Datenspezialist zu Nord-Stream-Anschlägen: Zeit, New York Times und Hersh haben viele Fehler gemacht

Oliver Alexander (29) ist Däne und nutzt „Open Source Intelligence“, um die Nord-Stream-Anschläge zu erklären. Er sagt, die Anschläge seien anders abgelaufen, als in der Presse behauptet wird.

Das vom dänischen Verteidigungskommando zur Verfügung gestellte Foto zeigt das Nord-Stream-2-Gasleck im September 2022. Es gibt weitere Entwicklungen in dem Fall.
Das vom dänischen Verteidigungskommando zur Verfügung gestellte Foto zeigt das Nord-Stream-2-Gasleck im September 2022. Es gibt weitere Entwicklungen in dem Fall.Danish Defence Command/dpa

Oliver Alexander (29) ist ein dänischer Amateur-OSINT-Ermittler. OSINT steht für „Open Source Intelligence“ und nutzt öffentlich verfügbare Daten, um Weltereignisse zu untersuchen. Zuvor hat Alexander die Explosionen auf der Brücke zur Krim im Oktober 2022 und die Explosion der ukrainische Rakete, die im November in Polen landete, untersucht. Er hat außerdem Hunderte von Stunden damit verbracht, die Explosionen genauer zu analysieren, die am 26. September 2022 drei der vier Nord-Stream-Pipelines zerstörten. Er hat dabei Online-Daten wie AIS-Schifffahrtsindentifikationsdaten und Satellitenbilder verwendet. Seine Arbeit kann man über seinem Substack-Newsletter verfolgen. Er gilt als einer der größten Kritiker von Seymour Hersh, der sich auf anonyme Daten bezieht, die davon ausgehen, dass die amerikanische Regierung hinter den Nord-Stream-Anschlägen steckt.

Die Berliner Zeitung hat auch Seymour Hersh interviewt. Welche der beiden Theorien stimmen, ob die von Hersh, die von Alexander oder vielleicht eine ganz andere, kann bislang niemand eindeutig sagen. Am 26. September 2022 wurden mit mehreren Sprengungen Anschläge auf die Nord-Stream-Pipelines verübt. Dabei wurden beide Stränge von Nord Stream 1 und einer der beiden Stränge von Nord Stream 2 unterbrochen.

Berliner Zeitung: Herr Alexander, was sagen Sie zu den Berichten in der New York Times und der Zeit, dass eine proukrainische Gruppe die Pipelines gesprengt hat, möglicherweise mit einem in Polen gemieteten Segelboot?

Oliver Alexander: Der Artikel in der New York Times war nicht sehr aufschlussreich. Es gab eine anonyme Quelle, was mir zeigt, dass die Informationen nicht besonders verlässlich sind. Auf mich wirkte das alles nicht sehr konkret. Ich vermute, dass die New-York-Times-Veröffentlichung die Wochenzeitung Die Zeit dazu veranlasst hat, ihren Beitrag direkt danach zu veröffentlichen, mit etwas mehr Details, obwohl auch dieser eine Menge Löcher enthielt. Der größte Fehler war der falsche Hafen, den sie erwähnten, nämlich Wieck auf dem Darß. Dieser Hafen ist nicht tief genug für das Boot, das angeblich gemietet wurde. Die Ostsee-Zeitung befragte den Hafenmeister und er sagte, niemand habe sich bei ihm gemeldet. Wahrscheinlich sei die Tätergruppe von diesem anderen Ort, Wieck auf Rügen, losgefahren. Interessanterweise war das kein Tippfehler. Die Quelle hatte der Zeit gesagt, der Abfahrort sei der Hafen auf dem Darß gewesen. Sie sehen also … Die ganze Geschichte ist etwas seltsam: Die Gruppe arbeitet sehr professionell, wurde aber offenbar von einem Unternehmen bezahlt, das sehr leicht mit der Ukraine in Verbindung gebracht werden kann. Das ist komisch, wenn man sich die Mühe macht, mit gefälschten Pässen superprofessionell zu sein und von Deutschland aus zu reisen. Hinzu kommt, dass sie das Boot nicht gereinigt haben, als sie zurückkamen. Auch sehr merkwürdig.

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Oliver Alexander (29) ist ein dänischer Amateur-OSINT-Ermittler. OSINT steht für „Open Source Intelligence“ und nutzt öffentlich verfügbare Daten, um Weltereignisse zu untersuchen. Er ist ein Kritiker der Nord-Stream-Theorien von Seymour Hersh.

Anders gesagt: Hunderte von Kilo Sprengstoff auf einem Segelboot zu transportieren und dann an drei Stellen komplizierte Tauchgänge in 70 oder 80 Meter Tiefe durchzuführen, erscheint Ihnen nicht besonders plausibel.

