Die Ozeane: Big Player im Klimasystem, den wir unterschätzen
Ist ab 2050, wenn die meisten Länder klimaneutral sein wollen, alles wieder gut? Natürlich nicht. Es muss ein Krisenbewusstsein her. Ein Gastbeitrag.

Wir kaufen auf Kredit: die Waschmaschine, das Reihenhaus, die Fernreise – und das Auto wird geleast. Das Sofort-haben-Wollen und erst später dafür zu bezahlen sind tief verankerte Selbstverständlichkeit in den westlichen Gesellschaften geworden. Nicht ganz grundlos, denn die Kreditvergabe ist das Ursprünglichste unseres Wirtschaftssystems. Ein Leben auf Pump, das war vor 50 Jahren vielleicht noch etwas Anrüchiges, heute stößt sich daran niemand mehr. Im Gegenteil: Wer nicht im Jetzt lebt, der verpasst das Leben! Es ist deshalb kaum verwunderlich, wenn wir uns bei der Klimakrise ganz ähnlich verhalten. Nur ist das nicht besonders klug.
Wenn über den Klimawandel gesprochen wird, sehen Politik und Medien kaum über die nächsten 20 Jahre hinaus. Tatsächlich sind solche Betrachtungszeiträume für globale Ereignisse, und um diese verstehen zu können, viel zu kurz. 1972 blickte der Club of Rome mit „Die Grenzen des Wachstums“ immerhin schon bis ins Jahr 2000. Springen wir also ebenfalls einmal 30 Jahre in die Zukunft. Was passiert nach 2050?
Die EU und USA haben sich verpflichtet bis zu diesem Jahr klimaneutral zu sein, China will 10 Jahre später so weit sein. Viele ahnen es, das wird etwas spät sein, aber trotzdem klingt es so, als ob in der zweiten Jahrhunderthälfte die (Klima-)Welt wieder in Ordnung ist oder zumindest es mit jedem Jahr besser werden wird (wenn auf dem Weg dorthin nicht allzu viele Kipppunkte, also unberechenbare Kettenreaktionen im Klimasystem, ausgelöst wurden). Doch die Wahrheit ist eine andere.
CO₂ aus der Luft zu holen, ist teuer
Wie viel Zeit verbringt so ein CO₂-Molekül eigentlich in der Atmosphäre? Also wie lange wirkt unser vergangenes Handeln noch nach, selbst wenn die Menschheit es geschafft haben sollte, kein CO₂ mehr auszustoßen? Fünf Jahre, zehn Jahre? Die Antwort deprimiert.
Modellrechnungen offenbaren, dass selbst nach 1000 Jahren immer noch mehr CO₂ in der Atmosphäre sein wird als in der vorindustriellen Zeit. Allerdings nimmt die Konzentration am Anfang, kurz nachdem die Menschheit kein CO₂ mehr emittiert, schneller ab. Nach 50 Jahren sind es nach den Berechnungen 25 Prozent weniger CO₂, nach 100 Jahren wären nur noch 40 Prozent der Klimagase in der Atmosphäre vorhanden.
Noch immer viel? Tja, leider verändern sich globale Effekte nicht passend zum Zeitgefühl von uns Menschen. Deshalb bedroht uns auch erst jetzt der Klimawandel, obwohl wir schon seit über 170 Jahren vermehrt CO₂ freisetzen. Bei diesen Modellrechnungen wird von der natürlichen Abnahme ausgegangen, also wie viel durch die Aufnahme der Natur gebunden werden kann. Die Menge an CO₂-Molekülen, die Pflanzen und Ozeane aufnehmen können, ist aber begrenzt und nimmt mit zunehmenden „CO₂-Druck“ ab.
Der Mensch könnte diesem natürlichen Prozess ja nachhelfen – und das will er auch. Direct Air Capture (DAC) nennt sich das Verfahren, bei dem Umgebungsluft durch einen Abscheider, wie ein flüssiges Lösungsmittel oder Natriumhydroxid, strömt. Klingt nach einer guten Idee. Die Kosten des Verfahrens, vor allem wegen dem enorm hohen Stromverbrauch, sind aber alles andere als gering.
Etwa 500 US-Dollar kostet eine aus der Luft gewaschene Tonne CO₂. Das größte Problem dabei: Wer trägt diese Kosten? Die Unternehmen, die für die Freisetzung von CO₂ – auch schon vor Jahrzehnten von ihnen freigesetztes CO₂ – verantwortlich sind, oder die Bürger, also die weltweite Staatengemeinschaft? 18,6 Billionen Dollar wären es beispielsweise, würde das CO₂ aus dem Jahr 2021 mittels DAC aus der Luft gewaschen. 18,6 Billionen für nur ein Jahr! Zum Vergleich: Der Haushalt der Uno, der durch die Mitgliedsstaaten getragen wird, betrug 2022 gerade einmal 3,25 Milliarden Dollar.
Die Ozeane verlangsamen den Klimawandel
Sich größtenteils auf dieses Verfahren zu verlassen, ist also nur bedingt zielführend. Aber auch aus einem anderen Grund ist es wenig ratsam, irgendwann einmal alle Hoffnungen auf diesen atmosphärischen Staubsauger zu setzen. Denn es gibt im planetaren System einen gigantischen Gegenspieler, der viel zu oft unbeachtet wird, jedoch sämtliche Einflussnahme der Menschen nur als drollig erscheinen lässt.
