Die EU erpresst Serbien, anstatt auf Diplomatie zu setzen: Ein Spiel mit dem Feuer?

Serbiens Präsident Vucic deutet einen Kurswechsel in seiner Kosovo-Politik an – auf Druck des Westens. Wird die Strategie gelingen? Ein Gastbeitrag.

Aleksandar Vucic, Präsident Serbiens
Aleksandar Vucic, Präsident SerbiensAndrej Isakovic/AFP

Bei einem Besuch bei Freunden in Bosnien und Herzegowina kurz nach dem Bürgerkrieg der 1990er-Jahre hörte ich eine neue Verfluchung, die sich zu jener Zeit etabliert hatte und die es zuvor so nicht gab. Sie lautete: „Ich wünsche dir, dass dein Haus auf CNN zu sehen sein wird!“

Der sarkastische Ausspruch evozierte nicht etwa einen erhofften touristischen Beitrag des bekannten amerikanischen TV-Senders über Land und Leute, sondern die verheerende Zerstörung, die der damalige Krieg über die Bevölkerung brachte und von Nachrichtenkanälen auf der ganzen Welt dokumentiert wurde. Neben der plötzlichen Aufmerksamkeit der Weltpresse für kroatische Kleinstädte, unscheinbare bosnische Ortschaften oder kosovarische Dörfer entwickelte die Region des ehemaligen Jugoslawiens auch einen Magnetismus für westliche Topdiplomaten.

Während der Kriegsjahre und auch danach defilierten diverse ausländische Abgesandte durch die jugoslawischen Nachfolgestaaten, um mit den Streitparteien mögliche Lösungen zu verhandeln. Einer der bekanntesten war sicherlich der US-Spitzendiplomat Richard Holbrooke, der als Architekt des Daytoner Friedensvertrages gilt, des Abkommens, das den blutigen Krieg in Bosnien und Herzegowina 1995 beendete.

Holbrooke war während der 1990er-Jahre zunächst Botschafter in Deutschland und später US-Sondergesandter für den Balkan. Um seine nächtlichen Verhandlungen mit dem serbischen Diktator Slobodan Milosevic ranken sich diverse Legenden. Aber wehe dem, für dessen Heimat Sondergesandte der mächtigen Staaten ernannt werden.

Ein Gedanke, den Serbiens Präsident Aleksandar Vucic und der Premierminister des Kosovos Albin Kurti, die beiden entscheidenden Player im scheinbar unendlichen Konflikt zwischen Serbien und Kosovo, vermutlich teilen. Ist es doch ein Indikator dafür, dass in ihrer Heimatregion etwas nicht stimmt – oder zumindest den Mächtigen missfällt. Wenn zwei sich zanken, muss der große Dritte schlichten. Wobei Kurti meistens die Gunst des westlichen Dritten genießt und von den mächtigen Streitschlichtern hofiert wird, während Vucic sich regelmäßig als Opfer der westlichen Machtpolitik stilisiert, dem das Diktat aus Brüssel (oder Washington, neuerdings auch Berlin) ein zunehmendes Grauen bereitet.

Vucics großer Nachteil: Er schleppt eine historische Last mit in die Verhandlungen aufgrund der serbischen Kriegsverbrechen während des Kosovo-Konflikts von 1999, die Serbien auch heute noch die Verteidigung seiner territorialen Integrität und Souveränität unmöglich macht.

Zur Erinnerung: Im Frühjahr 1999 bombardierte die Nato die Bundesrepublik Jugoslawien aufgrund von massiven Gräueltaten und Kriegsverbrechen der serbischen Exekutive an der albanischen Zivilbevölkerung im Kosovo. Der Nato-Einsatz gilt als rechtlich höchst umstritten, weil er ohne UN-Mandat durchgeführt wurde und somit der völkerrechtliche Rahmen fehlte. Dennoch wird er von den meisten westlichen Analytikern als legitime Intervention gedeutet, da dadurch ein Genozid an der albanischen Bevölkerung verhindert wurde. Die serbischen Truppen mussten sich zurückziehen und das Kosovo wurde zunächst von einer UN-Mission verwaltet, bis es schließlich 2008 seine Unabhängigkeit erklärte.

Um diese Unabhängigkeit geht es auch fast ein Vierteljahrhundert später noch. Serbien erkennt die Eigenstaatlichkeit des Kosovos weiterhin nicht an. Das macht eine Aufnahme in die entscheidenden internationalen Organisationen für das Kosovo unmöglich. Bei den Vereinten Nationen blockieren China und Russland im Sicherheitsrat für Serbien, und auch in der EU gibt es fünf Staaten, die das Kosovo nicht anerkennen und eine Mitgliedschaft im Brüsseler Klub verhindern würden, solange die kosovarische Staatlichkeit nicht von Belgrad akzeptiert wird.

