New York-Als die knapp 5000 Insassen des New Yorker Untersuchungsgefängnisses Rikers Island in der vergangenen Woche ein Informationsblatt zum Coronavirus ausgehändigt bekamen, konnten sich viele von ihnen ein Lachen nicht verkneifen. Die Vorschriften für das Social Distancing, die Hygiene- und Desinfektions-Empfehlungen, all das wirkte auf die Gefangenen des für seine katastrophalen Zustände berüchtigten Zuchthauses absurd.

„Bei uns“, so sagte ein Gefangener namens Michael Herrera gegenüber der New York Times, „stehen die Betten im Abstand von 30 Zentimetern. Beim Essen sitzen wir Ellbogen an Ellbogen, die Reste von der letzten Mahlzeit kleben noch auf den Tischen. Wir benutzen alle dasselbe Telefon. Und Hand-Desinfektionsmittel gibt es nicht.“
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Hohe Infektionsrate
Die Insassen tun trotzdem, was sie können, um die Hygiene auf der Gefängnisinsel im East River zu verbessern. Sanitäranlagen werden mit verdünntem Shampoo geputzt, die Häftlinge stülpen Socken über die Telefone, wenn sie sprechen. Viel geholfen hat es jedoch nicht. Zum Wochenende waren auf Rikers Island 200 Insassen positiv getestet worden. An nur einem Tag waren 13 hinzugekommen – eine Infektionsrate, die bei dem Sechsfachen der übrigen Bevölkerung liegt. Zwei Wärter sind bereits an den Folgen des Virus gestorben. So bricht unter der Gefängnisbevölkerung langsam die Panik aus. „Die lassen uns hier einfach verrecken“, sagt Michel Herrera.
Der Anteil der wegen Drogenkriminalität Inhaftierten wächst allerdings, das gilt auch für den Anteil weiblicher Insassen – er stieg auf sieben Prozent (Stand 2011). Farbige und Latinos stellen im Vergleich zu den Weißen einen überproportional hohen Anteil der Inhaftierten – auch der hier offenkundige Rassismus sorgt für volle Gefängnisse.
Die Strafmündigkeit setzt in den Vereinigten Staaten weitaus früher ein als etwa in Deutschland. In den meisten Bundesstaaten können bereits Siebenjährige beim Verstoß gegen ein Strafgesetz zur Verantwortung gezogen werden. Auch dieser Umstand sorgt für einen steten Nachschub für die Haftanstalten.
Die Probleme auf Rikers Island sind kein Einzelfall. Gefängnisse in allen 50 Bundesstaaten berichten Ausbrüche des Virus. Und nirgendwo wissen die Gefängnisverwaltungen, wie sie der Lage Herr werden sollen. Für die USA ist die Verbreitung des Virus in den Gefängnissen ein deutlich größeres Problem als für andere Länder. Nirgendwo ist ein so großer Prozentsatz der Bevölkerung hinter Schloss und Riegel. Im Jahr 2019 waren in den Vereinigten Staaten 2,3 Millionen Menschen eingesperrt, verteilt auf rund 7000 Gefängnisse.

Wenn sich nun alle diese Orte zu massiven Infektionsherden entwickeln, dann könnte das die Verbreitung des Coronavirus dramatisch beschleunigen. Gefängnisse sind nicht von der übrigen Bevölkerung isoliert. So schätzt das Marshall Project, eine Stiftung, die sich der Berichterstattung über die Zustände in US-Gefängnissen widmet, dass wöchentlich rund 200.000 Menschen in die Gefängnisse eingeliefert werden, ebenso viele werden entlassen. Der Besucherverkehr bringt das Virus genauso durch die Gefängnismauern wie das Kommen und Gehen des Personals.
Natürlich hat die Politik das Problem erkannt und zu reagieren begonnen. So hat der New Yorker Bürgermeister Bill de Blasio aus dem Rikers Island Gefängnis bereits 650 Häftlinge entlassen – zumeist Insassen, die ohnehin bald entlassen worden wären oder die für mindere Delikte einsitzen. Die Staatsanwaltschaft arbeitet derzeit eine Liste des Bürgermeisters für mindestens 1000 weitere Entlassungen ab.
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In Los Angeles wurden 1700 Gefangene entlassen, 2800 weitere sind für die kommende Woche vorgesehen. In New Orleans ist die Gefängnis-Population so niedrig wie seit Jahren nicht mehr, weil die Polizei angefangen hat, weniger Menschen zu verhaften. Und selbst Trumps Justizminister erwägt nun, unter bestimmten Bedingungen Insassen aus den Bundesgefängnissen zu entlassen und unter Hausarrest zu stellen.
Mehr Ausbruchversuche
Mit den Maßnahmen möchten die Gefängnisverwaltungen nicht zuletzt verhindern, dass es in den Gefängnissen zu Ausschreitungen kommt, wie das etwa in Italien und Kolumbien vorgekommen ist. Aus einigen Bundesgefängnissen, wo die Insassen wegen des Virus keinen Besuch mehr bekommen und teilweise tagelang isoliert werden, hat es bereits einzelne Fälle von Gewalt sowie vermehrte Ausbruchsversuche gegeben.
Doch die Entlassungen bringen ihre eigenen Probleme. New York etwa wurde dafür kritisiert, dass die Entlassungen willkürlich seien und dass vor allem nicht sichergestellt sei, dass die Entlassenen nicht den Virus in die Stadt tragen. Kapazitäten für die Quarantäne der entlassenen Strafgefangenen gibt es nicht und auch Tests sind nicht ausreichend vorhanden, um sie alle zu prüfen.

Die Entlassungen schüren auch Ängste, die weit über die akute Krise hinausgehen. Viele sehen in der Lockerung des Strafvollzugs eine Gefahr für das amerikanische Strafrechtssystem, zumal die Gerichte seit Beginn der Epidemie auch nur noch begrenzt arbeiten. Andere wiederum glauben, dass in der Lockerung der Inhaftierungsbestimmungen eine Chance dafür besteht, das aufgeblähte amerikanische Gefängniswesen dauerhaft zurückzufahren.
„Vielleicht schauen wir zurück, nach dem all dies vorbei ist“, sagt Lauren Brooke Eisen vom Brennan Center for Justice, einem juristischen Think Tank in New York, „und fragen uns, warum wir das nicht schon viel früher gemacht haben.“ So hätte die Epidemie zumindest eine positive Auswirkung.