Der letzte Mauertote 1989: Winfried Freudenberg wollte mit einem Ballon fliehen
Wer von Südosten kommt und sich in dieser Gegend nicht auskennt, läuft daran vorbei. Auch auf den dritten Blick ist kein Straßenschild zu sehen, das auf den Weg hinweist, in dessen mittelbarer Nähe eine Tragödie endete.
Drei Stufen führen auf den mit kleinen Steinen gepflasterten Weg. Der Himmel ist an diesem Vormittag einheitlich grau. Der Weg führt über eine Brücke. Der See unter ihr, der heißt Waldsee. Das Rauschen des Verkehrs im Rücken, auf der Argentinischen Allee, wird leiser und leiser. Ein Hund bellt, ein Specht klopft.
Am Ende des Weges, der nach zweihundertfünfzig Metern auf die Goethestraße führt, steht sie, gleich neben der Parkbank, nahe des Straßenschildes Erdmann-Graeser-Weg: die Gedenkstelle, die von der Tragödie erzählt.
„Ballonflucht mit tödlichem Ausgang“ steht in weißen Buchstaben auf rotem Untergrund der annähernd zwei Meter hohen Stele. Die Flucht von Ost- nach West-Berlin ereignete sich vor dreißig Jahren, am 8. März 1989.
Acht Monate und einen Tag später fiel die Mauer
Kaum jemand dachte im August 1961 daran, dass aus der Abriegelung der Sektorengrenze in Berlin eine Mauer erwächst. Als vorübergehende Maßnahme gegen den Flüchtlingsstrom, der die Wirtschaft der DDR unterspülte, war sie gedacht, hatten doch innerhalb von zehn Jahren 2,7 Millionen Menschen Ostdeutschland den Rücken gekehrt, getrieben von der Hoffnung auf Wohlstand und der Gewissheit auf Freiheit im Westen. Die Sektorengrenze in Berlin und andere Grenzabschnitte der DDR verfestigten sich.
Abfinden wollte sich damit nicht jeder. Tausende Bürger, unter ihnen auch Grenzsoldaten, wagten zu fliehen, über und unter Lande, über Flüsse und übers Meer und sogar durch die Luft. Ab Mitte der achtziger Jahre stiegen die Fluchtzahlen sprunghaft: in 1986, 87 und 88 von 3712 auf 6571 auf 10.767; mit ihnen stieg auch die Quote der geglückten Fluchten: von 41 auf 54 auf 60 Prozent.
Die DDR – ein Mauerstaat
Jede Flucht war ein Wagnis auf Leben und Tod. Vom Mauerbau bis zum Mauerfall seien an allen DDR-Grenzen vermutlich mindestens 800 Menschen zu Tode gekommen, schätzt der Historiker Hans-Hermann Hertle vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, Autor von Büchern wie „Die Todesopfer der Berliner Mauer“ und „Chronik des Mauerfalls“. Und: In jenen Jahren seien 70.000 Fluchtwillige schon bei der Planung oder auf dem Weg zur Grenze festgenommen und zu Haftstrafen zwischen 7 und 22 Monaten, in Einzelfällen zu mehr als drei Jahren verurteilt worden.
„Die Kriminalisierung, Inhaftierung, Verletzung oder Tötung von Menschen, die ihr Land verlassen wollten, war Teil eines Systems, dessen führende Repräsentanten zu keinem Zeitpunkt daran zweifelten, dass die DDR nur als Mauerstaat zu halten war“, bilanziert Hertle. „An die Gestaltung eines politischen Systems, das die Mauer überflüssig gemacht hätte, wurde dagegen kein Gedanke verschwendet.“
Allein die Berliner Mauer forderte mindestens 140 Menschenleben. Ihr erstes Todesopfer war Ida Siekmann; sie starb nach einem Sprung aus ihrer zum sowjetischen Sektor gehörenden Wohnung an der Bernauer Straße am Morgen des 22. August 1961, neun Tage nach Abriegelung der Grenze, einen Tag vor ihrem 59. Geburtstag.
Winfried Freudenberg starb am 8. März 1989
Winfried Freudenberg gilt bis zu seiner Flucht als mustergültiger Bürger. Zielstrebig und wissensdurstig ist er. Er holt nach seiner Elektrikerlehre sein Abitur nach, studiert Informationstechnik und wird Elektronikingenieur. Einen Besuch zum 75. Geburtstag der Tante in Bad Pyrmont (Niedersachsen) nutzt er, um sich über die Arbeit der Elektro-Firmen in der Region kundig zu machen.