Wir wissen nicht genau, wie viel Sprengstoff verwendet wurde. Eine Frage war immer, wie viel von der Sprengkraft auf den im Pipeline-Rohr aufgebauten Explosionsdruck und wie viel auf die eigentliche Bombe zurückzuführen ist. Wenn es sich um eine große Menge an Sprengstoff handelte, ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Täter den Sprengstoff auf diesem angeblichen Segelboot mitführten. In dieser Tiefe sind die Verantwortlichen wahrscheinlich mit Heliox getaucht (ein Atemgas für Taucher, Anm. d. Red.). Je nach Anzahl der Tauchgänge hätten sie 20, 30, 40 Flaschen davon gebraucht, eine gewaltige Menge, die auf einem Boot nicht so leicht nachgefüllt werden kann. Sie hätten viel Ausrüstung benötigt. Sie hätten einen internationalen Bootsführerschein gebraucht, um das Boot mieten zu können, also hätte der auch gefälscht gewesen sein müssen. Sie hätten Leute gebraucht, die wissen, wie man ein Segelboot segelt. Und noch etwas: Angenommen, das Meer war 80 Meter tief. Sie konnten wahrscheinlich nicht ankern, also mussten sie das Boot ruhig halten, während sie mit zwei Tauchern einen Tauchgang machten. Dann wäre eine Dekompression nötig gewesen, und sie hatten keine Dekompressionskammer.

… Dekompressionskammern dienen zur Anpassung an den atmosphärischen Luftdruck, um Dekompressionserkrankungen bei Tauchern vorzubeugen …

Sie hätten also im Wasser die Dekompression machen müssen … Wie lange das dauert, hängt davon ab, wie lange die Täter angeblich gebraucht hatten, um den Sprengstoff zu platzieren. Eine Stunde, vielleicht zwei Stunden? Das ist jedenfalls eine lange Zeit, um unter Wasser zu sein. Bei mehreren Tauchgängen müssten sie tagelang warten, bis sie wieder tauchen können. Die Stelle, an dem sie den Sprengstoff anbrachten, ist eines der tieferen Gebiete in der Ostsee bei Bornholm. Das bedeutet, dass die Täter gezielt eine der Stellen gewählt haben, an denen es am schwierigsten ist, zu tauchen, was dumm ist, wenn man ein kleines Boot ohne AIS-Ortung hat. Theoretisch könnte man die Operation auch an anderen, leichter zugänglichen Stellen durchführen. Warum suchen sich die Täter ausgerechnet die schwierigste Stelle im Meer für die Operation aus?

Und eine der Explosionsstellen ist 80 Kilometer von den beiden anderen entfernt. Man bräuchte also mehrere Tage, um dort hinzukommen und die Operation durchzuführen.

Und genau zu dieser Zeit war auch der Tanker „Minerva Julie“ dort, ein Schiff, das mit Russland verbunden ist, da es Öl für Russland transportiert und der Bruder des Eigners etwas mit dem orthodoxen Kloster in Griechenland zu tun hat, das Putin manchmal besucht. Das Schiff befand sich auf dem Weg von Rotterdam nach Sankt Petersburg. Vom 5. bis 13. September 2022 fuhr es nur wenige Kilometer über der Stelle, an der sich die Explosionen ereigneten – und kreiste dort acht Tage lang ohne ersichtlichen Grund herum. Das Segelboot, das angeblich benutzt wurde, verließ Rostock am 6. September und wurde vom 16. bis 18. September auf der Insel Christiansø gesichtet, sodass Tanker und Segelboot genau zur gleichen Zeit dort auf dem Meer gewesen sein müssen. Wenn die beiden Boote bzw. Schiffe also nicht beide zugleich mit der Sprengung beschäftigt waren, könnten sie sich zumindest zugewunken haben.

Vielleicht wurden die Täter vom Segelboot auf den Tanker gebracht?

Ich habe die Theorie, dass die „Minerva Julie“ als stabilere Plattform fürs Tauchen benutzt wurde. Es könnte einfacher gewesen sein, den Sprengstoff oder das Team von einem Hafen in Deutschland auf das Schiff zu schmuggeln als vom Hafen in Rotterdam, wo es vermutlich viele Überwachungskameras gibt, sodass es Überwachungsmaterial von diesen Leuten, also den Tätern, gegeben hätte, wenn sie von Rotterdam aus aufgebrochen wären. Die Tatsache, dass es keine Beweise dafür gibt, dass die Täter in Rotterdam an Bord des Tankers gegangen sind, könnte beispielsweise als Beweis dafür dienen, dass der Tanker nicht beteiligt war. Dass die Strippenzieher hinter den Explosionen die Taucher mit dem kleinen Segelboot verschifft haben, um sich mit der „Minerva Julie“ zu treffen, ist ein plausibleres Szenario als jenes, das davon ausgeht, dass das Segelboot die Sprengung allein durchgeführt hat.

