD auf dem Weg nach unten, die Grünen auf dem Weg nach oben.

Das ist nicht selbstverständlich. Corona hat die Republik durchgerüttelt, hat Gesundheits-, Wirtschafts- und Sozialthemen wie nie zuvor auf das Tableau gespuckt. Nicht wenige Sozialdemokraten und Konservative hofften, dass die Pandemiebekämpfung den Klimaschutz aus dem Fokus drängen würde. Einer Umfrage von Infratest Dimap zufolge aber war für die Mehrzahl der Wähler in NRW bei dieser Wahl Umwelt- und Klimaschutz das entscheidende Thema - vor Wirtschaftsthemen und Schulpolitik. Eine Kommunal- ist keine Landtagswahl und das Ergebnis in NRW nicht ohne weiteres auf andere Länder übertragbar. Das Signal aber gilt: Die Wähler haben das Klima nicht vergessen. 

Für die Koalitionspartner der Grünen auch im Berliner Abgeordnetenhaus ist das kein gutes Zeichen. Und leider auch nicht für die Berliner. Die Stimmung in der Koalition ist seit Wochen schon angeheizt, die klebrig-süße Inszenierung der Einigkeit in den ersten Monaten der Corona-Krise gefallen. Seit die Berliner SPD die Diskussion um ihre Bundestagskandidaten begann, ist sich in der rot-rot-grünen Koalition wieder jeder selbst der nächste – mit unangenehmen Folgen für die Hauptstadt. 

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Da setzt die SPD in der Koalition gegen den Protest des eigenen Finanzsenators eine Hauptstadtzulage durch: ein Geld- und damit sehr direktes Wahlgeschenk an mehr als 100.000 Berliner im öffentlichen Dienst. Mit diesem Vorgehen aber verstößt Berlin gegen die Richtlinien der Tarifgemeinschaft deutscher Länder und riskiert, aus dem Verband zu fliegen.  „Mist“ wäre das, kritisiert Finanzsenator Kollatz deutlich. Die zweifelnden Koalitionspartner ziehen trotzdem mit: Wer ihnen das Geld gegeben hat, werden die Wähler nicht so genau verorten, heißt es da. Wer ihnen Geld weggenommen hat, werden sie sich aber ganz sicher merken. Politik, geboren aus der Angst vor Strafe an der Wahlurne.

„Wahlkampf-Taktik! Koalitions-Foul!“, riefen die Grünen auch laut bei der Verschiebung des Klimapakts, der von der grünen Verkehrssenatorin Regine Günther seit Anfang des Jahres vorbereitet und vorab von allen Senatsverwaltungen mitgezeichnet wurde. Der Regierende Bürgermeister selbst grätschte kurz vor Verabschiedung dazwischen. Allerdings scheint das tatsächlich weniger der Lust geschuldet gewesen zu sein, den Koalitionspartner so kurz vor Schluss zu torpedieren. Sondern vielmehr der Untätigkeit der SPD-Staatssekretäre und SPD-Verwaltungen. Sie akzeptierten für die SPD viel zu grüne Inhalte wie die Festlegung auf eine verbrennerfreie Innenstadt - und verpassten es über Monate, eigene Inhalte in das Papier hineinzuverhandeln. Es folgte Müllers Blutgrätsche – aus der eigenen Inkompetenz war ein Affront geboren.

Eine sehr gut berechnete Blutgrätsche hingegen vollzieht Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) gerade gegen das Berliner Neutralitätsgesetz, ein Baby der SPD und besonders von SPD-Bildungssenatorin Sandra Scheeres, ein Dorn im Auge der Grünen. Das Gesetz verbietet Lehrerinnen, Polizistinnen und Justizbeamtinnen das Tragen von religiösen Symbolen. Nach einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts, das das Neutralitätsgesetz explizit nicht kippte, entschied Behrendt dennoch: Ab sofort können Referendarinnen mit Kopftuch oder Männer mit Kippa vor Gericht die Anklageschrift verlesen. Ein Eklat in der Koalition.

Die Effizienz der Corona-Krisenbewältigung ist dahin, die Koalition zerlegt sich selbst. Den Berliner Wählern steht ein anstrengendes Jahr bevor, die Taktung der Wahlkampf-Scharmützel zwischen SPD und Grünen wird sich in den nächsten Monaten erhöhen. Was die Koalition dabei zu vergessen scheint: Corona ist noch nicht vorbei. Viele Berliner können weiterhin nicht voll arbeiten, die Belastung für sie steigt. Die sozialen Folgen der Pandemie, vor denen SPD, Grüne und Linke so lange gewarnt haben – sie werden sich jetzt bemerkbar machen. Bleibt zu hoffen, dass die Koalition sie auch bemerkt.