Diversität: Es braucht keine gesetzlichen Quoten, sondern die „kritische Masse“

Menschen ohne Diskriminierungserfahrung schreiben über Migrant:innen oder queere Menschen: Der Journalismus braucht mehr Lebensrealität im Redaktionsalltag.

Rund jede zweite Person in Berlin-Neukölln hat einen Migrationshintergrund. Doch deren Lebensrealität kommt in der Berichterstattung selten vor.
Rund jede zweite Person in Berlin-Neukölln hat einen Migrationshintergrund. Doch deren Lebensrealität kommt in der Berichterstattung selten vor.imago

Die Berichterstattung über Minderheiten in deutschen Medien krankt an einem Problem, das eng mit Strukturdefiziten in Verlagen und Funkhäusern zusammenhängt: Diejenigen, die über Migrant:innen, queere Menschen oder solche mit Behinderungen schreiben, wissen von deren Lebenswirklichkeit nicht genug. Dabei bemühen sich fast alle Medien längst um mehr Vielfalt: So ist mittlerweile jede zweite Volontär:in weiblich. Doch irgendwo auf dem Weg zur Führungsetage verflüchtigt sich die Diversität, erklärt mir Konstantina Vassiliou-Enz. Die Journalistin verfolgt mit der Initiative Neue Medienmacher das Ziel, Vielfalt in Medienhäusern zu fördern.

In einem Handbuch, ursprünglich für Chefredaktionen gedacht, bündelten die Neuen Medienmacher Wissen und Erfahrungen mit Diversität im Redaktionsalltag und in Betriebsstrukturen. Daraus ist die allgemein zugängliche Online-Ressource Mediendiversität gewachsen. Dass es Diversität auf dem Weg in die Unternehmensführung schwer hat, sieht Vassiliou-Enz als „Beleg dafür, dass sich in der Realität nicht nur die Besten der Branche durchsetzen, sondern die mit den besten Buddy-Netzwerken – und diese Buddys sind eben viel öfter männlich und weiß, und nicht homosexuell oder behindert.“

Häufig wird über Migrant:innen geschrieben, als gehörten sie nicht dazu, dabei sei die Lebensrealität vor allem junger Menschen eine andere als die, wie Medien sie zeichnen: „Bei den bis zu 18-Jährigen in Deutschland haben gut 40 Prozent Migrationshintergrund. Da muss man sich schon viel Mühe geben, um die permanent auszuschließen.“

Dabei bemühen sich die Medienhäuser längst aus eigenem Antrieb um Diversität, schreiben etwa Stellen für „m/w/d“ aus.  Um gesetzlich verankerte Quoten gehe es nicht, betont Vassiliou-Enz, die sich gleichwohl für Quoten als freiwillige Selbstverpflichtung ausspricht. Dabei gehe es darum, „eine Debatte in Gang zu bringen“. Redaktionen sollten sich öfter fragen: „Bilden wir wirklich Menschen in einer immer diverser zusammengesetzten Gesellschaft ab?“

Es reiche nicht, wenn eine Frau in einen Aufsichtsrat von zehn Männern rücke. Vielmehr brauche es eine „kritische Masse“ an Leuten, „die anders arbeiten, anders denken, andere Lebenserfahrungen haben, damit sich etwas verändert“. Kosten- und Effizienzdruck haben Redaktionen ausgedünnt, eine Repräsentation von jedweder Minderheit wäre kaum möglich. Doch Journalist:innen sind gefordert, sich kundig zu machen, bevor sie über die Probleme und Rechte etwa von trans Personen oder queeren Menschen schreiben. „Diskriminierungskritischen Journalismus zu machen, können alle lernen, aber das passiert viel zu selten.“ Selbst wenn es nicht immer möglich sei, dass Angehörige von Minderheiten deren Themen vermitteln, müssten Journalist:innen deren Perspektive kennen, sich Fachwissen aneignen, verlangt Vassiliou-Enz.

Debatten über kontroverse Themen hält sie für hilfreich – solange feststehe, ob es überhaupt ein Pro und Kontra zu einem Thema gebe: „Man kann vieles kontrovers diskutieren, aber manches auch nicht – ich brauche doch kein pro und kontra Antisemitismus oder pro und kontra Transfeindlichkeit.“ Eine Person, die die Meinung einer verschwindenden Minderheit von Wissenschaftlern wiedergibt, erzeuge eine falsche Balance. Problematisch sei es, wenn eine homogen zusammengesetzte Redaktion mit einem homogen zusammengesetzten Publikum kommuniziere – hieraus entstünden künstliche Debatten, die keiner realen, gesellschaftlichen Debatte entsprächen.