Dmitri Medwedew: Ist ihm der Mauszeiger ausgerutscht oder wurden seine Konten gehackt?

Dmitri Medwedew ist in den sozialen Medien hyperaktiv. Neulich erschien ein Post von ihm, in dem Medwedew Georgien die Existenz abspricht. War der Post echt?

Dmitri Medwedew
Dmitri MedwedewPool Sputnik Kremlin/AP/Alexei Nikolsky

Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine vergeht kaum eine Woche ohne vor Gossensprache nicht zurückschreckenden Drohgebärden und Schimpfkanonaden des ehemaligen Hoffnungsträgers der politischen Modernisierung Russlands – des stellvertretenden Vorsitzenden des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, ehemaligen Staatspräsidenten (2008–2012), langjährigen Regierungschefs und der vorzeigeliberalen Zukunftshoffnung Dmitri Medwedew.

So bezeichnete Medwedew beispielsweise am 25. Juni 2022 nach Erhalt des EU-Beitrittskandidatenstatus durch die Republik Moldawien in seinem Telegram-Kanal die Politik der moldawischen Regierung als russlandfeindlich und drohte Chisinau den Verlust der Eigenstaatlichkeit an.

Am 15. Juni 2022 kündigte Medwedew an, die Ukraine brauche die kürzlich abgeschlossenen LNG-Lieferverträge mit „ihren transatlantischen Herren“ nicht, da das Land womöglich in den kommenden zwei Jahren von der Weltkarte getilgt sein werde.

Am 29. Juni 2022 gab Medwedew ein langes, angriffslustiges Interview gegenüber der meistgelesenen russischen Wochenzeitung Argumenty i Fakty. Dabei kam eine Vielzahl an Themen zur Sprache, welche sich im Wesentlichen auf drei Bereiche zusammenfassen lassen: Ziele der sogenannten Spezialmilitäroperation Russlands gegen die Ukraine; internationale Sanktionen und ihre Folgen sowie Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens.

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Zum Autor
Dr. Alexander Dubowy ist Politik- und Risikoanalyst sowie Forscher zu internationalen Beziehungen und Sicherheitspolitik mit Schwerpunkt auf Osteuropa, Russland und GUS-Raum. Er ist Mitarbeiter der Berliner Zeitung am Wochenende.

Die angeblichen Kriegspläne Dmitri Medwedews

Kurz nach Mitternacht vom 1. auf den 2. August 2022 erschien auf dem in Russland populären sozialen Netzwerk Vkontakte.ru ein neues – selbst für Dmitri Medwedew sehr scharf formuliertes – Posting, in dem behauptet wurde, dass das gesamte Gebiet des historischen Russland wieder vereinigt werde, Georgien im 19. Jahrhundert nicht existierte, Kasachstan ein künstlicher Staat sei und der nächste Feldzug zur Wiederherstellung der russischen Grenzen nicht lange auf sich warten lassen werde.

Es sollten nur wenige Minuten vergehen, bevor das Posting wieder gelöscht wurde. TV-Moderatorin, politische Aktivistin, ehemaliges It-Girl Xenija Sobtschak veröffentlichte die Screenshots auf ihrem Telegram-Kanal unter Hinweis, dass es sich ihrer Ansicht nach um ein Fake-Posting handelt. Am 2. August sagte Oleg Osipow, ein Mitarbeiter Dmitri Medwedews gegenüber der russischen Nachrichtenagentur Ria Novosti, dass Medwedew Opfer eines Hackerangriffes wurde.

Posting im Wortlaut

Angesichts inhaltlicher Brisanz soll nachfolgend das gesamte – durch mich übersetzte – Posting dargelegt werden:

„Niemand sollte daran zweifeln, dass der verhängnisvolle Fehler der frühen 1990er-Jahre korrigiert werden wird, dass es nie wieder eine Parade der Souveränitäten geben wird und dass alle Völker, die die einst große und mächtige Sowjetunion bevölkerten, wieder in Freundschaft und gegenseitigem Verständnis zusammenleben werden. Wir werden keine Mühe und keine Kosten scheuen, um dies zu erreichen. Und wir haben bereits damit begonnen, diesen Weg zu beschreiten.

