Der Große Klima-Weltkrieg ist der neue Kolonialismus

Konsumgesellschaften brauchen koloniale Ausbeutung. Ohne Klima-Kolonialismus kein westlicher Wohlstand. Die Aktivisten der Dekolonialisierung verdrängen das.

Brandenburg oder Sahel? Dürre ist global. Die Klimakrise ist eine der größten globalen Herausforderungen.
Brandenburg oder Sahel? Dürre ist global. Die Klimakrise ist eine der größten globalen Herausforderungen.AP/Manish Swarup

Berlin-Es brennt sich ins kollektive Bewusstsein: Der Klimawandel kommt als großer Zerstörer von Menschen, Besitz, Wohlstand daher. Wasser wird knapp in Deutschland. Wasser! Anderswo in der grenzenlosen Welt des Klimas ist es noch trockener, noch heißer. Wo ganze Landstriche unbewohnbar werden, bekommt das Wort von der Zeitenwende eine Dramatik, die weit über Ukraine-, Gas- und Aufrüstungsdebatten hinausreicht. Auch Brandenburg wird Sahelzone.

Worum es künftig gehen wird, sprach der ägyptische Außenminister Samih Schuckri jüngst beim Petersberger Klimadialog aus: Als Hauptverantwortliche des Klimawandels müssen die Industrieländer Entschädigungen zahlen – 100 Milliarden Euro an die ersten Opfer des Großen Klima-Weltkrieges, die armen Staaten im Süden. Es geht um Reparationen für die Kosten des Wirtschaftsmodells, das einem Teil der Menschheit ein komfortables Leben ermöglicht – auf Kosten der anderen, mit deren Rohstoffen, Arbeitskraft, Naturressourcen. Das ist nichts anderes als Kolonialismus. Der hat mit der staatlichen Unabhängigkeit von den alten Kolonialmächten nicht aufgehört. Er bleibt allgegenwärtig.

Zwar brachte die Globalisierung auch einige Vorteile für die Menschen ehemaliger Kolonien, jedenfalls für deren Eliten; am kolonialen Prinzip hat sich jedoch nichts geändert – schon gar nicht durch Dekolonialisierungs-Gerede. Wie sieht das zum Beispiel in Berlin aus? Decolonize-Aktivisten erhalten Büro- und Personalausstattung, organisieren gelegentlich eine Demo, eine dekoloniale Stadtführung, tauschen ein Straßenschild. Oder das Humboldt-Forum macht ein Event. Lauter steuerfinanzierte, selbstbeschönigende Ersatzhandlungen.

Kolonial-romantische Verklärung

Auch auf der Documenta, einst Kunstereignis von Weltrang, steht das Dekoloniale angeblich im Mittelpunkt, weil Kollektive aus Indonesien die Inhalte bestimmen. Die Auseinandersetzung mit dem modernen Kolonialismus aber schrumpelt zum kollektivistischen Wohlfühlen im Lumbung (gemeinschaftliche Reisscheune) oder Ruru-Haus (für Initiierung). Beides erinnert irritierend an die Romantisierung der geheimnisvollen Sitten „edler Eingeborener“ in alt-kolonialen Zeiten. Oder an die sozialistischen Träume vom Kommune-Leben im Kibbuz, in der Kommunarden-WG oder die Verklärung der dörflichen Allmende im Mittelalter. Über kurz oder lang scheitern solche Wohlfühlkollektive erfahrungsgemäß am Individuum Mensch.

Zum Ausweichen vor der Realität ins Idyll, wie es die Documenta praktiziert, passt die Fokussierung auf Israel als Inkarnation des Imperialismus. Da ist das Böse in einem Punkt gebannt. Und das Agieren im Kollektiv macht es möglich, die Verantwortung für blanken Antisemitismus ins Nichts auszulagern.

Kollektive Zerstörung

Die Kernfrage aber bleibt die kollektive Zerstörung der Welt durch die konsumfreudige globale Mittelklasse, und dazu gehören auch die Decolonize-Kollektive in Berlin oder Kassel. Die Folgen der Weltübernutzung sind derart ins Monströse gewachsen, dass kaum noch ein Ausweg ohne schwer erträgliche Belastungen bleibt. Selbst die Hoffnung, der technologische Fortschritt werde es richten, schwindet.

Es klingt verrückt und ist es auch: Wie schon zwei Generationen zuvor die deutschen 68er nimmt die neue Avantgardisten-Blase Reißaus. Erstere flohen vor der Auseinandersetzung mit den Nazilasten der eigenen Familien hinein in einen selektiven Internationalismus. Da hieß es plötzlich „USA-SA-SS“. Heutige Decolonizer erfinden: „Israel ist gleich Kolonialismus“ – und der reale, allgegenwärtige Kolonialismus bleibt vor der Tür des romantisch-indonesischen Kuschelortes der Reisscheune von Kassel.

Zeit für die Rechnung

Jetzt aber beginnt der Teil der Menschheit, der am teuersten für die Aufrechterhaltung des zerstörerischen Konsumsystems zahlt, das Spiel aufzukündigen. Das offenbart sich nicht auf der Documenta, sondern in den Worten des ägyptischen Außenministers.

Der Vertreter eines autoritären Staates fordert: Ihr müsst zahlen für die in kolonialer Manier angerichteten globalen Klimaschäden. In Wahrheit sind die Folgekosten nicht mehr bezahlbar, so, wie die Schäden der kolonialen Ausbeutung unbezahlbar hoch sind oder die Verheerungen durch den Raub- und Rassenkrieg Deutschlands vor 80 Jahren.

Die heutigen Konsumgesellschaften überleben nur durch Klima-Kolonialismus. Nicht ausgeschlossen, dass die Leute von der Letzten Generation mit ihren apokalyptischen Vorstellungen recht behalten.