Magdeburg-„Ich möchte erfahren, warum der Attentäter Stephan Balliet zum Mörder geworden ist“, sagt Max Privorotzki. „Ich will verstehen, wann so ein Punkt erreicht ist und wie es dazu kommt, dass ein Mensch bereit ist, zu töten.“ Privorotzki ist Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde von Halle und sitzt seit einigen Wochen häufig als Nebenkläger in einem Magdeburger Gerichtssaal, wo dem 29-jährigen Balliet der Prozess gemacht wird. Weil er am 9. Oktober vergangenen Jahres versucht hatte, die Hallesche Synagoge zu überfallen, um Privorotzki und andere Juden zu töten, die dort den Feiertag Jom Kippur begingen. In der Folge des gescheiterten Überfalls tötete er zwei Menschen und verletzte ein Ehepaar mit Schüssen schwer.
Dieselben Fragen wie Max Privorotzki stellen sich gut 400 Kilometer südwestlich von Magdeburg, in Frankfurt am Main, auch die Angehörigen des ermordeten CDU-Politikers Walter Lübcke. Parallel zu dem Verfahren in Sachsen-Anhalt läuft dort der Prozess gegen Stephan Ernst, der Lübcke in der Nacht zum 2. Juni 2019 mit einem Kopfschuss aus nächster Nähe regelrecht hingerichtet hatte. Zwei Mörder, die aus rechtsextremistischen Motiven handelten, getrieben von Hass und Menschenverachtung. Was sind das für Menschen, wie ticken rechte Terroristen wie Balliet und Ernst? Antworten darauf liefern unter anderem die psychiatrischen Gutachten der Angeklagten, die kürzlich in beiden Prozessen von einem Sachverständigen vorgetragen wurden. Der Zufall wollte es, dass beide Angeklagten von demselben Experten begutachtet worden sind: Norbert Leygraf, Direktor des Instituts für forensische Psychiatrie in Essen. Ein Vergleich der Gutachten zeigt auffällige psychische Gemeinsamkeiten der Täter, aber auch Unterschiede auf.
Der Halle-Attentäter Balliet ist dem psychiatrischen Gutachten zufolge von durchschnittlicher Intelligenz und weist bei persönlichkeitsbestimmenden Parametern wie Depressivität, Paranoia und Narzissmus überdurchschnittliche Werte auf. Balliet, der sich in Vernehmungen selbst als unsoziales Wesen ohne Freunde und Freundin beschrieb, wird vom Sachverständigen als eine selbstbezogene Person bezeichnet, die von den eigenen Wertvorstellungen überzeugt ist und sich anderen Menschen überlegen fühlt. Zudem ist er verschlossen und pessimistisch, im zwischenmenschlichen Umgang empfindet er Unsicherheit, Misstrauen und Feindseligkeit.
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Auch Ernst wird im Gutachten als eher zurückhaltender Einzelgänger charakterisiert, der kaum engere Freunde hat und wenig auf die Gefühle anderer achtet. Nach außen wirke er emotional kühl, wenig empathisch. Innerlich sei er aber verletzlich. Kränkungen könne er für lange Zeit nicht vergessen. Sein Leben hat Ernst dem Gutachten zufolge „zweispurig“ geführt: Zum einen baute er sich nach seiner ersten Freiheitsstrafe wegen eines Messerangriffs auf einen Ausländer in den 1990er Jahren ein bürgerliches Leben auf, wurde zweifacher Familienvater und ein „geschätzter Arbeitskollege“. Gleichzeitig bewegte er sich aktiv in der rechtsradikalen und gewaltbereiten Szene Hessens. Heimlich legte er sich überdies ein großes Waffenlager an, um sich auf einen angeblich bevorstehenden Bürgerkrieg vorzubereiten.
Im Ergebnis bescheinigt Leygraf sowohl Balliet als auch Ernst volle Schuldfähigkeit. Es lägen bei beiden keine Hinweise auf eine psychische Erkrankung wie eine manische Psychose oder hirnorganische Schäden vor. Zwar hatte der heute 47-jährige Ernst vor elf Jahren an Angstattacken gelitten und damals eine Psychotherapie absolviert; zum Zeitpunkt seiner mutmaßlichen Taten habe jedoch keine krankhafte, seelische Störung mit Einfluss auf seine Schuldfähigkeit vorgelegen, stellte Leygraf fest. Auch der Umstand, dass Ernst schizoide Persönlichkeitszüge aufweise, bedeute nicht, dass bei ihm eine Persönlichkeitsstörung vorliege.
Bei Stephan Balliet hingegen diagnostizierte Leygraf eine komplexe Persönlichkeitsstörung mit schizoiden und paranoiden Anteilen sowie Autismusmerkmalen. Diese Störung, die Merkmale einer schweren seelischen Abartigkeit habe, äußere sich etwa in seiner Unfähigkeit, sich in andere Menschen einzufühlen, in seiner gefühlskalten und emotionslosen Art sowie seinem Unvermögen einer partnerschaftlichen Lebensgestaltung. Dennoch habe die seelische Abartigkeit nicht sein exekutives Steuerungsvermögen und damit auch nicht die Schuldfähigkeit des Angeklagten beeinträchtigt.
Obwohl Balliet von Verschwörungsphantasien überzeugt sei, liege kein krankhafter Wahn bei ihm vor, stellte Leygraf klar. Auch Ernst habe nicht aus einem Wahn heraus gehandelt. Dessen Mord an Walter Lübcke stehe vielmehr in „direktem Zusammenhang“ mit der fest verwurzelten rechtsextremen Einstellung des Täters. Dieses Verneinen eines Wahns bedeutet, dass sich beide Täter nicht als „Auserwählte“ gesehen haben, die einer vermeintlich höheren Bestimmung folgen. Vielmehr gingen sie davon aus, in ihrem jeweiligen sozio-kulturellen Umfeld – bei Ernst dessen rechte Freunde, bei Balliet dessen Internet-Chatpartner – Gleichgesinnte zu haben, die ihre Überzeugungen teilen und ihre Handlungen befürworten.
Leygrafs Fazits in beiden Gutachten ähneln sich: Weder bei Ernst noch bei Balliet könne er Hinweise auf eine mögliche Änderung von Einstellungen und Verhaltensdispositionen erkennen. Auch Reue über die begangenen Morde sei nicht zu spüren. Balliet habe in den Gesprächen kein Bedauern über die Tötung der beiden Opfer gezeigt, sie als „Kollateralschaden“ im Kampf für die Interessen des weißen Mannes abgetan.
Ernst habe seinen Mord in den Vernehmungen zwar als „unverzeihlich“ bezeichnet, dabei aber aus Leygrafs Sicht nur eine „geringe affektive Beteiligung“ gezeigt, weshalb er keine authentische Reue bei ihm erkennen könne. Vielmehr sei bei Ernst der Hass auf Ausländer, die rechtsradikale Ideologie und der Hang zu schweren Straftaten seit der Jugend „tief eingeschliffen“ und damit Teil seiner Persönlichkeit geworden.
Bei beiden Angeklagten ist sich Leygraf daher sicher, dass ihr ausgeprägter Hang zur Gewalt sie auch zukünftig schwere Straftaten begehen lassen würde. Für die Gerichte in Magdeburg und Frankfurt ist diese Einschätzung von großer Bedeutung, wenn sie über eine mögliche Sicherungsverwahrung im Anschluss an eine Freiheitsstrafe entscheiden müssen.