Deutsch-französischer Plan

Am vergangenen Freitag war es also wieder so weit. Kurti und Vucic erwarteten hohen Besuch der westlichen Unterhändler. Auf dem Terminkalender der beiden standen Gabriel Escobar (Sondergesandter der USA), Miroslav Lajcak (Sondergesandter der EU), Emmanuel Bonne, Jens Plettner und Francesco Talo (Emissäre des französischen Präsidenten, des deutschen Bundeskanzlers und der italienischen Ministerpräsidentin). Die Bazooka der Diplomatie sozusagen, die sich in Pristina und Belgrad angekündigt hatte.

Zur Verhandlung – oder zur Vorlage – stand ein inoffizieller deutsch-französischer Plan, den die beiden Kontrahenten zu akzeptieren haben. Bei Nichtzustimmung drohen ernsthafte Konsequenzen. Zumindest für eine Seite, wenn man dem serbischen Präsidenten glauben mag. Obwohl der deutsch-französische Plan der Öffentlichkeit offiziell nach wie vor nicht vorliegt, sind die wesentlichen Eckpunkte medial durchgesickert. Kurti soll den bereits 2013 im Brüsseler Abkommen vereinbarten serbischen Gemeindeverband im Nordkosovo endlich zulassen. Vucic muss dafür seine Blockadehaltung gegenüber der Aufnahme des Kosovos in internationale Organisationen aufgeben.

Eine gegenseitige De-jure-Anerkennung wird ausgeklammert. Der Plan ist inspiriert vom deutsch-deutschen Grundlagenvertrag von 1972 zwischen der BRD und der DDR. Besonders brisant für Serbien ist, dass der Plan angeblich auch von den EU-Staaten unterstützt wird, die das Kosovo bisher nicht anerkannt haben.

Harte Konsequenzen drohen

Die Verhandlungen zwischen den Vertretern Serbiens und Kosovos, geführt unter der Schirmherrschaft der EU (Brüsseler Dialog), strecken sich mittlerweile über eine Dekade. Ohne nennenswerten Progress. Vucic und Kurti werden in aller Regelmäßigkeit nach Brüssel zitiert oder empfangen eben die westlichen Abgesandten in ihren Hauptstädten. Zynisch könnte man das Ganze als eine gewaltige Kerosinverschwendung beschreiben. Deshalb haben die westlichen Vermittler allem Anschein nach genug und wollen endlich Fortschritte sehen. Mit dem Ukraine-Krieg haben sich außerdem die geopolitischen Umstände verändert.

Die EU möchte keinen eingefrorenen Konflikt in ihrem Hinterhof dulden, der sich jederzeit verschärfen kann – zuletzt gesehen im vergangenen Dezember. Vucic sagte in einer Pressekonferenz Anfang der Woche, dass bei Nichtkooperation die Einstellung der EU-Beitrittsverhandlungen drohe. Eine relativ leere Drohung für die meisten Serben, da die Beitrittsverhandlungen sowieso stocken und gefühlt seit einer Ewigkeit keine neuen Cluster eröffnet wurden. Ohnehin ist die Stimmung in Serbien in den vergangenen Jahren gekippt und eine knappe Mehrheit der Menschen lehnt einen Betritt zur EU eher ab.

Was es aber in sich hat, ist die zweite Unheilverkündung: Bei Ablehnung des deutsch-französischen Plans drohe Serbien neben dem Entzug der Visa-Liberalisierung eine Einstellung und der Abzug aller westlichen Wirtschaftsinvestitionen! Ähnlich wie es in Russland geschehen ist, zu Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine. Also nichts Geringeres als eine komplette Isolation und die Zerstörung der mühsam wiederaufgebauten Wirtschaftskraft, die stark auf die EU ausgerichtet ist. Vor allem Deutschland hat sich in den Vucic-Jahren zum führenden Wirtschaftspartner Serbiens gemausert.

Deutsche Unternehmen investieren immer mehr in Serbien und beschäftigen mittlerweile über 80.000 Menschen. Ein Abzug der deutschen und europäischen Firmen würde die serbische Volkswirtschaft also regelrecht dezimieren. Eine Visapflicht für die EU und damit einhergehende Reiseeinschränkungen wären für Serbien ebenfalls ein herber Schlag.

Vucic deutet Kurswechsel an

Anfang des Monats forderte Ulrich Ladurner in der Zeit „Härte gegen Serbien“. Sein Artikel schaffte es sogar in die Neujahrsansprache des serbischen Präsidenten, wo er genau so rezipiert wurde, wie der Autor es angeblich nicht gemeint hatte: imperialistisch. Seine Forderungen werden jetzt von der Politik erfüllt. Mehr Härte geht nicht – es sei denn, jemand schlägt wieder eine Bombardierung vor.

Ob diese Härte zum Erfolg führt und sich tatsächlich Veränderungen in der serbischen Kosovo-Politik abzeichnen, bleibt abzuwarten. Erste Zeichen sprechen in der Tat dafür, dass sich etwas bewegt. Serbische Medien spekulierten in den vergangenen Tagen, dass Vucic nach den Gesprächen mit den westlichen Diplomaten parteiintern seine Zustimmung zum deutsch-französischen Plan angedeutet hätte. Sollte ihm seine regierende Serbische Fortschrittspartei (SNS) dabei nicht folgen, stünde sein Rücktritt bevor. Konkret ließ der Präsident auf einer Pressekonferenz am vergangenen Montag verlauten, dass er in den kommenden Wochen einen Dialog über den deutsch-französischen Plan mit allen gesellschaftlichen Akteuren des Landes führen möchte: der Opposition, der Kirche und allen relevanten zivilgesellschaftlichen Vertretern. Sogar von einem möglichen Referendum war die Rede.