Der Zukunft zugewandt ist Winfried Freudenberg, aber seine Zukunft sieht er nicht in der DDR. In Lüttgenrode ist er aufgewachsen, knapp vier Kilometer entfernt von seinem Geburtsort Osterwieck (Harz, Sachsen-Anhalt) und nur wenige Hundert Meter von dem anderen Deutschland, in dem so viel mehr möglich scheint.
Nach Ost-Berlin zieht es ihn. Im Oktober 1988 heiratet er Sabine, eine Chemikerin. In einem Studentenklub hatten sie sich kennengelernt. Später wird sie aussagen, dass sie beide nicht mehr wollten, dass ihr Staat ihnen „Reisen, Tagungen, Forschungsmöglichkeiten und Kontakte zu Menschen in westlichen Ländern“ vorenthält. So entscheiden sie sich zur Flucht.
Plastikfolie als Fluchthelfer aus der DDR
Ein Ballon soll die Freudenbergs in eine selbstbestimmte Zukunft tragen. Dass das sehr gut möglich ist, haben im September 1979 zwei Familien aus Pößneck (Thüringen) bewiesen: In einem selbst gebauten Heißluftballon glückte den acht Personen die Flucht nach Westdeutschland.
Winfried Freudenberg will den Ballon mit Erdgas befüllen. Ein Heißluftballon mit Brenner zum Erwärmen der Luft ist schwieriger zu bauen; und er ist leichter am Himmel zu entdecken. Um an Erdgas zu kommen, tritt Freudenberg eine Arbeit als Ingenieur für Systementwicklung beim VEB Energiekombinat in Ost-Berlin an. Dadurch hat er Zutritt zu einer Gasreglerstation an der Schäferstege 14 in Blankenburg, die er anzuzapfen gedenkt.
Den Ballon bauen die Freudenbergs in ihrer Zwei-Raum-Wohnung an der Christburger Straße in Prenzlauer Berg. Abend für Abend und so manche Nacht fertigen sie aus Plastikfolien, die sie in vielen kleinen Mengen kaufen, und Klebeband eine dreizehn Meter lange Hülle mit elf Metern Durchmesser und umspannen sie mit einem Netz aus Verpackungsschnüren ...
Das Jahr 1989 ist noch jung, da macht Erich Honecker von sich Reden. Bei der Tagung des „Thomas-Müntzer-Komitees“ in Ost-Berlin am 19. Januar sagt der DDR-Staats- und SED-Parteichef: Die Mauer, der „antifaschistische Schutzwall“, werde „in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen, wenn die dazu vorhandenen Gründe nicht beseitigt sind“.
Es entstehen Pläne für den weiteren Ausbau der Staatsgrenze der DDR zur Bundesrepublik und zu West-Berlin bis zum Jahr 2000. Angedacht sind Infrarotschranken und Erschütterungsmelder.
Die Äußerung Honeckers bei der Tagung richtet sich weniger an die Regierungen in Bonn und Washington, sondern vielmehr an Moskau. Er ist überzeugt, die Reformpolitik unter Michail Gorbatschow bedrohe die sozialistische Staatengemeinschaft, mehr noch: den Sozialismus. Auf Reformen hoffende DDR-Bürger nehmen die Äußerung mit Enttäuschung zur Kenntnis. Einige bestärkt es in ihrer Absicht zur Republikflucht.
Chris Gueffroy trifft ein Schuss ins Herz
Die Worte Honeckers stiften im Ausland Verwunderung. Die DDR hat sich vier Tage zuvor, am 15. Januar, mit Unterzeichnung des Folgeabkommens der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) in Wien verpflichtet, sie werde „das Recht eines jeden (…) auf Ausreise aus jedem Land, darunter auch seinem eigenen, und auf Rückkehr in sein Land uneingeschränkt achten“.
Diese Verpflichtung – Honecker wollte ihr nie nachkommen, wie er vor Unterzeichnung des Abkommens dem sowjetischen Botschafter in der DDR, Wjatscheslaw Kotschemassow, verriet – wird zu einem Problem.
