Der Tag, an dem Boris Johnson sich geschlagen geben musste
Boris Johnson hat in den letzten Monaten viele Skandale überstanden. Nun war es einer zu viel. Es ist das Ende eines persönlichen und politischen Dramas.

Um 8.30 Uhr am Donnerstagmorgen war alles vorüber. Zu diesem Zeitpunkt meldete sich Boris Johnson telefonisch bei Sir Graham Brady, dem Koordinator und Interessensverwalter der konservativen Abgeordneten im Unterhaus.
In seinem Anruf teilte der Tory-Parteichef und britische Premierminister Brady mit, er sei zum Schluss gekommen, dass er seine Ämter abgeben müsse. Eine Misstrauensabstimmung sei nun nicht mehr nötig, meinte Johnson. Brady könne stattdessen, wenn er wolle, eine Neuwahl zum Parteivorsitz vorbereiten.
Genau vier Stunden später trat Johnson, ein geschlagener Mann, vor die berühmte schwarze Tür der Regierungszentrale. Außer seinen loyalsten Gefolgsleuten und Dutzenden von Mitarbeitern wartete schon seine Frau Carrie, rot bekleidet, gelassen lächelnd und mit Baby Romy im Tragetuch, vor der berühmtesten Fassade des Landes auf ihn.
Wie zu erwarten stand, hob Johnson in seiner Abtrittsrede all die Dinge hervor, die er sich immer als besondere Verdienste zugeschrieben hatte – seinen Wahlsieg von 2019, Brexit, die Impfkampagne gegen Covid, die vorbehaltlose Unterstützung der Ukraine. Den Großteil seiner Rede widmete er aber dem Unrecht, das ihm persönlich widerfahren war.
Dass eigene Verfehlungen ihn zu Fall gebracht haben könnten, war für ihn ausgeschlossen. Leider, erklärte er, sei es ihm nicht gelungen, seinen Kollegen begreiflich zu machen, „dass es echt exzentrisch sei, jetzt die Regierung auszuwechseln, wo wir so viel tun, ein so großes Mandat haben und tatsächlich nur ein paar wenige Prozentpunkte hinter der Opposition liegen“, während die wirtschaftliche Lage „so schwierig“ sei.
Die Rede markiert das Ende eines politischen und persönlichen Dramas
Er habe sich in den letzten Tagen keineswegs aus egoistischen Gründen so nachdrücklich dafür eingesetzt, diesen Auftrag selbst weiter erfüllen zu dürfen, „sondern weil ich das Gefühl hatte, dass es mein Job, meine Pflicht, meine Verantwortung war, das fortzusetzen, was wir 2019 versprochen hatten“, sagte er. Leider habe ihn die Fraktion daran gehindert: „Und wie wir gesehen haben, ist der Herdeninstinkt überaus mächtig. Wenn die Herde weiterzieht, dann zieht sie auch.“
Johnsons Farewell-Rede vor der Tür von No 10 markierte das Ende eines politischen und persönlichen Dramas, das im Urteil aller Beobachter in London beispiellos war, ein Schauspiel sondergleichen. 57 Mitglieder der Johnson-Regierung hatten binnen 36 Stunden den Rücktritt eingereicht, um den Regierungschef zum Aufgeben zu zwingen. So etwas hatte es in der britischen Geschichte noch nie gegeben. Aber Johnson hatte sich dem Druck eisern widersetzt.
Er schien bereit, ohne Regierung weiter zu regieren. Top-Minister, die ihn am Mittwochabend in der Regierungszentrale zum Rücktritt drängten, hatte er offenbar „Verräter am Volkswillen“ geschimpft. Er wolle, hatte er dem Parlament ja schon zuvor eröffnet, unbedingt „weitermachen“. Schließlich habe er von den Wählern „ein kolossales Mandat“ erhalten, für seinen Job.
Einen Minister, den Kommunalminister Michael Gove, feuerte Johnson noch am späten Mittwochabend für dessen Rolle bei der Revolte. Er soll Gove „eine Schlange“ genannt haben bei dieser Gelegenheit. Eine Nacht lang, in der der Regierungschef trotzig schwieg und sich Downing Street in einen regelrechten Bunker verwandelte, schwirrten die wildesten Gerüchte durch die Themsestadt.