Erpressung mit Risiken

Die Wahrscheinlichkeit, dass sich von serbischer Seite etwas verändert, scheint also nicht unrealistisch. Die angedrohten Konsequenzen und deren erpresserischer Charakter haben beim serbischen Präsidenten auf jeden Fall Wirkung gezeigt. Wer würde sich nicht bewegen, wenn seine Lebensgrundlage auf dem Spiel steht? Härte und Machtpolitik wirken also tatsächlich? Vielleicht. Gefährlich kann es trotzdem werden. Sollte Vucic den deutsch-französischen Plan akzeptieren, könnte das sein politisches Ende einleiten.

Wenn ihn die Kosovo-Frage zu Fall bringt, wird seine Ablösung sicherlich keine prowestliche Option sein. In der serbischen Opposition sitzen rechte Hardliner, die nur darauf warten, die ganze Region ins Chaos zu stürzen. Man kann von Vucic denken, was man will. Die Beschreibung gemäßigter Autokrat trifft es wohl am besten. Allem voran ist er aber Pragmatiker, mit dem die EU über die letzten zehn Jahre, vor allem durch Angela Merkel, einen verlässlichen Austausch aufgebaut hat. Einer möglichen klerofaschistischen Regierung in Serbien ist er auf jeden Fall vorzuziehen.

Eine weitere Gefahr besteht darin, wenn der Plan seitens Serbiens abgelehnt wird und die westlichen Drohungen realisiert werden. Die serbische Wirtschaft würde kollabieren und wahrscheinlich die zunehmenden Verflechtungen mit China weiter intensivieren. China könnte sein direktes Einfallstor auf dem europäischen Kontinent weiter festigen, was in der Zukunft sicherlich auch geostrategische Bedeutung hätte. Eine Einflussnahme auf Serbien seitens der EU wäre nicht länger gegeben. Eine Destabilisierung des größten
Westbalkanlandes hätte natürlich auch massive Konsequenzen für die Nachbarländer, vor allem diejenigen mit einer bedeutenden serbischen Minderheit, wie Montenegro und Bosnien und Herzegowina.

Was ist mit Albin Kurti?

Aber lassen wir die Schwarzmalerei und gehen mal davon aus, dass der Plan gelingt. Serbien beendet seine Blockade ohne interne Verwerfungen, das Kosovo wird Mitglied der UN und erhält eine konkrete EU-Perspektive. Der kosovarische Staat hätte weiterhin das Problem mit seiner serbischen Minderheit, die im Norden des Landes homogen vertreten ist und sich selbst als Teil Serbiens sieht. Eine Minderheit, die oft kollektiv von Premierminister Kurti, aber auch in deutschen Medien als Terroristen und Kriminelle bezeichnet wird.

Die Unruhen und Barrikaden im letzten Dezember erfolgten aufgrund von verwehrten Autonomierechten und Repressalien seitens der kosovarischen Regierung. Immer wieder werden Serben festgenommen, die angeblich Kriminelle sind. Außerdem durften die Serben unter Kurti nicht an serbischen Wahlen teilnehmen, ihr Kirchenoberhaupt wurde im Januar zum orthodoxen Weihnachtsfest nicht ins Land gelassen, und generell steigt die Zahl der Gewalttaten an Minderheiten, seit Albin Kurti im Amt ist.

Das bereits angesprochene Brüsseler Abkommen von 2013, das Kurtis Vorgänger unterschrieben haben und in dem die Gründung eines serbischen Gemeindeverbandes mit weitreichenden Autonomierechten vorgesehen ist, wird seit zehn Jahren von Pristina blockiert. Zuletzt erklärten über dreitausend Serben ihren kollektiven Rücktritt aus den Institutionen des Kosovos. Lokalpolitiker, Polizisten, Richter und Beamte legten ihre Ämter aus Protest nieder. Sind das wirklich alles Kriminelle? Unwahrscheinlich. Druck der EU verspürte der Premierminister bisher kaum.

Das könnte sich jetzt aber auch ändern. Vor allem die Amerikaner wollen durchsetzen, was von der EU weitestgehend ignoriert wurde. Den Ankündigungen nach dürfte also auch für Albin Kurti ein neuer Westwind wehen, vor allem aus Washington. Eines ist sicher: An einem dauerhaft eingefrorenen Konflikt können beide Seiten kein Interesse haben. Ob wir uns einer Lösung durch die härtere Herangehensweise der westlichen Karrierediplomaten tatsächlich nähern, wird die Zukunft zeigen. Schön wäre es allemal, wenn der Westbalkan irgendwann mal ohne Sondergesandte auskommt und die Weltpresse tatsächlich nur noch touristische Land-und-Leute-Berichte aus der Region publiziert.

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