Nach der Befreiung Kiews und aller Gebiete Kleinrusslands von den Banden der Nationalisten, die den von ihnen frei erfundenen Ukrainismus predigen, wird Rus wieder geeint, mächtig und unbesiegbar sein, wie es vor tausend Jahren in den Tagen des altrussischen Staates der Fall war.

Danach werden wir unter der vereinten Führung Moskaus, an der Spitze des slawischen Volkes, den nächsten Feldzug zur Wiederherstellung der Grenzen unserer Heimat unternehmen, welche, wie allgemein bekannt, keine Grenzen hat. Alle Gebiete, die uns genommen wurden, wurden mit dem Blut unserer Vorfahren getränkt und im Laufe der Jahrhunderte in zahlreichen Schlachten erkämpft. Und wir werden diese niemandem überlassen.

Bevor Georgien mit Russland verbunden wurde, existierte es beispielsweise überhaupt nicht. Bis 1801 bestand das Gebiet des modernen Georgiens aus fünf souveränen politischen Einheiten: Kartli und Kachetien mit der Hauptstadt Tiflis, Imeretien mit der Hauptstadt Kutaisi, zwei Fürstentümer – Megrelia und Guria an der Schwarzmeerküste, das Fürstentum Swanetien in den Bergregionen. Mit anderen Worten: Georgien ist in seinen heutigen Grenzen erst innerhalb des Russischen Reiches entstanden. Georgien wandte sich Russland zu, weil es verstand, dass Russland sein einziger Verbündeter in einem recht feindseligen Umfeld muslimischer Staaten war. Und nun wiederholt sich die Geschichte. Nord- und Südossetien, Abchasien und das restliche Gebiet Georgiens können ausschließlich im Rahmen eines gemeinsamen Staates mit Russland wiedervereinigt werden.

Ein weiteres Beispiel aus der Geschichte: Im frühen 17. Jahrhundert gründeten Russen die ersten Siedlungen in den unwegsamen Gebieten im Norden Kasachstans. Drei Jahrhunderte lang setzte sich der Prozess der russischen Kolonisierung fort, der durch die Eröffnung der sibirischen Eisenbahn und Stolypins Agrarreform einen besonderen Auftrieb erhielt. Vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren 62,5 Prozent der Bevölkerung im Norden Kasachstans Slawen. Kasachstan ist ein künstlicher Staat, ein ehemaliges russisches Gebiet, so trugen beispielsweise die Städte Gur’jew, Semipalatinsk und sogar Alma-Ata bis 1924 den Namen Wernyj. In diesem Jahrhundert leiteten die kasachischen Behörden Initiativen zur Umsiedlung unterschiedlicher ethnischer Gruppen innerhalb der Republik ein. Diese Maßnahmen können als Genozid an Russen bezeichnet werden. Und wir haben keinesfalls die Absicht, die Augen davor zu verschließen. So lange die Russen nicht vor Ort sind, wird es keine Ordnung geben ...“

Mediale Hyperaktivität Medwedews

Ob dieses Posting tatsächlich von Dmitri Medwedew stammt, lässt sich freilich kaum überprüfen. Es gibt gute Argumente, welche dafür und welche dagegen sprechen. Dafür spricht die seit Invasionsbeginn anhaltende mediale Hyperaktivität Medwedews. Diese lässt sich zu einem gewissen Teil über den Abgrenzungswunsch Medwedews von seinen ehemaligen Weggefährten aus den Reihen russischer (wirtschafts-)liberaler Eliten erklären.

Russland ist mitten in einer gegen Kriegsgegner und „Nationalverräter“ gerichteten Säuberungswelle. Die sogenannten Systemliberalen in den russischen Eliten haben ihre einst überaus gewichtige politische Rolle eingebüßt und befinden sich seit einigen Jahren im Rückzug. Die Gruppe der wirtschaftsliberalen und – naheliegenderweise nur sehr bedingt – prowestlichen Kriegsgegner innerhalb der Regierung scheint seit Beginn des Angriffskrieges jedwede Einflussmöglichkeiten auf die Entscheidungen der Staatsführung verloren zu haben und ist endgültig zu technokratischen, um Schadensbegrenzung bemühten Verwaltern degradiert worden.