Das Weltmeer, die fünf Ozeane, diese kaum zu begreifende riesige Wassermenge, die zu 71 Prozent unseren Planeten bedeckt. Denn selbst wenn wir 2060 wirklich weltweit keine zusätzlichen Klimagase mehr ausstoßen sollten und keine größeren Kipppunkte ausgelöst haben; wenn das DAC-Verfahren in großem Maßstab eingesetzt würde, um das schon ausgestoßene CO₂ wieder aus der Atmosphäre zu holen; oder das CO₂ abzuscheiden, welches wir nicht vermeiden können, beispielsweise bei der Betonherstellung; wenn wir die Erderwärmung unter zwei Grad gestoppt haben; ja wenn wir all das tatsächlich geschafft hätten und das CO₂ in der Atmosphäre sich drastisch reduzieren würde, vielleicht sich sogar mit Riesenschritten dem vorindustriellen Wert von 280 ppm annähert, dann würde die Erdtemperatur in den nächsten Jahrzehnten trotzdem kaum sinken.
Klingt verrückt. Doch je nach erreichter Erderwärmung würde die Temperatur nur um 0,2 bis 0,3 Grad in 100 Jahren fallen. Und das ist nur der Mittelwert einiger Simulationen, wie sie das Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung (PIK) zusammengetragen hat. In manchen dieser Simulationen steigt die Erderwärmung auch kräftig an, obwohl kein neues CO₂ freigesetzt wird! Jedoch fällt in keiner Simulation die Erderwärmung parallel zur CO₂-Reduktion.
Woran liegt das nur? Den allergrößten Teil der zusätzlichen Wärmeenergie der letzten Jahrzehnte und entstanden durch den Treibhauseffekt haben die Ozeane aufgenommen. Ab 1971 waren es mehr als 90 Prozent. Durch ihre hohe Kapazität, Wärme aufzunehmen, sind die Ozeane ein gigantischer Wärmespeicher, der dafür verantwortlich ist, dass das Klima in den letzten Jahren sich nicht so schnell erwärmt hat, wie es eigentlich nach der Menge an ausgestoßenen Klimagasen hätte tun müssen. Die Ozeane verlangsamen also derzeit den Klimawandel stark.
Die kommenden Temperaturen
Was uns bisher unerwartet viel Zeit verschafft hat, dreht sich ab einer angenommenen Klimaneutralität nun ins Gegenteil. Die Ozeane verlangsamen das Zurückgehen der Erdtemperatur. Weitgehend alle Simulationen zeigen das gleiche Bild: Nach einem kleinen Temperaturabfall von ein paar Zehntelgrad bleibt die Temperatur über Hunderte von Jahren konstant (hoch). Ein Zurückgehen auf einen vorindustriellen Stand wird auch nach Tausenden von Jahren nicht erreicht. Leider dürfte diesmal kein technisches Hilfswerkzeug bereitstehen, welches die Ozeane einfach wieder abkühlt. Ein solches Kühlgerät würde unvorstellbar viel Strom verbrauchen, um die 1386 Trillionen Liter Wasser in den Ozeanen wieder kälter werden zu lassen.
Ist deshalb alles verloren? Nein, oder besser: gerade noch nicht. Aber die Vorstellung, die bei vielen Industriebossen und auch gerne bei technikverliebten Parteimitgliedern vorherrscht, dass nach (kurzfristigem) deutlichen Überschreiten der angepeilten, im Pariser Klimaabkommen beschlossenen zwei Grad, die Kreativität der Menschheit eine Wundermaschine hervorbringt, die die Erdtemperatur wieder senken lässt, von diesem gefährlichen Trugschluss sollten wir uns schnellstens verabschieden. Denn etwas vergröbert ausgedrückt heißt das: Die Temperatur, die die Menschheit bei Klimaneutralität erreichen wird, ob nun vor oder nach ausgelösten Kipppunkten, die wird abzüglich ein paar Zehntelgrad die Temperatur auf der Erde sein, die über Jahrtausende herrschen wird.
Zeit für den Krisenmodus
Die derzeit junge Generation besitzt also jeden Grund, sich aufzulehnen gegen die ältere, die ihr nicht nur eine riesige Aufgabenlast aufbürdet, sondern auch dringend notwendiges Handeln, durch Politik, Industrie und Gesellschaft, verweigert. Denn alle bisherigen Klimaschutz-Anstrengungen zeigen deutlich nach über zwei Grad Erderwärmung. Ein Katastrophenszenario, welches einige Kipppunkte auslösen wird und wegen der Wärmeaufnahme der Ozeane nicht oder nur kaum jemals rückgängig gemacht werden kann.
Wenn die „Letzte Generation“ tatsächlich die erste Generation sein soll, die in einer klimafreundlichen Welt leben wird, wie es Bundespräsident Steinmeier in seiner Weihnachtsansprache sich erhofft, dann müssen die Anstrengungen um eine Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad viel deutlicher und vor allem sofort gesteigert werden. Die Politik und die Medien müssen anfangen, den Menschen auch diese Wahrheit zu sagen.
Der Druck auf die Industrie, nur noch klimafreundliche Produkte anzubieten, muss um einiges erhöht werden. Wir müssen in einen Krisenmodus wechseln, wie ihn beispielsweise schon seit langem Fridays for Future einfordert. Denn in einer Krise gelingt uns in kurzer Zeit bedeutend mehr (wie die Corona-Pandemie gezeigt hat).
Wir müssen Gesetze ernst nehmen, wie das Grundgesetz („Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen“), und neue Gesetze erschaffen, die die bestrafen, die sich nicht ausreichend klimaschützend verhalten. Vor allem aber müssen wir unser lang antrainiertes Verhalten, auf Pump zu leben, endlich beim Klimaschutz beenden. Denn diesen Kredit wird sonst niemand zurückzahlen können. Weder die jungen Menschen von heute noch alle nach ihnen geborenen. Die Erde würde stattdessen mit all ihren Bewohnern einfach nur noch Konkurs anmelden können.
Anmerkung: Der Artikel ist vom Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung gegengelesen und alle gemachten Aussagen sind bestätigt worden.