Berlin-Früher war auch nicht alles besser. Die Grünen-Politikerin Renate Künast ist seit Jahrzehnten in der Politik und hat von Anfang an mit Beleidigungen und auch Drohungen leben müssen. Aber damals waren es einzelne Briefe, die ihr die Leute schrieben. „Heute ist es so, dass die neuen Kommunikationsformen in den sogenannten sozialen Medien derartig verroht sind, dass einem die Haare zu Berge stehen.“ Das erklärte Künast am Dienstagmorgen im Interview mit dem Inforadio.

Der Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) hat in einer Umfrage ermittelt, dass mehr als 90 Prozent der Berliner Politiker schon mal beschimpft wurden. Mehr als die Hälfte erleben Beschimpfungen und Beleidigungen täglich. Befragt wurden Parlamentarier des Abgeordnetenhauses, die Berliner Abgeordneten im Bundestag, alle Bezirksbürgermeister und die Mitglieder des Senats.
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Laut Richter ist „Drecks Fotze“ hinnehmbar
Renate Künast hat sich kürzlich juristisch gegen Beleidigungen im Internet gewehrt – und blitzte vor Gericht ab. Im September entschied das Landgericht Berlin, dass Künast Beschimpfungen wie „Drecks Fotze“ und Ähnliches hinnehmen müsse. Sie seien, so die Richter, noch an der Grenze des Hinnehmbaren. Künast hat gegen dieses Urteil Beschwerde eingelegt.
Beleidigungen sind das eine, Bedrohungen das andere. Künasts Parteikollegin Monika Herrmann, Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg, hatte zeitweilig Personenschutz, musste sogar aus Sicherheitsgründen eine Weile außerhalb des Bezirkes wohnen. Die Beleidigungen hätten sie am Anfang sehr irritiert und auch angeekelt, sagte sie dem RBB: „Aber man gewöhnt sich tatsächlich daran, das muss ich zugeben.“ In jedem Fall versuche sie, sich nicht einschüchtern zu lassen.
„Es muss Strafverfolgung geben, bis hin zur Konzentration und Spezialisierung von Staatsanwälten, damit sie die Netzwerke dahinter kennen.“
So geht es auch den Kolleginnen und Kollegen der Berliner Bezirksbürgermeisterin in anderen deutschen Kommunen. Gerade auf dem Land wird es mittlerweile immer schwieriger, Menschen zu finden, die bereit sind, oft ehrenamtlich und mit hohem zeitlichen Aufwand in die Lokalpolitik zu gehen.
Als 2015 der ehrenamtliche Bürgermeister von Tröglitz zurücktrat, weil er seiner Familie die Bedrohungen von Rechtsextremen nicht länger zumuten wollte, gab es viel Betroffenheit. Gleichzeitig wurde darauf verwiesen, dass es sich hier um einen Einzelfall handele. Mittlerweile gibt es viele Beispiele. Und den Schock vom Juni dieses Jahres, als der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke vor seinem Wohnhaus durch einen Kopfschuss getötet wurde.
In Berlin: Opfer aus allen politischen Lagern
Der Städte- und Gemeindebund hat erhoben, dass 40 Prozent aller kommunalen Amtsträger schon einmal bedroht wurden.
Die Zahlen sind alarmierend. Der Deutsche Städtetag berichtet von derzeit etwa drei politisch motivierten Straftaten – pro Tag, verübt insbesondere gegen kommunal Verantwortliche. Die Zahlen aus den Bundesländern zeigen für 2019 fast überall einen Anstieg gegenüber den Vorjahren.
In Berlin wurden Stand November schon 159 Delikte gezählt, im ganzen Jahr 2018 waren es 143. In der Hauptstadt wird die Parteiangehörigkeit der Opfer in die Statistik aufgenommen. Zumindest für Berlin zeigt sich, das sie aus allen politischen Lagern stammen.