Am Anfang dieses Problems steht ein Grenzzwischenfall: DDR-Grenzsoldaten beschießen in der Nacht vom 5. auf den 6. Februar zwei junge Männer, die durch den Britzer Verbindungskanal von Treptow nach Neukölln fliehen wollen – Chris Gueffroy (20) und Christian Gaudian (21). Eine Kugel trifft Gueffroy in den Fuß, eine weitere durchschießt sein Herz; er ist das letzte Opfer, das an der Berliner Mauer durch den Einsatz von Schusswaffen ums Leben kommt.
Schüsse an der Mauer waren gang und gäbe; die ersten tödlichen fielen am 24. August 1961, elf Tage nach Abriegelung der Sektorengrenze: Günter Litfin (24) starb durch den Schuss eines DDR-Transportpolizisten in den Hinterkopf, kurz bevor er das Westufer des Humboldthafens erschwommen hatte.
Einen „Schießbefehl“ gab es streng juristisch betrachtet nicht. „Die Gesetze, Anordnungen und Befehle zum Schusswaffengebrauch begründeten nur einen ,Erlaubnistatbestand‘, nicht die Verpflichtung zum Todesschuss“, erklärt der Historiker Hans-Hermann Hertle. „So hatten die Grenzer die Wahl: Schieß ich den übern Haufen oder schieß ich daneben und nehme eine eventuelle Bestrafung in Kauf?“
Die meisten „Mauerschützen“-Prozesse endeten mit Bewährungsstrafen. Von den 450 Grenzern und ihren Vorgesetzten, die zwischen 1991 und 2005 angeklagt wurden, erhielten 30 eine Haftstrafe ohne Bewährung.
Im Fall Litfin lautete das Urteil: 18 Monate Haft auf Bewährung wegen Totschlags in minder schwerem Fall.
Honeckers „Schießbefehl”
Das „Gesetz über die Staatsgrenze der DDR“ vom 25. März 1982 legalisierte die Anwendung von Schusswaffen als „äußerste Maßnahme“. In einem Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) acht Jahre zuvor hieß es: „Zögern Sie nicht mit der Anwendung der Schußwaffe, auch dann nicht, wenn die Grenzdurchbrüche mit Frauen und Kindern erfolgen ...“
Ein zentraler Baustein in der 1992 formulierten Anklageschrift gegen Erich Honecker, die ihm die Verantwortung und Mitschuld am Schießbefehl sowie Totschlag und versuchten Totschlag in 68 Fällen vorwarf, ist eine Notiz über die Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates am 3. Mai 1974. Ihr zufolge führte Honecker in seinem Beitrag „über die Lage an der Staatsgrenze der DDR zur BRD, zu Westberlin und an der Seegrenze“ aus: „(...) nach wie vor muß bei Grenzdurchbruchsversuchen von der Schußwaffe rücksichtslos Gebrauch gemacht werden, und es sind die Genossen, die die Schußwaffe erfolgreich angewandt haben, zu belobigen.“
Friedrich Wolff verteidigte Honecker damals. Die Notiz über die Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates hält der Jurist für „fragwürdig“, wie er in einem Gespräch mit dem Autor dieses Beitrags vor zwei Jahren sagte; sie sei die Wiedergabe eines einzigen Sitzungsteilnehmers. „Ein Schießbefehl – wie ihn der natürliche Menschenverstand versteht – hat nicht vorgelegen.“
Unabhängig davon betonte Wolff: „Die Sicherung der Grenze ist das Recht eines jeden Staates.“ Er verwies auf den Rechtswissenschaftler Karl Doehring, der in Göttingen, München und Heidelberg lehrte und 1965 sagte: „Das Völkerrecht verlangt von keinem Staat, dass er die freie Ausreise zulässt und auf effektive Zwangs- und Kontrollmaßnahmen verzichtet.“
Christoph Schaefgen erhob als Generalstaatsanwalt Anklage gegen Honecker. Besagte Notiz hält er für authentisch, wie er dem Autor bei einem Treffen ebenfalls vor zwei Jahren sagte. Unabhängig davon: „Es ist für mich unumstritten, dass das Recht auf Ausreise ein Menschenrecht ist.“ Im Übrigen habe sich die DDR mit Unterzeichnung der Schlussakte der KSZE in Helsinki 1975 dazu bekannt, die Menschenrechte und Grundfreiheiten zu achten.
Das Verfahren gegen Honecker wurde im Januar 1993 eingestellt. Begründung: Das Verfahren verletze die Menschenwürde des Todkranken. Honecker hatte Krebs.