Auch dürfte der langjährige enge Wegbegleiter Wladimir Putins nach wie vor Machtambitionen hegen. Durch die aggressive Rhetorik jenseits des guten diplomatischen Tons sorgt Medwedew für anhaltendes Interesse der Medien und bleibt auf diese Weise im Bewusstsein der Eliten – vor allem der wichtigen Gruppe der Silowiki – und der Bevölkerung präsent. Auffallend ist ferner die direkte Berufung auf Wladimir Putin sowie die unübersehbare Übernahme nicht nur der Inhalte, sondern auch der rhetorischen Stilmittel Wladimir Putins.

Hackerangriff deutet innerelitäre Machtkämpfe an

Gerade das Letztere unterstützt aber die offizielle Version eines Hackerangriffes. Ein Beitrag mit direkten Drohungen gegenüber einem wichtigen Verbündeten Russlands – Kasachstan – aus der Feder eines hochrangigen russischen Politikers würde den Druck auf Wladimir Putin massiv erhöhen und für Medwedew die endgültige politische Demontage nach sich ziehen.

Angesichts des hervorragend ausgeprägten politischen Gespürs des ehemaligen russischen Präsidenten erscheint ein derartiges – potenziell folgenreiches – Posting zumindest als unbedacht. Interessanterweise wurde vor wenigen Wochen Sergej Kirijenko, der erste stellvertretende Vorsitzende der mächtigen Präsidialverwaltung – eine die zentrale Amtsausübung des Präsidenten der Russischen Föderation koordinierende Behörde, nach Ansicht der Experten eine Art Schattenkabinett des Präsidenten und das eigentliche Hauptquartier des Machtsystems – Opfer einer ähnlichen Hackerattacke.

Offenbar handelt es sich beim mutmaßlichen Posting Dmitri Medwedews um die jüngste Episode der grotesk-amüsanten innerelitären Machtspiele, die Winston Churchill einst mit Blick auf den undurchsichtigen machtpolitischen Reigen in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion mit einem „Kampf der Bulldoggen unter dem Teppich“ verglich.

Von einer Destabilisierung des Machtsystems oder gar einer Palastrevolte kann freilich nicht die Rede sein. In der Ära Putin sind die „klassischen“, Einfluss auf die Politik ausübenden Oligarchen – in Übereinstimmung mit eigenen Interessen und auch gegen die Kremlinteressen – entmachtet und durch kremlzentrierte Staatsoligarchie aus den Reihen Putin’scher Vertrauter ersetzt worden.

Die Entscheidung Putins, eine Großinvasion gegen die Ukraine zu beginnen, wurde mit Sicherheit nicht von allen Angehörigen der Eliten unterstützt; viele dürften davon sogar überrascht worden sein und sind mit dieser Entscheidung nicht glücklich. Nachdem die Staatsoligarchen und Angehörigen der Eliten ihren Wohlstand sowie letztlich ihre Sicherheit allein Putin zu verdanken haben und in ihm den einzigen Garanten für ihr Leben und Wohlergehen erblicken, untereinander oftmals verfeindet sind und keine unmittelbare Alternative sehen, bleibt ihr Einfluss auf die Entscheidungen Putins begrenzt und die Wahrscheinlichkeit eines koordinierten Widerstandes gegen Putin im Sinne einer Palastrevolte nur wenig wahrscheinlich.

Interessengeleiteter Pragmatismus statt selbstgerechter Scheinfriedenspolitik

Für den Westen ist es letztlich aber völlig unerheblich, ob das aktuelle Dmitri Medwedew zugeschriebene Skandalposting auch tatsächlich aus der Tastatur Dmitri Medwedews stammt. Die zahllosen vor Aggressivität triefenden Beiträge Medwedews auf unterschiedlichen Sozialmedienkanälen, Interviews hochrangiger russischer Politiker und kremlnaher Intellektueller sowie die überdeutlichen Worte Wladimir Putins seit dem Beginn der vollumfänglichen russischen Invasion in der Ukraine legen ein eindrucksvolles Zeugnis davon ab, dass die russische Führung in einer selbstgerechten Filterblase eigener abstruser Weltanschauung gefangen bleibt.