Sie glauben also, dass es sich um eine russische Operation handelt?

Alles deutet definitiv eher darauf hin. Wie die New York Times sagte, könnten es theoretisch auch Anti-Putin-Russen sein, selbst wenn es Russen waren. Es gibt noch keine wirkliche Möglichkeit, das herauszufinden.

Allerdings gibt es eine Verbindung zwischen der „Minerva Julie“ und Personen, die mit Putin zu tun haben.

Es gibt eine Verbindung zu Putin, aber ich weiß nicht, zu wie vielen anderen mächtigen Oligarchen es durch dieses orthodoxe Kloster noch eine Verbindung gibt. Es muss nicht unbedingt Putin sein. Es ist eine sehr heilige Stätte für die russische Orthodoxie, daher vermute ich, dass viele andere mächtige Russen ebenso dorthin fahren.

Sie sind sehr skeptisch gegenüber Seymour Hershs Arbeit über Nord Stream. Was sind Ihre Haupteinwände gegen seine Theorien?

Wie viele Stunden Zeit haben Sie? Zunächst einmal besteht seine Geschichte den „Schnuppertest“ nicht wirklich. Das fängt schon damit an, dass er sagt, die Täter hätten ein norwegisches P-8-Poseidon-Flugzeug benutzt, um eine Sonarboje zur Zündung des Sprengstoffs abzuwerfen, was lächerlich ist. Außerdem: Die P-8-Poseidons werden von der norwegischen Luftwaffe eingesetzt und nicht der Marine, also ist das eine weitere Sache, die im Text falsch ist. Hersh sagt, es sei ein Routineflug gewesen, aber wenn Sie jemals auf eine Karte geschaut haben und wissen, wo Norwegen liegt und wo die norwegische Basis ist, dann werden Sie erfahren, dass sie in Nordnorwegen liegt, weil die Norweger dort oben in der Nordsee patrouillieren. Das ist ihre Aufgabe. Die Norweger würden niemals einen Routineflug über die Ostsee machen. Sie fliegen nicht routinemäßig im schwedischen und dänischen Luftraum. Außerdem waren die P-8-Flugzeuge zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal im regulären Dienst. Sie wurden nur für ein paar Trainingsflüge eingesetzt, weil sie noch nicht im aktiven Dienst waren. Hersh sagt, sie hätten einfach die Transponder ausgeschaltet, aber dann wäre dieses Flugzeug, von dem er spricht, den ganzen Weg von Nordnorwegen bis hinunter nach Bornholm geflogen, im Grunde durch ganz Schweden, ohne dass Schweden davon wusste, und dann in den dänischen Luftraum, ohne dass Dänemark davon wusste, und dann wieder zurück. Die Maschinen hätten wahrscheinlich irgendwo auf dem Weg tanken müssen. Hersh sagt, die Täter hätten die Sprengsätze mithilfe von Akustik gezündet. Akustik wird in der Ölindustrie häufig eingesetzt, um Lecks zu stopfen. Das kann man also machen. Aber normalerweise benutzt man statt dieser Methode ein kleines Gerät, das man an einem Seil ins Wasser lassen kann und das so groß ist wie ein Laptop. Eine Kabelspule ist alles, was man braucht, um Sprengstoff bis zu einer Tiefe von 5000 Metern zu aktivieren. Ich sehe also nicht ein, warum man diese ganze aufwendige Operation organisieren sollte, bei der man dieses Flugzeug heimlich fliegt, wenn man einfach einen Typen in einem kleinen Schnellboot haben kann, der dieses kleine Ding einfach ins Wasser wirft. In späteren Interviews behauptete Hersh, dass es amerikanische Piloten waren, die das Flugzeug flogen, was die Sache noch absurder macht.

Und dann sind da noch die Schiffe, die laut Hersh benutzt wurden, um die Bomben zu legen.