Die Stasi kommt ihnen auf die Spur
Winfried und Sabine Freudenberg beschließen, in der Nacht vom 7. auf den 8. März nach West-Berlin zu fliehen. Mit ihrem Ballon fahren sie von Prenzlauer Berg nach Blankenburg, zur Gasreglerstation an der Schäferstege. Sie zapfen gegen Mitternacht die Station an. Langsam füllt sich die Ballonhülle mit Erdgas.
Dass jemand sie hier, in einem abgelegenen Teil der Stadt, ungefähr acht Kilometer von der Mauer entfernt, beobachtet, ist wenig wahrscheinlich. Dieser Jemand taucht gegen 1.30 Uhr auf: ein Mann, der, als er von seiner Nachtschicht als Kellner nach Hause kommt, über den Hecken der Kleingartenkolonie eine Ballonhülle wabern sieht. Weil „schon mal DDR-Bürger mit einem Ballon abgehauen sind“, wie er aussagen wird, alarmiert er die Volkspolizei.
Ein Streifenwagen erscheint gegen 2 Uhr. Die Freudenbergs entscheiden, dass sich nur einer von ihnen in die Sitzkonstruktion begibt, die aus zwei Holzstücken eines Besenstiels besteht und an der Sandbeutel als Ballast und Taschen mit Hab und Gut baumeln. Das Stück, das Sabine Freudenberg tragen soll, wird abgetrennt, das Seil, das den Ballon am Boden hält, gekappt. Winfried Freudenberg entschwebt in den Nachthimmel, seine Frau fährt zurück in die Wohnung.
In der Hektik haben sie am Fluchtort Papiere verloren, die ihre Identität verraten ...
„Der Ballon – ein deutscher Fall“ heißt ein Theaterstück, das ein Team vom Institut für künstlerische Forschung (!KF) Berlin um Julian Klein und Caroline Labusch im Oktober 2015 auf die Bühne brachte. In Zusammenarbeit mit Sabine Freudenberg entstand es, obwohl sie die Öffentlichkeit scheut – ein Interview mit dieser Zeitung lehnte sie ab.
In der Inszenierung ist Sabine Freudenberg selbst aufgetreten. „Wir konnten uns das Stück ohne ihre Mitwirkung auch schlecht vorstellen“, berichtet Regisseur Julian Klein. „Wir wollten viele verschiedene Perspektiven und Erinnerungen berücksichtigen.“ Eine Szene sei in mehreren, sich widersprechenden Varianten erzählt worden: die letzte Minute vor dem Abflug. „Auf unsere Frage, welche davon am ehesten mit ihrer Erinnerung übereinstimmt, antwortete Frau Freudenberg: Alle!“
Nach der Zusammenarbeit für das Theaterstück entstand die Idee für ein Buch. Caroline Labusch hat es geschrieben, es soll im Mai erscheinen („Ich hatte gehofft, wir können fliegen“, Penguin Verlag). Sie bewundert Winfried und Sabine Freudenberg: „Es ist eine Leistung, die eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen und zu erkennen, wo sie mit dem System nicht vereinbar sind.“
Irrflug über Berlin – Freudenberg nach Ballon-Absturz tot aufgefunden
Winfried Freudenbergs Ballon fliegt höher als vorgesehen, zeitweise auf über 3000 Meter, und länger als geplant, nicht eine halbe Stunde, sondern schon über fünf Stunden. Vergeblich versucht er, seine Höhe zu verringern. Er schwebt über das West-Berliner Stadtgebiet, ohne landen zu können. Über Tegel stürzt eine Tasche in die Tiefe, darin befindet sich auch sein Sozialversicherungsausweis.
In der Morgendämmerung schwebt Freudenberg Richtung Wannsee, dahinter sieht er Potsdam. Er treibt auf die DDR zurück. Gegen 7.30 Uhr stürzt er vom Himmel, bäuchlings schlägt er auf in einem Garten eines Hauses an der Limastraße in Zehlendorf, die parallel zum Erdmann-Graeser-Weg verläuft. Die erschlaffte Ballonhülle verfängt sich wenig später mehrere Hundert Meter weiter in einem Baum an der Kreuzung Potsdamer Chaussee/Spanische Allee.
Die Absturzursache ist ungeklärt.
Im Obduktionsbericht steht, dass Winfried Freudenberg beim Aufschlag sofort tot war. Er wurde 32 Jahre alt.