Der Westen wäre gut damit beraten, die politischen Entscheidungen auf der festen Grundlage tatsächlicher Handlungen und Äußerungen russischer Führung zu treffen und nicht auf dem sprichwörtlichen Sand selbstgerechter Scheinfriedenspolitik zu bauen. Es ist Zeit für einen faktenbasierten, interessengeleiteten, wohlverstandenen Pragmatismus. Es ist Zeit, mitten im sechsten Monat des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, der russischen Führungsriege zuzuhören.

Es ist Zeit zu begreifen, dass Wladimir Putin seit dem 24. Februar im Wesentlichen stets das Gleiche sagt: Russlands Ziele in der Ukraine bleiben unverändert. Auch hat der russische Außenminister Sergej Lawrow im Rahmen der gemeinsamen Pressekonferenz mit den ständigen Vertretern bei der Arabischen Liga in Kairo erstmals öffentlich zugegeben, dass der Kreml die aktuelle politische Führung in Kiew stürzen und gegen ein prorussisches Marionettenregime austauschen möchte. Von welcher Dialogbereitschaft Moskaus kann und soll da die Rede sein?

Warten auf Godot

Doch selbst am 161. Tag des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, den menschenverachtenden Kriegsverbrechen durch die russischen Streitkräfte und absolut klaren Positionierungen russischer Führungszirkel versuchen nicht wenige deutsche Politiker und Intellektuelle verzweifelt an den verbliebenen Überresten der antiquierten Friedenspolitik festzuhalten.

Um nur ein aktuelles Beispiel zu bemühen: Die prominente Bundestagsabgeordnete von Die Linke Sahra Wagenknecht scheint nach wie vor fest davon überzeugt zu sein, dass ein „wahnsinniger Krieg gegen Russland“ geführt werde, der „Konflikt“ durch Waffenlieferungen und Wirtschaftskriege nicht gelöst werden könne und Diplomatie sowie Verhandlungen die „einzig vernünftige Konfliktlösung“ seien. Möglicherweise hat Frau Wagenknecht (wie so viele andere) übersehen, dass die Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland seit dem 28. Februar 2022 ergebnislos verlaufen.

Der absolut überwiegende Teil der russischen Eliten ist von der feindlichen Gesinnung des Westens überzeugt, sieht sich im Zugzwang und glaubt durch eine konstruktive, auf eine ernst zu nehmende diplomatische Lösung abzielende Haltung im Krieg gegen die Ukraine nichts zu gewinnen, aber nur noch mehr zu verlieren.

Eine auch nur schrittweise Aufhebung der Sanktionen könne nach – wohl zutreffender – Meinung Moskaus ausschließlich durch eine aktive Mitwirkung Kiews erfolgen. Diese Mitwirkung und im Idealfall auch eine de facto bedingungslose Kapitulation der Ukraine wird Russland um beinahe jeden Preis und möglichst schnell zu erzwingen suchen. Ob dieses Unterfangen auch tatsächlich gelingt, hängt von der – zunehmend schwächelnden und in den Bereich der reinen Symbolpolitik abdriftenden – westlichen Unterstützungsbereitschaft für die ukrainische Führung ab.

Frieden ist niemals alternativlos

Es ist schon lange an der Zeit, sich endgültig vom naiven Glauben zu verabschieden, wonach der Frieden in Europa alternativlos sei und alle Akteure zwingend eine diplomatische Lösung zu erreichen hoffen. Frieden, den man in letzter Konsequenz nicht mit Waffengewalt zu verteidigen bereit ist, kann naheliegenderweise nicht von Dauer sein. Keine faktenwidrigen und selbstgerechten Waffenstillstandsaufrufe und Appelle deutscher Politiker oder Intellektueller werden an dieser einfachen Wahrheit etwas ausrichten können.

Die eigentliche Gretchenfrage, die sich insbesondere Deutschland in all ihrer erschreckend banalen Deutlichkeit in den kommenden Wochen und Monaten stellen wird, lautet: Nun sag’, wie hast Du’s mit der Souveränität der Ukraine sowie letztlich mit der Einheit des gesamten Westens? Eine ehrliche Antwort weiter Teile deutscher politischer und intellektueller Eliten auf diese Frage dürfte absolut erschreckend sein.

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