Er sagt immer wieder, dass es ein Minenräumer der „Alta“-Klasse war. In Interviews hat er aber auch „The Alta“ gesagt. Aber „The Alta“ ist verschrottet worden. Sie ist seit 2012 nicht mehr in Betrieb. Es gibt viele visuelle Beweise dafür, dass es verschrottet wurde. Alle anderen Schiffe der Alta-Klasse mit Ausnahme der „Hinnøy“ waren nicht in Dänemark. Es ist ziemlich schwierig, ein Schiff in die Ostsee zu schmuggeln, weil man sich unter einer der massiven dänischen und schwedischen Brücken hindurchschleichen muss. Irgendjemand hätte davon erfahren. Das Schiff, das für eine Marineübung dort war (im Sommer 2022, während Hersh behauptet, dass der Sprengstoff dann gelegt wurde), hatte sein AIS eingeschaltet und wurde die ganze Zeit beobachtet, und es fuhr mit Schiffen aus Finnland, Schweden, den Niederlanden, Polen und Estland, wenn ich mich richtig erinnere. Sie hätten sich heimlich davonmachen müssen, um diese Mission durchzuführen. Sie wären auch alle daran beteiligt gewesen. Plötzlich sind also mehrere Nationen an diesem Geheimplan beteiligt, von dem nicht einmal der US-Kongress wissen konnte.

Und dieses Schiff hätte sich im Vergleich zu den anderen Schiffen bei der Übung etwas seltsam verhalten müssen …

Laut AIS hat sich keines der Schiffe in die Nähe der Explosionsorte begeben. Es hätte sich von den anderen Schiffen, mit denen es die Übung machte, heimlich entfernen müssen. Das scheint mir sehr unwahrscheinlich.

Seymour Hersh hat daraufhin gesagt, dass man die AIS-Ortung fälschen kann.

Theoretisch ist das möglich, aber es gibt normalerweise Anzeichen dafür, wenn das passiert. Hier gibt es keine Anzeichen. Ich habe außerdem sechs Stellen gefunden, an denen die AIS-Koordinaten genau mit den Satellitenbildern des Schiffes übereinstimmten. Ab einem gewissen Punkt wird es zu kompliziert. Die ganze Sache ergibt keinen Sinn. Es gibt keine Verifizierung. Hersh ist derjenige, der die Behauptung aufgestellt hat, also sollte er auch die Beweislast liefern. Wenn man sich seine Interviews anhört, verbringt er die meiste Zeit damit, sehr kremlfreundliche Argumente zu verbreiten, wie z.B. dass Russland den Krieg bereits gewonnen hat und dass die Ukraine daran schuld ist und dass der Krieg erst enden wird, wenn Selenskyj entscheidet, dass er genug Geld gestohlen hat. Und dass Russland seine eigentliche Armee noch nicht in der Ukraine eingesetzt hat. Das sind kremlfreundliche Argumente, die er gerne in Podcasts erzählt. Ich weiß nicht, was mit ihm passiert ist. Wahrscheinlich hatte er wegen des Massakers von My Lai in Vietnam schon immer eine bestimmte Einstellung gegenüber der US-Regierung. Mit dem Alter ist er einfach in seiner Sichtweise stecken geblieben.

Was ist Ihre derzeitige Theorie über die Ursache der Explosionen?

Ich glaube, die „Minerva Julie“ hat damit was zu tun. Viele Leute sagen, dass Russland kein Motiv hat. Ich glaube, wenn überhaupt, dann hatte Russland das stärkste Motiv. Die Russen hatten einen Vertrag für Nord Steam 1 mit Deutschland, also gibt es verschiedene Dinge, die sie nach der Zerstörung hätten sagen können: Dass der Vertrag gebrochen ist und sie das zugesicherte Gas nicht liefern können. Dies hätte auch die Öffnung von Nord Stream 2 ermöglichen können. Die deutsche Regierung hätte dem zustimmen müssen, was ein großer politischer Sieg für Russland gewesen wäre. Denn Deutschland hat mehrfach erklärt, dass dies nie geschehen würde. Jeder neue Vertrag würde zu den Bedingungen Russlands geschlossen werden, wenn Deutschland Gas benötigt und die Pipeline öffnen müsste. Theoretisch könnten die Russen also den Preis und die Bedingungen dieser Verträge diktieren, was viel mehr Geld wert wäre, als der Schaden an der Nord-Stream-1-Pipeline kosten würde. Ich glaube also nicht, dass sie kein Motiv haben. Ich denke, dass sie wahrscheinlich beide Nord-Stream-2-Pipelines in Takt lassen wollten. Eine Woche nach den Explosionen sagte Putin, wenn ihr Nord Stream 2 wollt, können wir die Pipeline öffnen und Gas nach Deutschland schicken. Es sieht nicht so aus, als ob die Russen von den Explosionen besonders betroffen wären. Es sieht nicht so aus, als gäbe es in Russland einen riesigen Aufruhr. Interessant finde ich auch, dass sie an der Hersh-Geschichte festhalten und kein Interesse daran zeigen, die Ukraine zu beschuldigen. Es wäre in ihrem besten Interesse, wenn es sich um eine proukrainische Gruppe handeln würde, denn das wäre perfekt, um die Unterstützung für die Ukraine in Deutschland zu schmälern.

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