Brigadier Eder: „Die Russen haben es nicht eilig“
Der Militärstratege Philipp Eder analysiert die Lage in der Ukraine: Was haben die Russen bisher falsch gemacht – und haben sie etwas aus ihren Fehlern gelernt?

Die russischen Streitkräfte sind in der Ukraine aktuell damit beschäftigt, eine 1000 Kilometer lange Front zu „stabilisieren“. Nach Einschätzung von Brigadier Philipp Eder vom Generalstab des österreichischen Bundesheers werden zugleich weitere Kräfte herangeführt, um den noch nicht unter russischer Kontrolle stehenden Teil des Donbass einzunehmen – immerhin ein Viertel des ganzen Donbass leistet noch Widerstand. Eder sagte der Berliner Zeitung: „Die russische Armee war eigentlich nicht für einen Abnützungskrieg vorbereitet, wie sie ihn jetzt führen muss. Doch nach dem Scheitern des ersten Plans – die schnelle Einnahme Kiews und der Sturz der Regierung – muss die russische Armee nun kleinere Brötchen backen. Sie wird versuchen, die Linie vom Donbass über Mariupol bis Cherson zu halten, um sich die Option auf Vorstöße in andere Landesteile, wie nach Odessa, offenzuhalten.“
Der größte Fehler der Russen sei gewesen, dass es ihnen nicht gelungen sei, die Lufthoheit zu erlangen: „Anders als die Amerikaner bei ihren Einsätzen haben es die Russen verabsäumt, vor dem Angriff Flughäfen, Radarstationen und andere kritische militärische Infrastruktur vollständig zu zerstören.“ Heute müsste die ukrainische Luftverteidigung aus der Ferne angegriffen werden, was schwierig sei, da die russischen Fernwaffen nicht besonders präzise seien.
Die russische Armeeführung habe auf die ersten Fehlschläge reagiert und habe ihr Hauptproblem – den Personalmangel – mit den jüngsten Mobilisierungswellen gelöst. Die Russen hätten nun etwa 400.000 Mann zur Verfügung, von denen sich in einem Rotationssystem jeweils ein Drittel im Einsatz, ein Drittel auf Erholung und ein Drittel in Ausbildung beziehungsweise in der Reserve befänden. Die Mobilmachung sei für Russland schwierig gewesen, weil Russland kein klassisches Milizsystem habe, bei dem Reservisten in bestehenden Einheiten zum Einsatz kommen. In Russland würden einzelne Personen rekrutiert, und danach würden sie Einheiten zugeordnet.
Der hohe Personalaufwand sei nötig, weil die Front zum größten Teil aus offenem Gelände besteht, das es zu halten gelte. Dies könne nur durch eine klassische Infanterie erreicht werden: „Russland braucht viele Soldaten, weil es mehrere Frontabschnitte gibt und auch in der Tiefe Verteidigungsstellungen errichtet wurden“, sagte Brigadier Eder. Technik und moderne Geräte wie Roboter würden bei dieser Tätigkeit nicht helfen, sie kämen in anderen Bereichen zum Einsatz, wie etwa bei der Aufklärung. Eder erwartet, dass die Russen versuchen würden, die verteidigenden ukrainischen Truppen „nördlich aus Russland kommend einzukesseln“. Dies werde vermutlich geschehen, sobald es das Wetter zulässt – also der Boden entweder gefroren oder aber die Schlammsaison vorüber ist.
Eder: „Aktuell bereiten sich beide Seiten auf eine Offensive vor, um das aktuelle Patt zu beenden. Beide haben den Herbst und den Winter genutzt, um sich neu aufzustellen.“ Die Ukraine habe im Herbst mit mehreren Gegenoffensiven zwar erhebliche Durchschlagskraft gezeigt, doch hätten den Kräften am Ende die offensiven Fähigkeiten gefehlt, um weiter in die Tiefe – als in den Rücken der russischen Einheiten – vorzustoßen. Allerdings hätten die ukrainischen Vorstöße, etwa bei Charkiw, „psychologische Wirkung“ erzielt. Dank der „amerikanischen und britischen Aufklärung wissen die Ukrainer, wo die Russen stark und wo schwach sind“, sagt Eder.
In diesem Zusammenhang seien auch die Lieferungen von Leopard-2-Panzern zu sehen. Auch wenn die Zahl der Panzer im Vergleich zu den von der Ukraine geforderten 300 Stück klein sei, könnten die Panzer genützt werden, um an einzelnen Stellen Durchbrüche zu erzielen. Die Schulung an den Panzern sei für ukrainische Soldaten machbar: „Es macht vom Grundsatz her keinen Unterschied, ob ich einen T 72 oder einen Leopard fahre. Die größte Herausforderung besteht darin, den Panzer zu beherrschen, wenn einzelne Teile ausfallen, dass sie auch noch kämpfen können, wenn Teile der Technik ausfallen“, sagt Eder, der im Generalstab des österreichischen Bundesheers die Abteilung für Militärstrategie leitet. Die Ukraine habe im bisherigen Kriegsverlauf bewiesen, dass sie den „Kampf der verbundenen Waffen“ beherrsche – also das Zusammenwirken der unterschiedlichen Waffengattungen im Kampfeinsatz. Eines steht für Eder jedenfalls fest: „Ich schließe aus, dass Nato-Personal in der Ukraine zum Einsatz kommt.“
Das größte Problem der Ukraine seien die Munition und die Gerätschaften: „Wir haben in der Ukraine den größten Ausfall von Gerät und die höchste Zahl des Einsatzes von Munition seit dem Zweiten Weltkrieg. Es gibt kaum noch eine Armee, die aus ihren eigenen Beständen liefern kann.“ Daher arbeite die Zeit für die Russen. Ihre Rüstungsindustrie arbeite in „durchgängigen Schichten“. Eder: „Die Russen haben es nicht eilig. Für sie ist die größte Gefahr, dass sie so viele Ausfälle haben und die Bevölkerung nicht mehr mitmacht und eine Mobilisierung dann schwerer wird.“
Brigadier Eder schätzt die Zahl der russischen Ausfälle – Tote und Verletzte – auf etwa 100.000. Die Zahlen der Ukraine dürften etwa in derselben Größenordnung liegen.