Der Premier wolle womöglich demokratische Beschlüsse in seiner Partei ignorieren, spekulierten seine eigenen Parteigänger. Er wolle gar die Königin um Neuwahlen bitten, um alles durcheinander zu würfeln und sich über die Köpfe der Abgeordneten hinweg an „seine“ Wähler zu wenden, in der Hoffnung auf einen erneuten Triumph.
Letzteres schien, bei Lichte besehen, eine etwas kühne Hoffnung – angesichts neuester Umfragen, denen zufolge diese Woche bereits sieben von zehn Briten Johnsons Abgang forderten und auch die meisten Tory-Wähler keinen Sinn mehr sahen im Verbleib Johnsons in seinem Amt.
„Ein verzweifelter, verblendeter Premierminister krallt sich an die Macht“, überschrieb der Londoner Guardian am Donnerstag in großen Lettern seine Frontseite. Der Daily Mirror variierte spöttisch den alten Boris-Johnson-Slogan, mit dem dieser gefordert hatte, dass man den Brexit über die Bühne bringen müsse. Statt „Get Brexit done“ tönte das Blatt „Now get Exit done“, bring den Abgang endlich hinter dich.
Das hatten zuvor schon immer mehr Tories von Johnson gefordert. Begonnen hatte das letzte Kapitel der Johnson-Ära mit dem Rücktritt erst des Gesundheitsminister Sajid Javid und dann des Schatzkanzlers (Finanzministers) Rishi Sunak am Dienstagabend, in der Folge erneuter Aufregung um Irreführung und Lügen in Downing Street.
Flut von Kündigungsschreiben
Die beiden Rücktritte lösten eine Flut von „Kündigungsschreiben“ aus, die Staatssekretäre und Parlamentarische Privatsekretäre – Abgeordnete, die ebenfalls der Regierung zugerechnet werden – der Regierungszentrale im Anschluss, nach und nach, zukommen ließen. Es war eine Flut, die nicht mehr abreißen sollte, bis Johnson endlich die Konsequenzen zog.
Verwirrung löste zeitweise aus, dass außer Javid und Sunak anfangs kein anderer Top-Minister sich in die stetig wachsende Absetz-Bewegung einreihte. Das sei ja wohl nicht möglich, begründete stellvertretend für den Rest des Kabinetts Innenministerin Priti Patel, weil die Regierung sonst funktionsunfähig sei.
Sie müsse schon deshalb ihr Amt weiter versehen, erklärte Patel, weil es zum Beispiel zu einem „Angriff“ auf Großbritannien kommen könnte und dann die „nationale Sicherheit gefährdet“ wäre. Ähnlich argumentierte Verteidigungsminister Ben Wallace, mit Blick auf Russland und den Ukraine-Krieg.
Solches Pflichtbewusstsein hielt besorgte Ressortchefs freilich nicht davon ab, im Laufe des Dienstagabend gemeinsam in No 10 aufzumarschieren und dem dortigen Amtsinhaber die Pistole auf die Brust zu setzen – was dieser anfangs schlicht ignorierte, in der ihm eigenen Art. Besonders kurios war dabei, dass sich unter den „Kabinetts-Rebellen“ auch Nadhim Zahawi befand, den Johnson erst am Dienstagabend zu seinem neuen Schatzkanzler ernannt hatte, zur zentralen Figur in seinem Kabinett.
Statt sich als dankbar zu erweisen, forderte Zahawi Johnson ebenfalls zum Rücktritt auf, während er sich gleichzeitig darauf vorbereitete, zusammen mit dem Premier anderntags ein neues Wirtschaftsprogramm vorzustellen. „Bizarr ist gar kein Ausdruck“, schüttelte ein Kommentator den Kopf.
Für den Fall, dass der Druck der Minister nicht ausreichen würde, bereiteten Sir Graham Brady und aufmüpfige Hinterbänkler ihren eigenen, separaten Aufstand vor. Geplant wurde in aller Eile eine erneute Misstrauensabstimmung in der Fraktion gegen Johnson für kommenden Dienstag. Die erwies sich dann aber nicht mehr als nötig. Der Vorhang fiel schon vorher.