Sabine Freudenberg, damals 25, ist beim Tod ihres Mannes in Gewahrsam der Staatssicherheit.
Ein Holzkreuz stand einst dort, wo sich seit November 2012 die Gedenkstele für Winfried Freudenberg befindet. Ein Foto auf der Stele zeugt davon. Weitere Bilder zeigen ein Porträt und den Personalausweis Freudenbergs, die vermutliche Flugroute seines Ballons, die Bergung der Ballonreste und persönliche Gegenstände wie Privatfotos.
„Wie verzweifelt mussten Menschen über ihre Lebensumstände in der DDR sein, dass sie ein solch waghalsiges Unternehmen starteten?“, fragt ein Satz im Text auf der Stele, den der Historiker Hans-Hermann Hertle geschrieben hat. Die Absturzstelle des Ballons liege auf seinem täglichen Weg zur Arbeit in Potsdam, erzählt er. „Der Gegensatz kann kaum größer sein: Hier stürzt noch 1989 ein Mensch, der nur die Freiheit sucht, aus dem Himmel und kommt ums Leben – und wenige Kilometer weiter fahren wir heute über die Glienicker Brücke hin und her, als ob es nie eine Mauer gegeben hätte. Das berührt mich bis heute.“
Schüsse an der Mauer
Die DDR-Staats- und SED-Parteispitze gerät durch die Maueropfer Chris Gueffroy und Winfried Freudenberg zunehmend unter außenpolitischen Druck. Und am 10. März ereignet sich einer weiterer Zwischenfall an der Mauer: Drei fluchtwillige DDR-Bürger werden durch Schüsse gestoppt und anschließend festgenommen.
Erich Honecker sieht sich genötigt zu handeln. Informell ordnet er am 3. April an, Grenzer sollten nicht mehr schießen. Darüber unterrichtet Generaloberst Fritz Streletz, Chef des Hauptstabes der Nationalen Volksarmee und Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates, führende Militärs: „Lieber einen Menschen abhauen lassen, als in der jetzigen Situation die Schußwaffe anzuwenden.“ In den darauffolgenden Tagen wird diese Weisung den Grenztruppen mündlich mitgeteilt.
Aber schon am 8. April fallen an der Mauer wieder Schüsse: Zwei junge Männer überspringen den Schlagbaum am Grenzübergang Chausseestraße in Berlin-Mitte; ein DDR-Passkontrolleur schießt, sie werden festgenommen. Und am 26. April durchbricht ein Mann mit einem Lastwagen die Hinterlandmauer und einen Stacheldrahtzaun in Glienicke, fährt sich im Sand fest und prallt gegen einen Lichtmast; er wird festgenommen.
Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit, beklagt bei einer Dienstbesprechung zwei Tage später „einen wesentlichen Anstieg von Grenzdurchbrüchen, darunter zahlreiche Aktionen, die durch hohe Gesellschaftsgefährlichkeit und Risikobereitschaft der Täter gekennzeichnet waren“. Durch eine „umfassende Vermarktung in den Medien des Gegners“ sei ein „erheblicher politischer Schaden entstanden und die offensive Politik unserer Partei gestört worden“.
Diese „Hetzkampagne“ sei weiter eskaliert durch die „völlig gerechtfertigte Anwendung der Schußwaffe durch Angehörige der Grenztruppen der DDR“ und auch dem Überfliegen der Staatsgrenze der DDR mit einem Ballon. „Wo noch etwas mehr revolutionäre Zeiten waren, da war es nicht so schlimm. Aber jetzt, nachdem alles so neue Zeiten sind, muß man den neuen Zeiten Rechnung tragen.“
Der Wendemonat Mai 1989
Für die DDR stehen die Zeichen der neuen Zeit schlecht. Außenpolitisch sieht sie sich zunehmend isoliert: Beim KSZE-Informationsforum in London im April/Mai 89 und bei der Menschenrechtskonferenz in Paris im Mai/Juni desselben Jahres müssen sich ihre Vertreter harsche Kritik am Reformunwillen von Staat und Partei gefallen lassen. In Paris ist die Berliner Mauer zentrales Thema.
Zum außenpolitischen Druck kommt in den ersten Maitagen ein innenpolitischer, ausgelöst durch zwei Ereignisse, rückblickend vergleichbar mit einem Seebeben, deren Ausläufer zwei Flutwellen bilden, die die Mauer wegspülen werden: Ungarn beginnt, die Grenzanlagen zu Österreich abzubauen (2. Mai); Bürgerrechtsgruppen entdecken, dass die SED die Ergebnisse der Kommunalwahl fälscht (7. Mai).