Sichtlich erleichtert waren die meisten Tories jedenfalls darüber, dass Boris Johnson, wenn auch erst nach bitterer Gegenwehr, kapituliert hatte. Johnson sei im Begriff gewesen, eine regelrechte Verfassungskrise auszulösen, war weithin zu hören in der Partei.
Durch Johnsons Verweis auf sein „kolossales Mandat“, durch sein Liebäugeln mit vorgezogenen Wahlen und durch seine angebliche Klage über „Betrug“ und „Verrat“ fühlten sich nicht wenige Briten ungut an einen anderen Politiker – an Donald Trump – erinnert, der Johnson einmal wohlwollend „Britanniens Trump“, den „kleinen Trump“ genannt hatte.
„Wahrhaft trumpisch“ habe sich der Premier am Ende aufgeführt, fanden Kritiker aus allen Lagern gestern. Die „Fixierung“ auf seinen Wahlsieg von 2019 sei „die wirkliche Quelle der Verblendung“ Boris Johnsons gewesen, formulierte es der prominente Kolumnist Paul Waugh. Dabei sei Großbritannien nicht einmal eine präsidentielle, sondern eine parlamentarische Demokratie: Maßgeblich sei nicht die Person des Premierministers, sondern das gewählte Parlament.
Erhebliches Maß an Ungewissheit
Ein erhebliches Maß an Ungewissheit schuf Johnson noch, als er sich schon zum Rücktritt bereit erklärt hatte. Er machte deutlich, dass er noch bis zum Herbst, bis zur Wahl eines Nachfolgers, im Amt zu bleiben hoffte. Um dies zu unterstreichen, füllte er zum Zeitpunkt seiner Rücktrittsankündigung schnell noch eine Reihe vakant gewordener Regierungsposten mit willigen Kandidaten.
Das sollte signalisieren, dass er noch auf Monate hin eine arbeitsfähige Regierung garantieren konnte – und dass er immer noch am Kontrollhebel saß. Genau das wollten aber, die seinen Rücktritt gefordert hatten, nicht mehr akzeptieren.
Sie bedrängten gestern Sir Graham Brady, für eine beschleunigte Neuwahl des Johnson-Nachfolgers zu sorgen. Da das britische Parlament sich in zwei Wochen in seine lange Sommerpause verabschiedet, soll schon bis dahin ein neuer Parteichef oder eine neue Parteichefin gewählt und, mit dem Siegel der Königin versehen, in No 10 installiert sein. Sollte das nicht möglich sein, soll – nach dem Willen vieler Abgeordneter – Vize-Premier Dominic Raab einspringen als geschäftsführender Premier.
Leicht wird es zweifellos nicht werden, die Wahl in Rekordzeit abzuhalten. Denn eine ganze Truppe ehrgeiziger Tory-Abgeordneter drängt sich schon am Start. Außer Favoriten wie Verteidigungsminister Wallace, Außenministerin Liz Truss, Ex-Schatzkanzler Rishi Sunak und einem halben Dutzend anderer kämen auch ein paar hochangesehene Ausschuss-Vorsitzende wie Tom Tugendhat oder Tobias Elliot vom gemäßigten Flügel der Partei infrage – aber denen hat Johnson alle ministerielle Erfahrung versagt.
Schnell lösen wollen die Konservativen ihr Personal-Problem nun auch, weil sich soziale und wirtschaftliche Probleme von enormer Dimension im Lande türmen. Mit beträchtlichem Verständnis verfolgten viele Briten in der „Nacht der Ungewissheit“, wie unschlüssig Larry, der No-10-Kater, vor der schwarzen Tür saß, die mehrfach einen Spalt breit geöffnet wurde für ihn.
„Im Augenblick mag uns alles sehr finster erscheinen“, waren ja die abschließenden Worte Boris Johnsons bei seiner Rücktrittsrede gewesen. Aber dank seiner drei Jahre in Downing Street werde „unsere gemeinsame Zukunft golden“ sein.
Ex-Tory-Premier Sir John Major wiederum warnte seine alte Partei davor, Johnson auch nur einen Tag länger im Amt zu belassen. Nach all dem, was passiert sei, wäre es „unklug“, den Mann nicht sofort aus dem Verkehr zu ziehen, sagte er.