DDR-Bürger kommen in Bewegung. Die einen beschließen, das Land zu verlassen: Sie suchen ab Mitte Juli Zuflucht in der Ständigen Vertretung Bonns in Ost-Berlin sowie in den Botschaften in Budapest und Prag, hoffend, von dort in die Bundesrepublik ausreisen zu dürfen. Die anderen beschließen, sich zu organisieren: Sie gründen Oppositionsgruppen, sie gehen auf die Straße, erst zu Hunderten, schließlich zu Hunderttausenden.
Stasi erschwert Trauerarbeit
Winfried Freudenberg ist wenige Tage zuvor, am 24. April, in Lüttgenrode beigesetzt worden. „Auf tragische Weise verunglückt“, steht auf seinem Grabstein.
Sabine Freudenberg hat von ihrem Mann Abschied nehmen dürfen, von Mitarbeitern der Stasi auf Schritt und Tritt begleitet; sie wird wegen „versuchten Grenzdurchbruchs“ zu einer Bewährungsstrafe von drei Jahren verurteilt.
Die Staatssicherheit überwacht fortan das soziale Umfeld der Freudenbergs: Verwandte und Freunde, Bekannte und Kollegen. „Sie erschwerte damit den Hinterbliebenen, gemeinsam zu trauern und ihren Verlust zu verarbeiten“, sagt Buchautorin Caroline Labusch. „Das hat bis heute Spuren hinterlassen.“
Im Rahmen des Theaterprojekts „Der Ballon“ kamen Verwandte und Freunde von Winfried Freudenberg erstmals zusammen, ohne dass Mitarbeiter der Stasi anwesend waren. „Bei der Generalprobe hielt der Bruder eine bewegende Ansprache“, sagt Julian Klein, „eine Art Trauerrede, eine Rede, die er bei der Beisetzung nicht halten konnte.“
Die Berliner Mauer forderte in Winfried Freudenberg ihr letztes Todesopfer, andere Grenzabschnitte forderten weitere.
Jörg Martelok ertrinkt am 8. Mai bei dem Versuch, von Boltenhagen über die Lübecker Bucht nach Schleswig-Holstein zu schwimmen. Die Leiche des 19-Jährigen wird zwei Wochen später entdeckt.
Frank-André Bethmann wird am 15. Oktober am Oderufer auf Höhe des Grenzzeichens 532 im Kreis Seelow aufgefunden; er war ertrunken. Der 28-Jährige wollte über die Bonner Botschaft in Warschau in die Bundesrepublik gelangen.
Uwe Petras treibt am 29. Oktober am Grenzzeichen 453 nahe Eisenhüttenstadt ertrunken in der Oder.
Dietmar Pommer, der vermutlich mit Petras fliehen wollte, wird am 30. Oktober ganz in der Nähe geborgen; auch er war ertrunken. Der 23-Jährige gilt als letztes Todesopfer des DDR-Grenzregimes.
Sehnsucht nach Freiheit
Um 300.000 Menschen demonstrieren am selben Tag, es ist ein Montag, in Leipzig. Teilnehmer tragen Transparente mit Losungen wie „Brücken statt Mauer und Feindbild!“ und „Die Demokratie in ihrem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf!“ – in Anspielung von Honeckers Bemerkung „Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf!“ vom August 1989, einem geflügelten Wort der Berliner Sozialdemokratie aus dem 19. Jahrhundert.
Menschenleer sind der Erdmann-Graeser-Weg, die Goethe- und die Limastraße an diesem Vormittag. Wer hier wohnt, der dürfte keine Sorgen haben, zumindest keine materiellen. Um den Waldsee herum und darüber hinaus thronen nicht wenige Villen, manche prächtig, andere trutzig, alle unnahbar.
Winfried und Sabine Freudenberg ging es, wie so vielen, nicht um Wohlstand, als sie sich zur waghalsigen Flucht entschlossen. Es trieb sie die Sehnsucht nach Freiheit. Auf der Parkbank neben der Gedenkstele liegen zwei hellbraune Papiertütchen; darin befinden sich belegte Brötchen. Offenbar sind sie Hinterlassenschaften von Menschen, die vergessen haben, wie gut es ihnen geht. Oder die es nie gelernt haben.